Leben

Leben

Herbert King

1. Vielfalt und Einheit des Lebens.
1.1. Vier Lebensschichten
1.2. Einzelaspekte
– Leibliches (biologisches) Leben
– Seelisches (psychisches) Leben
– Geistiges Leben
– Übernatürliches Leben
1.3. Ganzheit des Lebens
– Durchdringung
– Ergänzung
– Akzentuierung
– Akzentuiert seelisch
1.4. Bewusstseinsgrade des Lebens
2. Gestalt des Lebens
– Lebensvorgang und Lebensgebilde
– Organismus und organisches Leben
3. Objektivationen des Lebens
– Verschiedene Lebensgebiete
– Lebensgestalten
– Drei Grundlebensgebilde
– Durchdringung
4. Leben als kultureller Begriff
5. Wachstum des Lebens
6. Reinigung des Lebens
7. Lebensmäßiges Denken

Leben ist im Werk Pater Kentenichs einer der zentralen Begriffe. Immer neu hat er das Leben beobachtet, beschrieben und auf Gesetze befragt. Wichtige Zielformulierungen haben es mit dem Leben zu tun: Dem Leben dienen. Ideen sollen zum Leben werden. Leben entzündet sich am Leben. Die Dogmatik ins Leben übersetzen. „Verbindungsoffizier“ sein zwischen Wissenschaft und Leben. Wir reden vom Leben einer Gruppe, der Schönstattfamilie oder ei-ner Gemeinde. Wichtig die Formulierung „Gott des Lebens“ und viele mehr.

1. Vielfalt und Einheit des Lebens.

1.1. Vier Lebensschichten

Den vier Seinsschichten im Menschen Leib, Seele, Geist und Ü-bernatur ordnet Pater Kentenich vier Lebensschichten zu. Wir haben somit ein leibliches, ein seelisches, ein geistiges und ein übernatürliches (oder Gnaden-)Leben. Die seinsmäßige Be-trachtung sieht den Menschen als solchen, „objektiv“. Dem Sein nach ist der Mensch eine Einheit (Person). Gleichzeitig können verschiedene „Schichten“ unterschieden (nicht getrennt) werden. Die lebensmäßige Betrachtung sieht den Menschen und die genannten Schichten unter dem Gesichtspunkt ihres spezifisches Lebens, ihrer spezifischen Lebensäußerungen. Der Begriff Leben bezieht sich dabei (1) sowohl auf die Tatsache, dass die entsprechende Schicht „lebt“, sich als „lebendig“ erweist, in Aktivität ist, wie (2) auf den Inhalt der Lebensäu-ßerungen.

1.2. Einzelaspekte

  • Leibliches (biologisches) Leben – Hier ist zunächst der eigentliche Ort des Begriffs Leben Gemeint ist das Leben der Pflanzen und Tiere, das Leben der „Natur“, ebenso das Leben des menschlichen Leibes. Der biologische Bereich ist in die Ganzheit des Menschseins aufge-nommen. Besonders interessiert Pater Kentenich der Leib-Seele-Geist-Gnade-Zusammenhang.
  • Seelisches (psychisches) Leben – Die seelische Schicht (das seelische Sein) hat ein seeli-sches oder psychisches Leben Es handelt sich um die verschiedenen Bewegungen der See-le, ihre Bilder, Stimmungen, Grundzüge, Betroffenheiten, Antriebe.
  • Geistiges Leben – Das Leben des Geistes drückt sich aus in Denken und Wollen. Zum Le-ben des Geistes gehören seine Ideen, seine Bemühungen um die Wahrheit und das Gute, seine Erkenntnisse. Die Offenheit auf Transzendenz, das Suchen und Finden Gottes.
  • Übernatürliches Leben – (göttliches Leben oder Gnadenleben). Dieses ist zunächst in Gott selbst. Er hat sein Leben aber auch mitgeteilt (Offenbarung als Lebensmitteilung Gottes). Wichtig ist der Ausdruck Gnadenleben. Äußerungen des übernatürlichen Lebens sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Ebenso die Gaben des Hl. Geistes im Menschen. Und wenn Jesus sagt: „Ich bin gekommen, dass sie das Leben haben und es in Fülle haben“ (Joh 10,10), dann ist zunächst dieses göttliche Leben gemeint.

1.3. Ganzheit des Lebens

Auch wenn man verschiedene Lebensschichten unterscheiden kann, so ist es doch immer ein einziges menschliches Leben.

