[[51]] Wie wir bereits angedeutet haben, gibt es nicht wenige Christen, die treu an allen definierten Dogmen festhalten. Sie glauben an die Gegenwart des Herrn in der Eucharistie, an das Geheimnis der Dreifaltigkeit, der Menschwerdung und an vieles, vieles, vieles andere. Sie sagen auch ohne sonderliche Schwierigkeit nach, was sie von Inhalt und Bedeutung der Lehre von der göttlichen Vorsehung gelernt haben. Sie wissen ferner manches Schöne und Beglückende von dem Eingreifen Gottes ins Urchristentum und Mittelalter zu erzählen. Die Not, das Dunkel, die Krise beginnt da, wo die Unbegreiflichkeiten der heutigen Zeitgeschichte berührt werden und zur Diskussion stehen. Solange sie gesättigt und gefriedet hinter dem grünen oder an dem wohlgedeckten Tisch sitzen und das schaurig-schöne hin- und herjagende Spiel sich zusammenballender pechschwarzer Wolken oder die heranbrechende Naturkatastrophe, das grelle /
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Aufleuchten der Blitze und das drohende Grollen der Donner vom gesicherten Ort aus beobachten konnten, ging es noch einigermaßen an.
Die Situation änderte sich aber in dem Augenblick wesentlich, wo sie selbst in Sturm und Ungewitter hineingeraten sind, wo sie die übliche, feste Grundlage gewohnter seßhafter Verhältnisse und selbstverständlicher Meisterung bekannter Umstände verloren haben, wo sie ins Dunkel von Gegenwart und Zukunft hineinstarren und gewärtig sein mußten, von der Eisscholle, die sie inmitten eines furchtbaren Schiffbruches erwischt hatten, jeden Augenblick in die endlos unbarmherzigen und rätselhaften Tiefen hilflos und unrettbar hinabgeschleudert zu werden.
Nicht der Gott der Heiligen Schrift und religiösen Bücher, nicht der Gott der Altäre, nicht der Gott in fernen Himmelshöhen und im nahen Herzensschrein ist für sie in Frage gestellt. Ihr Problem – schlechthin das Problem – ist der Gott des Lebens, der Gott des heutigen Lebens. Es ist der Herr, der im Sturme der heutigen Zeit seelenvergnügt zu schlafen scheint und auf stürmisch drängende und quälende Weckrufe sich nicht vom Schlafe aufscheuchen läßt. Alles Bitten und Betteln, alles Rufen und Schreien »Herr, hilf uns, wir gehen zugrunde!« (Mt 8,25) scheint vergeblich zu sein. Er schläft weiter, weiter, weiter. Er sieht nicht und hört nicht; er weiß nicht, um was es geht – so hat es wenigstens den Anschein. Menschen dieser Art fehlt der praktische Vorsehungsglaube.
Es mag nicht lange mehr dauern, dann verlieren sie auch den theoretischen Glauben an Gottes weise und fürsorgliche Weltregierung oder das grundsätzliche Stehen zu /
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einem von Gott entworfenen und zielstrebig durchgeführten großen Weltenplan. Ist die Wurzel des Glaubens einmal auf solche Weise angekränkelt, so wird der Bazillus sich bald vermehren und die Wurzel ganz zerstören, so daß sie den Baum des religiösen Lebens nicht mehr tragen kann. Kommt sodann ein großer Sturm, so bricht er elendiglich zusammen.
Das ist das traurige Schicksal vieler heutiger, auch dogmatisch gut geschulter Christen, die nicht selten glänzend über religiöse Wahrheiten sprechen können. Der Glaube ist bei ihnen im Kopf geblieben, er ist nicht in Herz und Leben übergegangen, kurz, er ist nicht zum praktischen Vorsehungsglauben ausgereift. Darum konnte er nicht tief genug Wurzeln schlagen, wenigstens nicht tief genug für das Sturmesgewitter der heutigen apokalyptischen Zeit. Die von ihm geformten Menschen gehören nicht zu der Klasse, von denen man im paulinischen Sinne sagen kann: »Justus autem meus ex fide vivit(32).«
Ein geistreicher Sehriffsteller aus dem 18. Jahrhundert, Pater Grou, erblickte in dem hier genannten Glauben, »der das Leben des Gerechten ist, nicht den allen Christen gemeinsamen Glauben, durch den man alles fest für wahr hält, was Gott durch seine Kirche geoffenbart hat, es ist vielmehr [[52]] ein ganz besonderes und persönliches Glauben an die übernatürliche Vorsehung Gottes, welche über jene Seelen waltet, die sich ihm ganz hingegegeben haben(33)«.
