EK2004-11 – Einleitung

EK2004-11 – Einleitung

Dr. Peter Wolf

Es geschah am 8. Dezember 1965

Hunderttausende haben sich auf dem Petersplatz versammelt. Man feiert den Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils. Die überraschende und geradezu wagemutige Ankündigung des Papstes Johannes XXIII. im Jahr 1958 hatte zum wohl globalsten Ereignis in der Geschichte der Kirche geführt. Über Jahre hinweg waren das gesellschaftliche und nicht nur kirchliche Interesse auf Rom gerichtet. Wir können uns vielleicht gar nicht mehr recht vorstellen, welch große Erwartungen und Hoffnungen diese weltweite Versammlung der Kirche Anfang der sechziger Jahre auf sich gezogen hat.

In der katholischen Kirche herrschte eine ungekannte Aufbruchsstimmung, die ihr viele nicht mehr zugetraut hatten. In und außerhalb der Kirche verfolgte man das Geschehen in Rom. Auch viele evangelische Christen beobachteten mit Anteilnahme und wachem Interesse, was hier in Bewegung kam. Zu einem pastoralen Konzil hatte Papst Johannes XXIII. eingeladen. Er wollte die Fenster öffnen und in einem mutigen „Aggiornamento“ die Kirche zukunftsfähig machen für eine Welt, die nach zwei Weltkriegen sich in einer unaufhaltsamen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und in Umbrüchen befand. Inmitten dieser Beschleunigung der Zeit war es höchst notwendig geworden, dass die Kirche ihr Selbstverständnis neu bestimmte und sich auf ihre Beziehung zur Welt besann. In den zentralen Konstitutionen Lumen Gentium und Gaudium et Spes stellten die Konzilsväter sich dieser Herausforderung einer veränderten Welt und begannen, sich auf einen Dialog einzulassen und Antworten zu versuchen.

Es war ein Konzil, auf dem gerungen wurde um den Weg in die Zukunft. Verfestigtes traditionelles und vorwärtsdrängendes Denken stießen mit elementarer Wucht auf einander. Trotzdem wurde es ein Konzil überwältigender Mehrheiten, wie man bei der Durchsicht der Abstimmungsergebnisse feststellen kann. Der Weg in die Zukunft war mehrheitsfähig, und dies weckte große Hoffnungen bei vielen Menschen. Die kirchliche Landschaft war im Aufbruch und noch nicht bestimmt von sich gegenseitig lähmenden Parteiungen von links und rechts, wie es sich in den Jahren nach dem Konzil bis heute immer wieder belastend einstellt und Leben hemmt.

Kentenich in Rom

Wenige Wochen vor Abschluss des Konzils war Pater Josef Kentenich überraschend in Rom eingetroffen. Ein bis heute in seinem Ursprung nicht endgültig aufgeklärtes Telegramm hatte ihn am 13. September 1965 in den USA aufgefordert, nach Rom zu kommen. Am 17. September flog er Richtung Europa mit Kurs auf Rom. Seit 14 Jahren war er im Exil in Milwaukee/USA gewesen, weitab von seiner Gründung in Schönstatt. Unverständnis über die Neuartigkeit seiner Gründung und Spannungen um seine Person hatten ihm dieses Schicksal eingebracht. Die höchste kirchliche Autorität hatte ihn weggeschickt wie andere Persönlichkeiten auch, etwa Teilhard de Chardin oder Yves Congar, deren Gedanken und Ideen gewagt oder eben nur ungewohnt erschienen. „Nur im Sarg“ würde er jemals wieder nach Europa zurückkehren, hatte man ihm vor der Abreise nach Übersee bedeutet.

Vierzehn lange Jahre Verbannungszeit waren daraus geworden. Es wurden Jahre der Reflexion und der Vergewisserung dessen, was um ihn und das Heiligtum in Schönstatt in einem erstaunlichen Aufbruch gewachsen war. Er ließ sich nicht verbittern und nutzte die Zeit für vielfältige pastorale Arbeit und Reflexion. Die letzten Jahre hatte er mit großem Interesse das Geschehen des Konzils verfolgt. Dabei war er immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass das, was das Konzil will, in seiner Gründung seit Jahrzehnten angelegt und erarbeitet war. Er wurde sich gewiss, dass der Geist Gottes längst am Werk war und die von ihm gegründete und inzwischen weltweite Bewegung eine zutiefst konziliare Sendung in sich trägt.

Es drängte sich ihm der Gedanke auf, dass Schönstatt eine ähnliche Sendung für das Zweite Vatikanische Konzil habe wie die Jesuiten für das Konzil von Trient. Sie hatten entscheidend dazu beigetragen, dass die Beschlüsse von Trient ins Leben umgesetzt wurden. Mit der Diskussion und der Ausarbeitung der Beschlüsse eines Konzils sind die Ziele und Anliegen einer solchen Weltversammlung eben noch nicht verwirklicht. Es braucht einzelne Persönlichkeiten und ganze Gemeinschaften, um den Prozess eines Konzils zu seinem Ziel und seine Ideen zur Verwirklichung zu bringen.

Kardinal Bea, dem Josef Kentenich in den letzten Wochen des Konzils in Rom begegnete und der sich für die Beendigung seines Exils und für sein Bleiben in Rom einsetzte, sagte ihm: „Ohne das Konzil wären Sie nie verstanden worden“. In der letzten Phase des Konzils kommt es zur Rehabilitation. Am 20. Oktober 1965 hebt die Vollversammlung der Kardinäle des Heiligen Offiziums alle früheren Beschlüsse gegen Josef Kentenich auf. Zwei Tage danach bestätigt Paul VI. den Beschluss der Kardinäle des Offiziums.

