KR-2 DE 39

39. Den Willen Gottes erkennen

Nach der gängigen Lehre Pater Kentenichs enthält die schönstättische Spiritualität eine dreifache Botschaft: die vom Liebesbündnis, vom Vorsehungsglauben und vom Sendungsglauben. Dieser dreifachen Botschaft entspricht ein dreifacher Weg: Bündnisfrömmigkeit, Werktagsheiligkeit und Werkzeugsfrömmigkeit.

Schon ein erster Blick auf diese Grundkategorien unserer Spiritualität deutet an, dass neben dem Liebesbündnis der Glaube an die göttliche Vorsehung eine zentrale Stellung einnimmt. Bei näherem Hinschauen zeigt sich dann schnell, wie sehr in dieser Botschaft des Vorsehungsglaubens auch eine besondere Originalität und Sendung Pater Kentenichs und seiner Spiritualität enthalten ist. Diese Originalität öffnet sich, wenn man sich die Frage stellt: Wie ist denn nun der Wille Gottes innerhalb seiner Vorsehung erkennbar? Gängige Theologie und Spiritualität würde in diesem Zusammenhang schnell auf die Offenbarung in Jesus Christus, in Schrift, Tradition und kirchlicher Lehre vorweisen.

Pater Kentenich wählt einen umgreifenderen Ansatz. Ihm geht es darum, Hilfsmittel für die Entscheidungen des täglichen Lebens – Werktagsheiligkeit! – zur Verfügung zu stellen, die über den in Offenbarung und kirchlicher Lehre geoffenbarten Willen Gottes hinausgehen. Was will Gott von uns in jenem Entscheidungsraum, der sich innerhalb der zehn Gebote, der Moral und der dogmatischen Wahrheiten befindet? Welchen Lebensstand oder Beruf soll ich wählen? Wie einen Schicksalsschlag oder ein besonderes Angebot interpretieren? Wie mich entscheiden in einer Pflichtenkollision oder einer offenen Wahl, zwischen Beten oder Helfen zum Beispiel?

In diesem Entscheidungsraum eröffnen sich Kriterien, die mehr von der „Schöpfungsordnung“, den Seinsgesetzen, in denen Gott die Welt erschaffen hat, abzuleiten sind. Und dies in keiner Weise im Gegensatz zu Offenbarung oder Gnade, sondern vielmehr in dem dauerndem Ringen um die Harmonie zwischen diesen beiden Wirklichkeiten, die nach dem Sündenfall sich nicht immer selbstverständlich und spontan aufeinander beziehen, sondern immer wieder neu in Einklang zu bringen sind.

Der hier angeführte Text legt die von Pater Kentenich erarbeiteten Kriterien für das Erkennen des Willens Gottes dar. Nicht von ungefähr findet sich diese Darlegung in der Studie über die „Werkzeugsfrömmigkeit“ (Schönstatt-Verlag 1974, Seite 39-45). Denn, wenn der Mensch sich als Werkzeug in der Hand Gottes versteht, befindet er sich in der besten Grundhaltung und Disposition, den Willen Gottes zu erkennen.


Weil die Werkzeugfrömmigkeit in allem angewiesen ist auf Gottes Wunsch und Willen, muss sie viel Gewicht legen auf deren Erkenntnis. Es liegt ihr im Blute, als Quelle zu diesem Zweck ständig den Werkzeugscharakter der geschaffenen Dinge zu benutzen, mag es sich dabei handeln um das gesprochene Wort, um freiwirkende Zweitursachen, um die Seinsstruktur der Dinge, um Zeitenströmungen und Weltgeschehen oder um Fügungen und Zulassungen im persönlichen Leben.

Gottes Wort

1. Gott spricht zu uns durch die Heilige Schrift und durch innere Anregungen und Erleuchtungen.
Werkzeugsfrömmigkeit stellt sich deswegen gerne unter den Einfluss des inspirierten Gotteswortes, d.h. sie liest gerne, häufig und fruchtbringend die Heilige Schrift und achtet gewissenhaft auf die inneren Einsprechungen der Gnade. Um nicht fehlzugehen, hält sie sich im ersten Falle an die Auslegung der Kirche und bemüht sich im zweiten Falle um schlichte Offenheit dem Beichtvater und Seelenführer (158) gegenüber.