  • Durchdringung – Die einzelnen Lebens- und Seinsschichten durchdringen sich und sind im-mer gemeinsam in Tätigkeit. So gibt es kein übernatürliches Leben, das nicht gleichzeitig geistig, seelisch und leiblich ist. Ebenso ist es auch bei den anderen Lebensschichten.
  • Ergänzung – Die verschiedenen Schichten ergänzen sich gegenseitig. Keine darf gegen die je anderen ausgespielt oder abgewertet werden. Das seelische Leben z.B. bindet den Geist mit seinen Ideen gleichsam an. Gleichzeitig kann das Leben des Geistes bewusst und ab-sichtlich einen ordnenden, korrigierenden und kritischen Einfluss auf das seelische Leben ausüben. Doch muss es sich gleichzeitig seinen Gesetzmäßigkeiten anpassen und sich in diese eindenken. Hier die immer wiederkehrende Frage: Wie werden Ideen zum Leben? Aber auch die Möglichkeit, die im Leben einschlussweise enthaltenen Ideen zu entfalten (ablesen-des Denken). Ähnliches kann, um ein weiteres Beispiel zu nennen, vom übernatürlichen Le-ben gesagt werden. Es hängt nicht einfach sozusagen in der Luft. Vielmehr pflanzt es sich in vielfältiger Weise in die anderen Lebensschichten ein. Gleichzeitig hat es diesen gegenüber auch wieder seine Eigenständigkeit und Forderungen bis hin zur Forderung des Opfers des Lebens der verschiedenen Schichten.
  • Akzentuierung – Das eine Leben ist je nachdem „akzentuiert“ übernatürlich, geistig, seelisch bzw. leiblich. Doch je nach Vorgang prädominiert eine Lebensschicht. Die anderen sind mit-beteiligt. Letztlich ist es aber eine einzige originelle Gestalt und Verwirklichungsweise des Le-bens.
  • Akzentuiert seelisch – Oft ist mit Leben bei Pater Kentenich einfach das seelische Leben gemeint. Dieses steht besonders im Vordergrund seines Interesses. Seine Sendung hat er sehr betont im Bereich des seelischen Lebens gesehen. Dem seelischen Leben fällt eine Ei-nigungs- und Verankerungsfunktion für die anderen Lebensschichten zu. Es ist Mitte und Verbindungszone des Ganzen. In ihm verdichtet sich die Persönlichkeit, hat ihre Mitte.

1.4. Bewusstseinsgrade des Lebens

Leben kann sich sodann in unterschiedlichen Bewusst-seinsgraden ausdrücken. Es kann bewusst und unbewusst (unterbewusst) sein. Weiter kann es bewusst und „funktionell“ sein. Ebenso unterscheidet Pater Kentenich zwischen Bewusst-sein und Lebensgefühl. Hier auch das Wort Lebensbewusstsein.

2. Gestalt des Lebens

Der Fluss des Lebens, seine vielfältigen Äußerungen wollen auf seine ihnen innewohnende Gestalt und Ordnung hin beobachtet und beachtet werden. Diese ist vorgegeben und gleichzeitig in die gestalterische Initiative des Menschen gelegt. Ähnlich wie für Paulus das Gesetz ins Herz des Menschen geschrieben ist, sieht Pater Kentenich eine in den Menschen eingeschriebene Lebensstruktur (!) oder Lebensgestalt. Seine vielen Beobach-tungen auf diesem Gebiet haben zum Ziel, den Menschen anzuleiten, diese ihm innewohnen-de Gestalt entsprechend ihrer Bedürfnisse und Gesetzmäßigkeiten zu erkennen, zu stärken, zu erziehen, zu reinigen und auszugestalten.

Durch die Hervorhebung und Beschreibung der Gestalt des Lebens schirmt er sich gegen einen einseitigen aktualistischen Vitalismus ab. Diesem sagt er, dass es eine Gestalt des Le-bens gibt, die man beachten soll, die es zu entfalten gilt, die verloren gehen, zerfasert, aus-einander gerissen, zerstört werden kann. Die Rettung des bedrohten Lebens kommt für ihn aber nicht in erster Linie von einer von außen herangetragenen Betonung von Ideen, Ordnun-gen und normativen geistigen Prinzipien. Diese sind für ihn zwar wichtig. Im Kräftespiel von Leben und Idee (Prinzipien, Ordnung, Norm, Dogma) treten sie aber deutlich an die zweite Stelle. Umso mehr ist dann von Bedeutung, dass das Leben tatsächlich in seiner Gestalt ge-sehen und entfaltet wird und dass an diesem dann wieder das von den Ideen, Prinzipien, Normen und Dogmen Formulierte abgelesen wird. Hier setzt seine neue Erziehungsweise und -lehre an (>>Pädagogik).

