CmL1996 II 4 Einladung zur Christusunmittelbarkeit

CmL1996 II 4 Einladung zur Christusunmittelbarkeit

J. Kentenich, aus: Vortrag für Schönstätter Marienschwestern, 14.1.1951

Darf ich Ihnen jetzt ein paar Worte sagen zur Christusunmittelbarkeit? Was sollen wir also tun, um zum Heiland zu gelangen? Es sind das jetzt ein paar schlichte, einfache Hinweise. Ich reihe sie populär aneinander, bleibe aber dann bei dem einen oder anderen Punkte ein wenig stehen, den ich mir als Namenstagsgeschenk wünsche. Ja, also Christusunmittelbarkeit!

1. Meinen Sie nicht, wir müßten alle mit der Zeit so kleine „Zachäusse“ (vgl. Lk 19,1-10) werden? Wie hat Zachäus das gemacht, um zum Heiland zu kommen? (Antwort: „Er ist auf den Baum gestiegen!“) Nicht bloß das. Er ist vorangelaufen, er hat die Masse verlassen und den Weg zur Höhe gesucht. Das ist etwas überaus Bedeutungsvolles. Sehen Sie, wenn wir den Heiland finden wollen, dann müssen wir alle Massenpsychose in uns überwinden, dann müssen wir einsam werden und das Einsamwerden als das große Zweisamsein sehen.Sie werden das auch in Ihrem Leben leicht nachprüfen können, wie oft der liebe Gott uns an allem Irdischen enttäuscht werden läßt. Weshalb tut er das? Er möchte, daß wir die Masse verlassen, er möchte, daß wir auf den Baum klettern, zur Höhe empor.

Darf ich daran erinnern, daß der wahre, echte jungfräuliche Lebensstil wieder und wieder in der Tiefe der Stil einer herben Einsamkeit ist? Wenn wir nicht einsam werden, die Masse verlassen, auf den Baum klettern, zu klettern trachten, dann wird der Heiland uns sich niemals entschleiern, dann wird er uns auch nicht zurufen: Komm, ich muß heute bei dir zu Gaste sein! – Zachäus, steige herab vom Baume! Ja, X., steige herab vom Baume! Nun müssen Sie nicht erwarten, daß ich Ihnen diese schlichten Gedanken weiter ausführe. Neh-men Sie das bitte mit, wenn Sie in der Folge sich schon einmal einsam fühlen. (…)

Sicherlich, daß bisweilen der Verstand verdunkelt und das Gemüt ausgedörrt ist, müssen Sie für selbstverständlich halten. Das schickt der liebe Gott auch, damit wir auf den Baum klettern, sonst bleiben wir in der Masse.

Sie müssen überlegen, wie häufig wir tatsächlich den Heiland gefunden haben, wenn wir teilnehmen durften an seiner Einsamkeit, an seiner tiefen Einsamkeit. Es gibt wohl kaum etwas Schöneres in der Heiligen Schrift als das Wort: „Jesus autem tacebat“ (Mk 14,68: Jesus aber schwieg). Er ist der große Einsame gewesen.

Sie müssen prüfen, wie wenig er verstanden worden ist; nicht einmal von seiner Mutter ist er verstanden worden. Von seinen Aposteln ist er überhaupt nicht verstanden worden. Er konnte ihnen sagen, was er wollte, er konnte Wunder wirken, soviel er wollte, sie verstanden ihn nicht. Es war höchstens ein augenblickliches Aufspritzen und -sprudeln von Verstehen in ihnen, aber nachher ist der Strom sofort wieder nach unten gegangen.

Vollständiges Nichtverstandensein! Und sehen Sie, gleich und gleich gesellt sich gerne. Wenn wir selber einsam sind, uns nicht verstanden wissen, dann kommen wir viel schneller zum einsamen Heiland. Wenn der Heiland uns also an sich ziehen will, müssen wir enttäuscht werden, müssen wir die Masse verlassen, entweder ganz freiwillig oder aber auch durch die Verhältnisse mit der Nase darauf gestoßen werden. (…)

2. Ein zweites, schönes Mittel, um zur Christusunmittelbarkeit zu gelangen, ist Demut, ist Kleinsein.

In Kopenhagen steht in einer Kirche ein bekanntes Bild von Thorwaldsen. Es stellt den Heiland unter einem Gesichtspunkt dar, der durch die Inschrift angegeben ist: „Kommet alle zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken“ (Mt 11,28). Das Bild ist eine Berühmtheit und wird vielfach von nah und fern besucht. Es wird erzählt, einst sei aus dem Reiche auch einmal jemand dort gewesen, hätte vor dem Bild gestanden und dann kopfschüttelnd gesagt: So, das Bild soll eine Berühmtheit sein? Da finde ich nichts dahinter. Darauf die Antwort: Wenn Sie die Größe des Bildes verstehen wollen, dann müssen Sie das Bild von unten sehen.