Die freiwirkenden Zweitursachen

2. Gott hat den Menschen frei geschaffen und benutzt ihn aus Ehrfurcht vor dieser Freiheit gerne als Mitregenten bei der Weltregierung. So will das Wort verstanden werden: „Deus operatur per causas secundas liberas.“ (159) So darf auch das Gesetz der organischen Übertragung auf Gott und seine Praxis sinngemäß angewandt werden, d.h.: Die ewige Weisheit überträgt auf Menschen einen Teil ihrer Eigenschaften, etwa ein Stück ihrer Weisheit, Macht, Güte und Treue, um dadurch andere Menschen zu führen, zu gewinnen, an sich zu binden. Durch sie teilt Gott gemeiniglich andern seine Wünsche, seine Absichten mit. So hat er seinerzeit Paulus nach der Bekehrung behandelt. Anstatt ihm selber im einzelnen Weisungen zu geben, verwies er ihn an einen Jünger, Ananias, der sagen sollte, was nun zu tun sei.

Werkzeugsfrömmigkeit, die ein geschultes Organ mitbringt für alle werkzeuglichen Erkenntnisquellen des göttlichen Willens, wartet nicht starrköpfig auf unmittelbare göttliche Willensäußerungen; sie ist und bleibt überaus hellhörig für alles, was Gott ihr durch seine Werkzeuge, durch freie Zweitursachen mitteilt. Darum orientiert sie sich gerne an Wunsch und Willen der Kirche und der Vorgesetzten, an Satzungen und Brauch. Gott ist es ja, der durch diese Organe deutlich und unmissverständlich spricht. Solange sie darauf hört und ihnen willig folgt, entgeht sie der Gefahr des Selbstbetruges und der teuflischen Einflüsterungen.

Wie stark diese Erkenntnisquelle von Anfang an bei uns fließt und benutzt wird, ergibt sich aus den bei uns geläufigen Gesetzen des Bindungsorganismus mit seinen Teilgliedern, die uns bekannt sind als Gesetz der organischen Übertragung, der organischen Weiter- und Tieferleitung und der organischen Überleitung.
(….)

Die Seinsstruktur der Dinge

3. Von jeher spielte die Seinsstruktur der Dinge eine besondere Rolle bei uns, die wir dauernd über Gottes Wunsch und Willen zu befragen bemüht waren und auch heute noch sind. Auf diese Erkenntnisquelle weist das große Gesetz hin, das unsere „Werktagsheiligkeit“, unsere Gebräuche, unsere Pädagogik wie ein leicht erkennbarer roter Faden durchzieht: Ordo essendi est ordo agendi: die objektive Seinsordnung ist bis in alle Einzelheiten hinein Norm für unsere gesamte Lebensordnung. Dabei gehen wir von dem Gedanken aus, dass die geschaffenen Dinge nicht nur inkarnierte Gottesgedanken, sondern auch Gottes Wünsche sind. Fassen wir jedes geschaffene Ding auf als ein Wort von und über Gott, so dürfen alle geschaffenen Dinge, sowohl die natürlichen wie die übernatürlichen, als ein großes Bilderbuch Gottes, als ein Lesebuch über ihn, als eine lebendige Gotteslehre angesprochen werden, die uns bei der Ermittlung der göttlichen Wünsche selten im Stiche lässt.

Dieser Gedanke war Sankt Paulus überaus vertraut. Deshalb klagt er die Heiden, die sich falsche Götzen gezimmert hatten und ein sittenloses Leben führten, ernst und bitter an. Er erklärt ihr Handeln und Tun als schuldbar, weil sie aus der sichtbaren Schöpfung Gott, seine Gebote und Wünsche hätten erkennen müssen. (160)

Es ist nicht zu verwundern, dass in der heutigen Zeit diese Erkenntnisquelle für weiteste Kreise verstopft ist. Dort, wo alles eingestellt ist auf Bewegung, auf Dynamik, auf Leben, hat man keinen Sinn mehr für Sein und Seinsstruktur der Dinge. So mag es kommen, dass man auch in katholischen Kreisen bei der großen Verwirrung der Begriffe und der vielgestaltigen Unsicherheit des Lebens und der Lebensformen verlernt hat, an dieser Seinsstruktur sich unentwegt zu orientieren.