  • Lebensvorgang und Lebensgebilde – Für die hier herausgehobene Gestalt benützt Pater Kentenich eine Reihe von Termini. Hier steht an erster Stelle der Begriff Lebensvorgang. Da-mit ist ein Ausdruck des Lebens gemeint, der gleichsam aus vielen Fasern zusammengesetzt ist, die eine zusammenhängende Gestalt und Ordnung darstellen. Ein weiterer zentraler Aus-druck ist Lebensgebilde, oft synonym mit Lebensvorgang verwendet, oft auch als Wort für die originelle Gestalt eines Geflechts oder Bündels verschiedener Lebensvorgänge.

Dann die Ausdrücke: Lebensbildung oder Lebensbildungen. Sodann Lebensbild (vgl. Le-bensgebilde). Ebenso Lebensgeschichte als Geschichte der Lebensäußerungen (auch als Gegenüber von Ideengeschichte). Sodann Lebensformen, Lebensformungen. Hier ist dann zunächst nicht eine äußere Form gemeint, sondern auch wieder die innere Gestalt des ge-formten und zu formenden Lebens. Zu nennen ist weiter „Lebensbewusstsein“. Es ist das Bewusstsein vom Leben, das eine bestimmte Gestaltung des „Lebens“ hervorbringt oder her-vorgebracht hat und das dieses auch reflexiv versteht und ihm gerecht wird. Von einem solch bewusst gewordenen Leben aus kann dann über das Leben nachgedacht werden.

  • Organismus und organisches Leben – Die Gestalt des Lebens vergleicht Pater Kentenich oft mit dem biologischen >>Organismus. Wir stellen eine Art Analogie fest zwischen dem seeli-schen und dem leiblichen Leben Ebenso eine Art Fortführung des biologischen Lebens in das seelische, geistige und übernatürliche Leben hinein. Deshalb ist es auch berechtigt, für alle Schichten des Lebens das gleiche Wort zu verwenden. Der Ausdruck Leben ist dann analog, gleichsam mehrstöckig. Ebenso analog ist der Ausdruck, der für die Gestalt des Lebens steht: Organismus oder Lebensgebilde. Wenn deshalb die Begriffe Leben und Organismus auf das seelische Leben angewendet werden (und erst recht ist dies der Fall bei ihrer Anwendung auf das geistige und übernatürliche Leben), muss deutlich sein, dass sie analog verstanden sind. Der Organismus im seelischen, geistigen und übernatürlichen Sinn ist, stärker als der biologi-sche Organismus, in die gestaltende Freiheit des Menschen gegeben. Das seelische Leben ist weniger blind und vorgestaltet als das biologische. Erst recht das geistige und das überna-türliche. Es nimmt an der denkenden und wollenden Freiheit des Menschen mehr teil als das biologische. Um die organologischen Konnotationen zu vermeiden, ist es oft besser, von Le-bensgebilde zu reden. Dieser Ausdruck ist bei Pater Kentenich weitgehend synonym mit „Or-ganismus“.

3. Objektivationen des Lebens

Das Leben in den verschiedenen Lebensschichten drückt sich nicht nur flüchtig aus. Es hinterlässt Spuren. Es entwirft z.B. ein Haus, formuliert einen Satz, schreibt einen Aufsatz, gestaltet ein Zimmer, bringt einen Brauch hervor, einen Ritus, schreibt ein Werk, malt ein Bild. Das Leben kristallisiert sich aus, kondensiert sich. Ebenso trifft es solche Ausgestaltungen an und reagiert auf diese.