Das Bild von unten sehen! Verstehen Sie, was das bedeutet? Das ist das überaus Wertvolle, was der liebe Gott unserer Familie geschenkt hat: Wir sehen Gott und Göttliches, den Heiland und die Gottesmutter immer von unten. Was das besagt? Wollen wir den Heiland verstehen, dann müssen wir klein werden, demütig werden.

Schweigende Einsamkeit und tiefes, in sich gekehrtes Kleinsein! Klein sein, wie der Heiland klein geworden ist. „Exinanivit semetipsum“ (Phil 2,7: Er entäußerte sich). „Christus factus est pro nobis oboediens usque ad mortem, mortem autem crucis!“ (Phil 2,8: Christus war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz). (…)

Sie wissen, jetzt könnten wir, weil es sich um einen Lieblingsgegenstand handelt, lange, lange hier stehenbleiben. Und wenn Sie unsere Welt nicht bloß mit dem Munde nachsagen, sondern auch im Kopf verarbeiten und in das Herz hineindringen lassen, kommen Sie auch nicht leicht an ein Ende, wenn Sie die ganze Fülle des schlichten Wortes: von unten den Heiland, von unten den Vater, von unten die Gottesmutter sehen, auf sich wirken lassen. Von unten! (…)

Deswegen noch einmal: Wollen wir Christus verstehen, müssen wir nicht nur emporsteigen und die Masse verlassen, sondern – es ist scheinbar das Gegenteil – nach unten uns bewegen, klein sein. Zachäus war ja auch klein von Gestalt. Wir müssen klein sein, uns klein fühlen, von unten Christus sehen, uns ihm gegenüber klein und hilflos fühlen lernen. (…)

3. Lassen Sie mich ein anderes Bild malen und damit einen anderen Weg weisen. Einer unserer besten Steinmetzen (Dannecker) war daran, das Bild Christi dem Stein, dem Marmor gleichsam abzuzwingen. Er hat Vorlage auf Vorlage kommen lassen, hier probiert und da probiert, dieses gesucht und dann jenes wieder verworfen, und schließlich wußte er nicht mehr, wie er das Antlitz Christi malen oder dem Stein einhauen sollte. Da erinnert er sich daran, was der Heiland in der Heiligen Schrift gesagt: „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ (Mt 18,3). Und dann sagt er sich: Ein Kind wird am allerbesten die Unterscheidungsgabe für die Züge Christi haben, vom Kind kann ich am allerbesten lernen, wie wohl das Antlitz Christi am besten gemalt, gemeißelt werden kann. Er ließ eines von seinen Kleinen hineinkommen und fragte das Kind, welche Figur oder welches Bild ihm am besten zusage. Mit einer eigenartigen Instinktsicherheit sieht sich das Kind die Bilder an, geht auf ein Bild zu und sagt: Das ist für mich der Heiland. Und was tut der Steinmetz? Ohne langes Überlegen sagt er: Das muß wohl das richtige sein! Acht Jahre hat er an seinem Bild gearbeitet. Und das Bild soll eine Berühmtheit darstellen.

Was das besagt? Wir wollen ja unmittelbar zu Christus. „Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ Tiefe, schlichte Kindlichkeit gibt uns das Organ, das Göttliche zu fassen, auch das Göttliche in Christus. (…)

Wenn der liebe Gott uns in der Gesamtfamilie das Geschenk einer gelockerten Kindlichkeit, und zwar einer natürlich-übernatürlichen Kindlichkeit gibt – Sie verstehen, was gemeint ist -, dann sind wir endlos entwicklungsfähig, dann ahnen und verstehen wir auch das Große, Göttliche, was uns im Heiland entgegentritt. (…)