Wir sind nie müde geworden, sie zu befragen. Wir mussten das u.a. auch deswegen tun, weil wir als Familie ja nur so viele Bindungen nach unten suchten, als wirklich notwendig sind. Darum waren wir vorzüglich darauf angewiesen, in unserem Handeln, in Satzungen und Gebräuchen uns an diese Seinsstruktur bis in feine und feinste Verästelungen anzupassen. Dazu kommt unsere Grundeinstellung der Hochherzigkeit, die überall auf die leisesten Gotteswünsche, nicht nur auf seine Gebote reagieren möchte. Bei ihren Entdeckungsfahrten und Eroberungszügen erhält sie in den meisten Fragen durch die Struktur der Dinge eine klare und bestimmte Antwort, nicht selten auch da, wo andere Erkenntnisquellen versagen.

Für ein umfassendes Ermittlungsverfahren kann man unterscheiden eine natürliche und eine übernatürliche Seinsordnung – sowohl als große Gesamtlinie in sich als auch in ihrer konkreten Darstellung in einzelnen Dingen und Individuen – und endlich die Verbindung von beiden Ordnungen.

Werkzeugsfrömmigkeit behält alle drei Formen vor Augen, befragt sie in Zweifelsfällen und hält unentwegt an der klar erhaltenen Antwort fest, auch wenn Nihilismus und Kulturbolschewismus ganz andere Wege gehen.

Das alles klingt sehr theoretisch und abstrakt, wird uns aber verständlich, wenn wir in die Entwicklungsgeschichte unserer Familie hineinschauen und ihre Theorie und Praxis uns in einigen Strichen zum Bewusstsein bringen. Prüfen Sie zu diesem Zweck beispielsweise einmal nach, auf welcher Grundlage unsere Mädchenerziehung und unsere Sexualpädagogik ruht, ob es sich dabei um Selbst- oder Fremderziehung handelt. Erinnern Sie sich daran, wie wir im ersten Falle bei unseren Forderungen uns immer berufen haben auf die Wesensart der Frau. Wie oft hieß es: Weil die Frauenart von Natur aus eingestellt ist auf das „Ganz-Seele-, Ganz-Reinheit-, Ganz-Hingabe-Sein“, deshalb z. B. die Forderung einer umfassenden Gemütspflege…, deshalb die Sorge für die Unberührtheit unseres ganzen Wesens …; deshalb die Entscheidung für die Form und Länge unseres Kleides als Ausdruck unserer Wesensart trotz der total anders gearteten Mode…; deshalb unsere ausgesprochene Liebeserziehung usw. ….

Der naturgesetzliche Sinn und Zweck des Geschlechtstriebes macht darauf aufmerksam, dass widernatürlicher Gebrauch oder widernatürliche Verschleuderung der Geschlechtskraft vollendete Umkehr des Naturgesetzes und damit gegen den Willen unseres Schöpfers, folglich schwere Sünde ist (161), dass der organische Einbau des Geschlechtstriebes in die Gesamtstruktur der Natur bis in feine und feinste Verästelungen uns Gottes Wunsch dokumentiert und einen ständigen Appell darstellt an sorgfältige Pflege des Schamgefühls und der Schamhaftigkeit, der Bescheidenheit und des Schicklichkeitsempfindens. Nur wer hinter diesen naturgesetzlichen Erkenntnissen und Regungen Gott selber sieht, erhält die Kraft, sie als Norm für seine gesamte Erziehung nicht nur aufzufassen, sondern auch zielstrebig durchzuführen. Sie werden ihm mit der Zeit zur zweiten Natur, formen und gestalten tiefgreifend sein Lebensgefühl und seinen Lebensstil auch dann, wenn Kleid und äußere Verhältnisse ihn nicht mehr tragen, wenn sogar im Gegenteil beide eine vollkommen entgegengesetzte Sprache reden, denn es gilt: Ordo essendi est ordo agendi.

Die heutige Zeit, die Menschen durcheinanderwirbelt, übliche Lebensformen zerschlägt und schreiende Gegensätze aufeinanderprallen lässt, um sie auf ihren wahren Wert, auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen, ist so recht geeignet zu zeigen, was die Menschen sich als bleibendes Lebensgut angeeignet haben und was nur Firnis, Schein und Maske gewesen ist, was sie bis in die letzte Wurzel formend durchdrungen hat und was nur an der Oberfläche geblieben ist. Der stille Beobachter mag häufig enttäuscht den Kopf schütteln und sich ernstlich fragen: Wie kommt es, dass langjährige Erziehung auch bei Elitemenschen „die Bestie“ so wenig gezähmt hat und den Edelmenschen bis ins Innerste hinein so wenig umzuformen imstande war? Wo man sich jahrelang gleichsam nackt gegenübersteht und sich in den intimsten Lebensverhältnissen sehen kann, brechen alle Täuschungs- und Selbsttäuschungsmanöver zusammen.