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Pater Köster untersucht in seiner Studie »Schönstatt und der deutsche Katholizismus, Themen und Hintergründe eines Ideenkampfes« die Frage, ob »die göttliche Vorsehung (nicht im allgemeinen, sondern ganz konkret) in meinem Leben, besonders mein Beruf, Gegenstand des übernatürlichen habitus fidei(34) in mir(35)« sein könne. Er kommt zum selben Resultat wie Pater Grou. Er schreibt:
»Sind sie nur fides naturalis vel coniectura vel opinio mere humana(36), dann wird gerade jener Bereich, in dem der einzelne wirklich lebt und den Trost der Religion nötig hat, vom Kern des Glaubens abgespalten und damit sozusagen naturalisiert und in der Folge auch leicht säkularisiert. Es werden Gaben des Heiligen Geistes (das donum consilii(37), das den Willen Gottes im konkreten Leben ermitteln, und das donum scientiae(38), welches das Weltgeschehen auf Gott hin transparent machen soll) ihres übernatürlichen Charakters entkleidet. Und doch sind offenbar diese Gaben Regungen eines übernatürlichen Vermögens. Auch das beliebte Thema aus Exerzitien und Predigten, daß man seine Lebensgeschichte ‘im Lichte des Glaubens’ verstehen soll, verliert sein Recht…
Es gehört zu den großen Erziehungszielen Gottes, besonders im Alten Testament, daß der Mensch an die göttliche Geschichtsführung mit einer fides supernaturalis(39) glaube. Leistet es nicht entgegen diesem Grundanliegen der Offenbarung der Säkularisierung des Geschichtsbewußtseins Vorschub, und /
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raubt es nicht der Kirche von heute einen zu ihrem Siege gegen den Atheismus unerläßlichen Schwung, wenn man sich der Anwendung dieses theologischen Begriffes auf eine konkrete geschichtliche Bewegung widersetzt? …(40)
Freilich, wenn man, wie es in dogmatischen Abhandlungen leicht geschieht, die übernatürliche fides nur auf den Bereich der förmlich definierten oder definiblen Wahrheiten eingrenzt, kann die Überzeugung von der göttlichen Vorsehung in ihrer Anwendung …(41) kein ‘Glaube’ im strengen Sinn sein; denn die Kirche definiert nur jene Wahrheiten, die für die Allgemeinheit gültig sind. Diese Eingrenzung ist aber nicht berechtigt. Sie ist durch die Heilige Schrift selber widerlegt. Denn auch dort wird das Vertrauen in die Einzelvorsehung Gottes ‘Glaube’ genannt: ‘Amen, quippe dico vobis, si habueritis fidem, sicut granum sinapis, dicetis monti huic, transi hinc illuc, et fiet vobis(42).’ Aber auch vor der Theologie kann solcher Sprachgebrauch bestehen. Danach liegt ‘Glaube’ im strengen Sinn vor, wo immer der Mensch auf die Wahrhaftigkeit Gottes hin etwas für wahr hält. Das aber trifft auch in jeder konkreten Anwendung des Vorsehungsglaubens zu. Wenn es den streng theologisch-übernatürlichen Charakter des Glaubens im allgemeinen nicht aufhebt, daß rationale Präambeln(43) ihn unterbauen, so auch in unserem Falle /
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nicht, wenn rationelle Überlegungen ihn auf einen konkreten Fall anwenden(44).«
32. Mein Gerechter aber lebt aus dem Glauben: Röm 1,17; Gal 3,11; nach Hab 2,4.
33. P.J. Grou, Handbuch für innerliche Seelen, Münster 1919, 120 (Nr. 22).
34. Übernatürliche Glaubensfähigkeit und -willigkeit.
35. Unveröffentlichte Studie, geschrieben am 20.10.1951. Die Hervorhebung stammt von P. Köster.
36. Natürlicher Glaube oder Vermutung oder nur menschliche Meinung.
37. Die Gabe des Rates.
38. Die Gabe der Wissenschaft.
39. Übernatürlicher Glaube.
40. P. Kentenich hat folgende Sätze ausgelassen: »Darf man aber die Überzeugung von der göttlichen Berufung der Schönstattbewegung ‘Glauben’ nennen, warum nicht auch ihren Gegenstand ‘Geheimnis’? Denn nach einem alten Worte gilt: ‘Est fides, ubi non vides’ (Der Glaube bezieht sich auf das Unsichtbare, d. Hrsg.) Also wäre auch der theologische Begriff des Geheimnisses gegeben und der Ausdruck ‘Schönstattgeheimnis’ vertretbar.«
41. Im Text von P. Köster stand ursprünglich: »… in ihrer Anwendung auf die Schönstattbewegung…«
42. Denn wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr einen Glauben habt wie ein Senfkörnlein, so werdet ihr zu diesem Berge sagen: Rücke von hier weg dorthin -, und es wird für euch so geschehen: Mt 17,20; vgl. 21,21.
43. Vorerkenntnisse.
44. P. Köster, Schönstatt und der deutsche Katholizismus, Themen und Hintergründe eines Ideenkampfes, unter: Schönstattglaube.
Aus: Joseph Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form, Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S. – www.Patris-Verlag.de
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