Sobald wir anfangen, groß zu werden, hört das Kleinsein auf. Dann zieht der liebe Gott sich zurück. Genauer gesagt: Wenn wir groß werden, hören wir auf, erlösungsbedürftig zu werden, dann hören wir auch auf – und das ist bedeutungsvoll -, erlöserbedürftig zu werden. Hier müssen Sie den inneren Zusammenhang studieren. Sehen Sie, wenn ich erlöserbedürftig bin, komme ich zur wahren, echten Religiösität; dann komme ich zum Heiland. Das ist etwas Bedeutungsvolles. Wenn wir alle einmal älter geworden sind, wenn das Leben uns nicht mehr stark umflutet, so daß wir mehr auf uns gestellt sind, dann werden Sie merken: Wir können uns nicht selber erlösen. Was wir können, das ist das, was die kleine heilige Theresia uns lehrt: die Arme ausbreiten und warten, damit Gott uns erlöst. Nur durch die Gnade ist Erlösung möglich. Das Kleinsein, das Sich-schwach-Fühlen, das Erlösungs- und Erlöserbedürftig-Werden, das ist das große Mittel, um unmittelbar zum Heiland zu gelangen. Sehen Sie, dann bricht auch dieser starke Zug zusammen, immer ein Ethizist zu sein, das heißt unter allen Umständen immer einen weißen Kragen haben zu wollen. Wer das will, der ist morgen so unfromm, wie er nur sein kann. Dann wollen wir uns selber erlösen, wollen alles selber machen. Nein, nicht umsonst läßt der liebe Gott uns in Armseligkeiten fallen in der ausgesprochenen Absicht, daß wir hilflos werden und nur durch ihn Erlösung erwarten. Wenn der liebe Gott uns vor größeren Komplikationen, vor starken Leidenschaften bewahrt, ist die Gefahr groß, daß wir nicht mehr erlöserbedürftig sind. Wir meinen dann, die großen Ziele packen wir durch Vorsätze, und merken gar nicht, wie brüchig die Natur geworden ist. Dann hört die Religiösität, dann hört auch die Kindlichkeit auf.

Sehen Sie, das sind Dinge, die wir miteinander besprochen, die dürfen Sie nicht bloß einmal hören, die müssen Sie als ein gewisses Testament auffassen für die Zeit des Getrenntseins und danach sich erziehen. (…)

4. Lassen Sie mich jetzt noch ein anderes Beispiel anführen. Wir haben alle schon einmal den Namen des indischen Philosophen Tagore gehört. Er ist viel durch Europa gereist und hat nachher seine Erfahrungen niedergeschrieben. Er erzählt uns eine Legende – schlichten, eigenartigen, schönen Inhalts. Ein Mann, von Hause aus Bettler, hat einen ganzen Sack voll Weizenkörner zusammengebettelt. Da begegnet ihm der Heiland, er hat Hunger und möchte gerne ein Weizenkörnlein. Und was tut der Bettler? Er macht seinen Sack auf und schaut ganz genau: Ein Körnlein soll er bekommen und dann Schluß! Er geht weiter fürbaß. Nach einiger Zeit drängt es ihn, seinen Sack aufzumachen. Er macht ihn auf, was sieht er? Ein Goldstückchen! Was ist geschehen? Ein Weizenkörnlein hat sich inzwischen in ein Goldstücklein gewandelt. Sie können sich vorstellen, was der Bettler gedacht: Um Gottes willen, wenn doch der Bettler wiederkäme, ich gäbe ihm den ganzen Sack! Eine schlichte Legende!

Was sie uns sagt? Greifen Sie bitte einmal mit Händen: Es ist der ernste Versuch der vollkommenen Preisgabe und der vollkommenen Hingabe. Wollen wir nun wirklich dem Heiland begegnen – das ist wie bei jeder Liebe -, dann müssen wir uns vollkommen herzugeben und zu lösen trachten. Ohne das geht es nicht! Wenn wir nicht ringen um Ganzhingabe, das heißt praktisch um ganzheitliche Lösung, dann kann der Heiland ja nicht hinein in unser Inneres, dann ist der Platz ja besetzt.

Habe ich Ihnen damit ein paar Wege gewiesen? Es ist ja nichts Neues, aber das sind Wege, die wir gehen müssen, um stärker zur Christusunmittelbarkeit zu gelangen. (…)

Selbstverständlich, darauf brauche ich ja sicherlich nicht aufmerksam zu machen, das sind nur ein paar hingeworfene Gedanken, die wir endlos vermehren könnten. Denken Sie nur einmal an das, was wir von unserer liturgischen Einstellung gesagt. Wenn wir stärker zur Christusunmittelbarkeit gelangen wollen, müssen wir uns stärker liturgisch einstellen. In der Liturgie begegnet uns der Heiland unmittelbar. Deswegen müßten alle, die den starken Zug zu Christus haben, auf der einen Seite tiefer in Christus hineinwachsen, einerlei ob von der Gottesmutter oder vom Himmelsvater aus, auf der anderen Seite sich aber auch in die Liturgie versenken. Wir müßten alle die Geschichte, das Geheimnis der heiligen Messe kennen; wir müßten auch von den Sakramenten und von den Sakramentalien mehr wissen, um uns überall von Christus umgeben zu wissen.

 

Erschienen in:
Joseph Kentenich
Christus mein Leben
Ausgewählte Texte zum Christus-Jahr 1997
Herausgegeben von Günther M Boll, M. Pia Buesge, Peter Wolf
Patris-Verlag Vallendar-Schönstatt
www.patris-verlag.de