Und unwillkürlich steht die gewichtige Frage auf: Wie können wir hier Reform schaffen? Eine Antwort gibt uns die Werkzeugsfrömmigkeit, die ihre Forderungen und Übungen so gern auf die Seinsstruktur der Dinge und damit auf letzte Prinzipien zurückführt, die sich zunächst um entsprechende seelische Grundhaltungen und sodann um tiefbeseelte Handlungen und Gebräuche bemüht, so wie es von jeher unser Ideal gewesen ist
[…]

Die Naturordnung im Menschen entschleiert zwei Seinsschichten: eine höhere und eine niedere; volkstümlich ausgedrückt: das „Tier“ und den „Engel“. Die höhere Schicht soll über die niedere herrschen. Das liegt im Wesen beider begründet und findet seine Bestätigung in der Lebensbeobachtung. Im Tier opfert sich die vegetative Seinsschicht der höheren sensitiven und nimmt dadurch teil an deren Vollkommenheit. Ähnlich ist es und muss es auch im Menschen sein: Das „Tier“ als die niedere Seinsschicht in ihm beugt sich dem „Engel“ und nimmt dadurch teil an dessen Vollkommenheit. Das „Tier“ ist etwas, was überwunden werden muss. Herrschaft des „Engels“, des Geistes über das „Tier“ kostet ständige Selbstüberwindung
[…]

Der Mensch – schon als Naturwesen, abgesehen von der Gnade – ist das größte Wagnis des Schöpfers. Die entgegengesetztesten Elemente: „Stoff“ und „Geist“, „Tier“ und „Engel“, hat er zu einer Ganzheit zusammengefügt, zu einer Ganzheit, die ständig bedroht ist durch das Ringen des „Tieres“ um die Oberherrschaft und durch die Bedrohung von Seiten des „Engels“, der entweder der Gefahr erliegt, dem „Tiere“ untertan zu werden oder sich als reiner Geist zu gebärden. Die gottgewollte Ordnung kann nicht durch Ausrottung und Vernichtung, sondern nur durch Veredlung, Verklärung und Emporbildung der Neigungen, Leidenschaften und Triebe hergestellt, erhalten und gesichert werden: Ordo essendi est ordo agendi.

Gott hat den Willen des Menschen mit einer beschränkten Freiheit ausgestattet, die zwei Dimensionen kennt: Entscheidungs- und Durchsetzungsfähigkeit. Das Primäre dabei ist, wie der Vergleich mit dem Tiere zeigt, die Entscheidungsfähigkeit. Deshalb muss nach Wunsch und Willen des Schöpfers die Erziehung des Menschen zu freier Entscheidung für Gott und Göttliches immer an erster Stelle stehen: Ordo essendi est ordo agendi. Wer dem Zögling innere Entscheidungen erspart, handelt gegen den primären Sinn der Willensfreiheit, und je nachdem sündigt er oder begeht er eine Unvollkommenheit. Dasselbe gilt, wo man mit ungerechten Mitteln die freie Entscheidung unmöglich macht oder erschwert.

Die Grundtendenz der Natur entschleiert sich und wird wirksam in der Hauptleidenschaft. Wer die Hauptleidenschaft an ein sittlich hochwertiges Ziel gebunden hat, hat den ganzen Menschen dafür gewonnen. Das ist für uns der Sinn des Partikularexamens: Veredlung der Hauptleidenschaft in der Richtung des Persönlichen Ideals; denn wiederum gilt: Ordo essendi est ordo agendi. So könnte ich fortfahren und eine ganze Menge unserer Gepflogenheiten, Gebräuche und Einrichtungen zurückführen auf die natürliche Seinsstruktur als Ausdruck des göttlichen Wollens und Wünschens.