  • Verschiedene Lebensgebiete – Es gibt die verschiedensten Gebiete, auf denen sich Leben abspielt. Ich nenne als Beispiele das kirchliche, staatliche, gesellschaftliche, religiöse, weltli-che, studentische, heutige Leben. Das eheliche, familienhafte Leben Das Leben einer Ge-meinde, einer Gruppe. Das ethische Leben, das musikalische Leben.
  • Lebensgestalten – Pater Kentenich hat viele dieser Gebiete unter dem Gesichtspunkt des Lebens beschrieben, Lebensgestalten herausgearbeitet. Auch hier die Ausdrücke Lebensvor-gang, Lebensgebilde und Organismus. Ich nenne als Beispiel die Beschreibung des Lebens-vorgangs Ehe, des Lebensvorgangs Familie, Frau, Mann, Vater und Mutter, Kindlichkeit, Gott, Demut, Sexualität, des Lebensvorgangs Landschaft. Immer geht es um die Lebensgestalt dieser Wirklichkeiten. Jede Kultur bringt solche Lebensgestalten hervor. Diese leben in ihr als ganzheitliche Vorstellungen und Bilder und werden nur zu einem Teil bewusst gemacht und reflektiert. Heute lösen sich viele dieser Lebensgestalten auf und müssen neu formuliert wer-den. In solchem Zusammenhang ist das Tun Pater Kentenichs zu sehen.
  • Drei Grundlebensgebilde – Wir können drei Grundlebensgebilde unterscheiden. Zunächst das Lebensgebilde Innenwelt des einzelnen Menschen. Sodann das Lebensgebilde „objektiv“ vorgegebene Außenwelt als Lebensraum und Lebenswelt. Schließlich das Lebensgebilde Überwelt (>>Psychologie der Zweitursachen).
  • Durchdringung – Die Lebensschichten mit ihren Äußerungen – in ihrer Unterschiedenheit wie in ihrer ganzheitlichen gegenseitigen Verwobenheit – reagieren auf die entsprechenden von ihnen hervorgebrachten und ihnen wieder entgegenstehenden Lebensgebiete und -gestalten aktiv und passiv in vielfältiger Weise. So macht beispielsweise jemand eine Wallfahrt. Wall-fahrt ist ein „Lebensgebiet“. Das heißt mit dem Wort und der Sache verbinden sich bestimmte Inhalte. Nehmen wir an, jemand macht eine solche Wallfahrt zunächst rein leiblich, ohne dass er etwas Religiöses fühlt (seelisch), denkt (geistig) oder glaubt (übernatürlich). Es ist dann ein betont übernatürlicher Lebensvorgang der Lebensgestalt nach. Und dennoch ist er dem sub-jektiven Vorgang nach akzentuiert leiblich. Das Seelische, Geistige, Übernatürliche schwingt mit, ist aber mitgemeint. Oder Schönstatt ist als Lebensgestalt ein übernatürlicher Lebensvor-gang dem Inhalt nach. Doch kann ein solcher subjektiv akzentuiert „seelisch“ aufgenommen sein, oder z.B. intellektuell-geistig.

4. Leben als kultureller Begriff

Von seinem Lebensbegriff aus realisiert Pater Kentenich sei-ne Kulturanalyse und -kritik. Ihren „charakteristischen Nenner“ bezeichnet er mit dem Aus-druck „Lebenskrise“ (Studie 1960, 156). „Die Lebensbänder sind überall zerschnitten und zer-rissen: sie sind entbunden, sie sind aus dem gottgewollten organischen Gesamtgefüge aus-einander gerissen“ (ebd.). Es handelt sich um eine „mechanistische Aufsplitterung des ge-samten Lebens“ (ebd.). Es ist eine universelle und radikale „geistige Revolution“, die „kaum ein Lebensgebilde“ verschont (MBr 1948, 44). „Letzte Lebenseinheiten“ werden zerstört (St 1949, 25 f.). Es ist eine Zerstörung „aller bewährten organischen Lebensgebilde“ (Br 4.4.1951). Hierher gehört auch der Ausdruck mechanistisches Leben und mechanistisches Denken. Dieses ist ein Denken, das dem Leben nicht gerecht wird.

Pater Kentenich sieht aber nicht einseitig die Auflösung: „Aus immanenten Triebkräften her-aus – nicht bloß aus äußerem Zwang – geht es um einen Gestaltwandel von Kirche und Ge-sellschaft“ (St 1949, 167 f.). Es ist ganz speziell ein Gestaltwandel des Lebens, seiner Vor-gänge, Gebilde, Organismen und seiner Lebensgestalt. Es geht um „Substrate, Zellgewebe eines organischen, neuen religiösen Lebens“ (Friedrich Heer, zitiert in: LS 1952 II, 250 f.).

5. Wachstum des Lebens

Das Leben, die Lebensgebilde wachsen gemäß bestimmter >>Wachstumsgesetze.

6. Reinigung des Lebens

Das Leben muss in vielfältiger Weise geklärt gereinigt und erzogen werden (>>Aszese).

7. Lebensmäßiges Denken

>>organisches Denken.

Abschließend kann gesagt werden: Typisch für Pater Kentenich ist sein großer Respekt vor jedem Sein, auch dem Sein, das im Leben zum Ausdruck kommt (vgl. KW 1946). So hört er mit großer Achtung die Stimmen des Leben und deutet sie als Stimmen des Gottes des Lebens

>Bindungsorganismus, >>Organismuslehre, >>Pädagogik.


Literatur:

  • H. King, Neues Bewusstsein. Spuren des Gottesgeistes in unserer Zeit, Vallendar-Schönstatt 1995, 107-139.

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

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