[Die übernatürliche Seinsordnung als Erkenntnisquelle]

Ein Gleiches lässt sich sagen von der übernatürlichen Seinsordnung. Man erinnere sich daran, wie ernst wir uns immer bemüht haben, unsere religiösen Forderungen auf streng dogmatischen Unterlagen aufzubauen. Das Studium und die Berücksichtigung der Naturordnung rechtfertigt den Satz: Unsere Frömmigkeit und Aszese ist angewandte Philosophie; das Ringen um theologische Fundamentierung lässt diese Frömmigkeit als angewandte Theologie erscheinen. Wie lange haben wir uns bemüht, die Existenz der Gnadenordnung und die damit gegebene Originalität der Christusgliedschaft, Gotteskindschaft und Geist- oder Dreifaltigkeitserfülltheit nachzuweisen! So schickt es sich für eine Aszese, die aufgebaut ist auf dem Gesetz: Ordo essendi est ordo agendi.

Welche Sorgfalt haben wir verwandt, um die objektive Stellung der Gottesmutter im Heilsplane nach allen Richtungen hin zu klären! So muss es auch immer bleiben, solange das Gesetz bei uns Gültigkeit hat: Ordo essendi est ordo agendi.

Dasselbe gilt vom Heiland, vom Himmelsvater, vom Heiligen Geiste, von den Engeln, den Heiligen, der Liturgie, den armen Seelen. Überall heißt es, erst die Stellung in der übernatürlichen Seinsordnung möglichst klar herauszuheben und dann das praktische Leben danach einzurichten.
[…]

Die Gnade, die wir in der gegenwärtigen Heilsordnung erhalten, ist anzusprechen als gratia Christi, füglich als gratia crucis (162). Also muss auch die Natur, die die Gnade empfangen will, als natura cruce signata (163) aufgefasst und mit Liebe zur Abtötung erfüllt werden. Es gibt keine Naturvollendung ohne Naturopferung. – In dieser Weise will das Gesetz: Ordo essendi est ordo agendi überall aufgefasst und angewandt werden.

Wie dieses Gesetz für die Natur- und Gnadenordnung – gesondert gesehen – gilt, so will es auch richtunggebend sein für die Verbindung von beiden. Hier nimmt es die konkrete Form an: Gratia non destruit, sed perficit et elevat naturam (164). Darin hat unsere „Werktagsheiligkeit“ ihre letzte Begründung und Sicherung, die Bevorzugung der organischen Abtötung gegenüber der mechanischen, der Überstrahlungs- gegenüber der Umnebelungsmethode. Hier wurzelt auch unsere Lehre von der Verbindung zwischen den jeweiligen eigengesetzlichen ethischen Motiven und dem endgesetzlichen Motiv der Liebe. Gott, der Schöpfer der Natur- und der Gnadenordnung, spricht durch beide zu uns und verlangt und wünscht jeweils eine entsprechende Antwort. Hier liegt das Fundament für unsere ganze Lehre vom Persönlichen Ideal, sowohl von seinen Erkenntnisquellen (gottgewollte Lieblingsneigung, Lieblingsandacht, Lieblingsgebet, Lieblingsbeschäftigung, Lieblingsmotto) als auch von seinen konstitutiven Teilen, sowohl von seinen Entwicklungs- als auch von seinen Formgesetzen, mag es sich dabei um die Material- und Formalstufen der Caritas oder der Passio handeln.

Zeitströmungen und Weltgeschehen

4. Noch stärker als die Seinsstruktur der Dinge lebt im öffentlichen Bewusstsein der Familie die vierte werkzeugliche Erkenntnisquelle, aus der sich Gottes Wunsch und Wille ermitteln lässt: Zeitströmungen und Weltgeschehen, Führungen und Fügungen im eigenen Leben und im Familienleben. Es ist nicht schwer nachzuweisen, wie die Familie in ihrem Werden und Wachsen bis heute in hervorragender Weise aus dieser Quelle gespeist wird.

Wie häufig durften wir hören und bekennen, dass weder Vision noch visionärer Traum, sondern lediglich der einfache, praktische Vorsehungsglaube bei ihrer Gründung und ihrem Ausbau Pate gestanden hat, ein Vorsehungsglaube, der hinter Zeitnöten und Zeitbedürfnissen, hinter dem großen Weltgeschehen und den Führungen und Fügungen im kleinen Kreis immer klar und deutlich die knüpfende und verknüpfende, die gütige und mächtige Vaterhand und den bittenden Vaterwunsch zu sehen, zu erkennen und zu beantworten verstand. So trifft uns nicht der Vorwurf des Heilandes: „Die Zeichen am Himmel und in der Natur versteht ihr zu deuten, aber nicht die Zeichen der Zeit.“

Die Grundlage des Gründungskontraktes und der Gründungsurkunde ist Wunsch und Wille Gottes, wie wir ihn vorsehungsgläubig aus der werkzeuglichen Geschichte der Kongregation uns sagen ließen. Man beachte die Stelle: „Wie oft war in der Weltgeschichte des Kleine und Unansehnliche die Quelle des Großen und Größten! Warum sollte das bei uns nicht auch der Fall sein können? Wer die Vergangenheit unserer Kongregation kennt, dem wird es nicht schwer zu glauben, dass die göttliche Vorsehung mit ihr noch etwas Besonderes vorhat.“ Am Anfange unserer Familiengeschichte steht also nicht der Mensch, sondern Gott, nicht Menschenwollen, sondern Gottes Plan und Wunsch. Der kleine Mensch sucht und suchte nur ehrfürchtig des großen, gütigen Gottes Pläne zu ermitteln und sich ihnen gleichzuschalten.

Seither ist es immer unsere Sitte gewesen, die sich fortschreitend vertieft und ausgeweitet hat, bei allen Gelegenheiten und Ereignissen zu fragen: Was will der liebe Gott damit? Was liegt im Plane der göttlichen Vorsehung? Und weil wir als „Kriegskind“ von den verschiedensten Seiten tüchtig gerüttelt und geschüttelt wurden, ist uns diese Methode so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie uns fast zur zweiten Natur geworden ist. Zur Vertiefung des Gesagten lese man nach, was in „Unter dem Schutze Mariens“, Seite 299-305, steht und beachte besonders die zusammengestellten Kernsätze über den Vorsehungsglauben aus der Gründungsurkunde auf Seite 301.

Wer Geschichte und Seele unserer Familie kennt, der weiß, dass auch unser sieghafter Sendungsglaube in diesem Vorsehungsglauben wurzelt. Sendungsglaube in allen Graden bis zur Sendungsergriffenheit gehört zum Wesen des Christentums, doppelt und dreifach zum Wesen des Priestertums. Durch Taufe und Priesterweihe sowie durch die Firmung wird uns ja ein character indelebilis (165) eingeprägt, der uns in geheimnisvoller, tiefer Weise in den Sendungsstrom des Gottmenschen hineinzieht. Wie dieser, so müssten darum auch wir von dieser Sendung und ihrer Sieghaftigkeit ergriffen sein.

Vorbildlich mag für uns Paulus sein. Was er von seiner Apostelsendung sagt, das sollten auch wir für unsere Christen- und Priestersendung in Anspruch nehmen: das Leben und Wirken aus dem „missus sum“ (166). Die ersten Christen waren von ihrer Sendung so tief erfasst und überzeugt, dass sie trotz ihrer geringen Anzahl mutig zu sagen wagten: „Wir sind die Seele der Welt (167).“ Leider ist der heutigen Christenheit dieser sieghafte Sendungsglaube in weitem Ausmaße abhanden gekommen. Darum gibt es auch so viel Müdigkeit, Traurigkeit und Gelähmtheit.

Wenn wir als Familie von Sendung sprechen, so meinen wir damit die Sendung, die Aufgabe, die wir uns nicht selber gesucht haben, sondern die Gott uns gegeben hat. Dass Gott dahinter steht und nicht menschlicher Unverstand, Einbildung und Anmaßung, erkennen wir wieder vorsehungsgläubig aus der Geschichte und den Schicksalen der Familie. Genauer gesagt: aus der Geringfügigkeit der Werkzeuge, aus der Größe der entgegenstehenden Schwierigkeiten und den erzielten Erfolgen.

Muss nicht jede religiöse Gemeinschaft in ihrer Art einen ausgesprochenen Sendungsglauben ihr eigen nennen, so verschieden die Gründe auch sein mögen, auf denen er basiert? Hier mag es die Heiligkeit des Stifters, dort eine Vision oder ein visionärer Traum sein, auf den sich der Sendungsglaube gründet; – wir haben uns immer nur berufen auf den schlichten, einfachen, konkreten, hausbackenen Vorsehungsglauben, so wie er das Kernstück in jeder gesunden, urwüchsigen Volksfrömmigkeit ist und wie er in den größten Heiligen seine ständigen Triumphe feiert. Andere Gemeinschaften mögen aus irgendwelchen Gründen ihren Sendungsglauben verloren haben oder nicht mehr bewusst daraus leben und vorwärtsstreben. Das darf uns aber nicht hindern, unseren Weg wie bisher weiterzuschreiten. Ja, es sollte uns anregen, um so bewusster den Glauben an unsere Sendung zu vertiefen und im praktischen Leben wirksam werden zu lassen.

Gott scheint uns dazu berufen zu haben, die elementaren, allgemeinen Grundkräfte des Christentums in vorbildlicher Weise zu bejahen und zur Grundlage unseres gesamten Lebens und Strebens zu machen, damit sie wiederum mehr und mehr Gemeingut der gesamten Christenheit werden. Und zu diesen Grundkräften gehört mit an erster Stelle ein Welt und Leben überwindender Vorsehungs- und Sendungsglaube. Beide erhalten heute tagtäglich neue Nahrung, und wir freuen uns von Herzen über all die Bestätigungen, die Gott uns durch die schicksalsschwere Geschichte unserer Familie in den letzten Jahren gegeben hat. Er ist es, der alle unsere Feinde benutzt, um unserer Familie zu einem weithin sichtbaren Sieg zu verhelfen. Unser gläubiger Sinn wird darum auch niemals müde, alle kleinen und großen Erweise der göttlichen Führung und Fügung sorgfältigst aufzunehmen, festzuhalten und zu verkosten. Gott ist ein Gott der Treue, und das Liebesbündnis, das er mit uns vor 30 Jahren geschlossen hat, bricht er nicht. Wir müssen unsererseits uns nur immer wieder neu bemühen, ihm gläubig und willig die gleiche Treue zu wahren. Dann wird unsere Geschichte mehr noch, als sie es bisher gewesen ist, ein einziger, großer Siegeszug der göttlichen Macht, Güte und Treue
[…]

Wer solche und ähnliche Erwägungen anstellt, steht bewundernd vor dem reichen Inhalt des Werkzeugsgedankens. Werkzeuglichkeit schließt wahrhaftig nicht nur eine umfassende Lebensform in der Gestalt der Werkzeugsfrömmigkeit in sich; sie ist auch eine ständig sprudelnde Erkenntnisquelle, aus der die Werkzeugsfrömmigkeit wirksam genährt wird. So war es bisher bei uns, möge es auch immer so bleiben: Omne regnum iisdem continetur mediis, quibus conditum est (168).


Schönstatt-Lexikon Online: Erkenntnisquellen, Praktischer Vorsehungsglaube

(158) Heute meist „Geistlicher Begleiter“ genannt
(159) Gott wirkt durch frei (mitwirkende) Zweitursachen
(160) Röm. 1, 19f.
(161) Man halte vor Augen, dass in diesem Zusammenhang die moralische Beurteilung sexuellen Verhaltens nur vom Gesichtspunkt der Seinsordnung betrachtet wird. Die oft zwingende Kraft des Geschlechtstriebes sowie der Einfluss der Umwelt, die beide oft die persönliche Freiheit der Person einschränken und die deshalb zur Bewertung des konkreten Falles mit zu berücksichtigen sind, sind hier nicht in Betracht gezogen.
(162) Gnade Christi – Gnade des Kreuzes
(163) als vom Kreuze gezeichnete Natur
(164) Die Gnade zerstört nicht die Natur, sondern erhebt sie.
(165) ein unauslöschliches Merkmal
(166) „Ich bin gesandt.“
(167) Das Wort findet sich bei den Kirchenvätern (Brief an Diognet 6; PG 2, 1173). Im Diognetbrief steht es allerdings in einem negativen Kontext: wie die Seele im Körper wie in einem Käfig gefangen ist, so müssen sich die Christen von ihrem In-der-Welt-Sein befreien. Denn die Welt ist für sie ein Gefängnis. Bei P. Kentenich wird das Wort immer in einem positiven, sendungsbezogenen Sinn verwandt: die Christen haben den Auftrag, die Welt zu beseeelen, so wie die Seele dem Körper Vitalität und Lebendigkeit schenkt.
(168) Ein Reich wird aus den Kräften erhalten, aus denen es gegründet ist.