Zeichen für die Zukunft

Den großen Tag des feierlichen Abschlusses des Konzils am 8. Dezember 1965 nutzt Pater Kentenich zusammen mit den Verantwortlichen seiner weltweiten Gründung dazu, ein Zeichen für die Zukunft zu setzen. Es wird der Tag der symbolischen Grundsteinlegung für ein Schönstattheiligtum und -zentrum in Rom. Am 16. November hatte ihm das Generalpräsidium des Internationalen Schönstattwerkes zu seinem 80. Geburtstag ein großes Geschenk gemacht. Die Spitzen der im Präsidium vertretenen Gemeinschaften hatten dem Gründer versprochen, in Rom ein Schönstattheiligtum und -zentrum zu errichten. Das Romheiligtum sollte ein Symbol sein für die wiedererlangte Freiheit des Gründers, die Einheit des Werkes und die Sendung für die Kirche, wie Weihbischof Heinrich Tenhumberg bei der Feier des Geburtstages ausführt.

Schon viele Jahre zuvor hatte unser Gründer nach Rom gedrängt. Bereits 1947 machte er sich auf die Suche nach einer Möglichkeit, in der Nähe von Castel Gandolfo eine MTA-Kapelle zu errichten. Im Kontext der Seligsprechung von Vinzenz Pallotti im Jahre 1950 ist wiederum von Überlegungen und Bemühungen des Gründers die Rede, in Rom selbst auf dem Monte Cucco oder im Garten des Generalates der Pallottiner ein Schönstatt-Heiligtum zu bauen. Bei einem Kurs der Marienschwestern entsteht in diesen Jahren die Idee und die Sehnsucht, in den Vatikanischen Gärten ein Heiligtum zu errichten. Immer geht es darum, den Lebensaufbruch und die Sendung Schönstatts nach Rom zu tragen und der Kirche anzubieten.

Zum feierlichen Schlussakt des Konzils sind die Vertreter des Generalpräsidiums und Mitbrüder des jungen Priesterverbandes auf dem Petersplatz. Sie haben einen kleinen Bildstock mit dem Bild der Dreimal Wunderbaren Mutter von Schönstatt bei sich. Sie stehen in der großen betenden Menge mit dem Wunsch, dass der Segen des Heiligen Vaters zum Abschluss des Konzils darauf fallen möge. Am gleichen Nachmittag hat der Gründer im Haus der Mainzer Vorsehungsschwestern in der Via Giovanni Eudes zu einem Vortrag eingeladen, in dem er grundlegend zur Bedeutung des künftigen Romheiligtums Stellung nimmt. Der Gründer verstand diesen Vortrag als Ansprache zur „symbolischen Grundsteinlegung“ des Romheiligtums. Mehrere Beteiligte äußerten im Nachhinein den Eindruck, dass dieser Vortrag vom 8. Dezember 1965 in seiner Dichte und in der engagierten Weise, wie der Gründer ihn vorgetragen hatte, als eine „Gründungsurkunde“ zu werten sei, was er auf Rückfrage deutlich bestätigte.

Gleichschaltung mit dem Konzil

Der Gründer will die kirchengeschichtliche Stunde aufgreifen und seine Gründung einbringen und einschalten in den Schlussakt des Konzils. Dahinter steht die oben angesprochene Überzeugung, dass entscheidende Anliegen des Konzils in der Geschichte der Schönstattbewegung eine tragende Rolle gespielt haben und zur Entfaltung gekommen sind. Er ist überzeugt, dass die Sendung Schönstatts in der Zeit vor dem Konzil mit der Sendung der Kirche nach dem Konzil zutiefst übereinstimmt und zusammengehört. Deshalb ist ihm die Ein- und Gleichschaltung mit dem Konzil ein großes Anliegen.

Matri Ecclesiae

Bei seinem Vortrag am Nachmittag des 8. Dezember knüpft Pater Kentenich an die Segnung des Grundsteines für den Bau einer neuen großen Marienkirche an, die Papst Paul VI. bei der Schlussfeier auf dem Petersplatz am Vormittag vollzogen hat. Der Grundstein trägt die Aufschrift MATRI ECCLESIAE und nennt die Mutter der Kirche als Patronin der geplanten Marienkirche. Diesen Namen greift der Gründer auf und bestimmt ihn zum Namen für das künftige Romheiligtum. In dieser Formulierung liegt eine doppelte Bedeutung, die sehr bewusst gewählt ist und später immer wieder ausgedeutet wurde.

„Mater Ecclesiae“ ist zunächst der Titel, den Papst Paul VI. zum Abschluss der dritten Sessio des Konzils der Gottesmutter in feierlicher Weise gegeben hat. Zuvor war es zu erheblichen Auseinandersetzungen und Spannungen gekommen um die Frage, ob das Konzil die Aussagen über die Gottesmutter in das Dokument über die Kirche integrieren oder in einem eigenen Dokument behandeln sollte. In der Formulierung MATRI ECCLESIAE ist in diesem Sinn die Widmung der künftigen Kirche ausgedrückt. Sie soll Maria, der Mutter der Kirche, geweiht sein. Auf eine zweite Weise kann aber diese grammatikalische Form auch in dem Sinn verstanden werden, dass von der „Mutter Kirche“ gesprochen ist. Damit ist die Kirche in ihren mütterlichen Zügen gemeint, die bereits von den Kirchenvätern mit den mütterlichen Zügen Marias in Beziehung gesetzt wurden und zusammengesehen werden können.

Züge des neuen Kirchenbildes

Griffsicher wertet Josef Kentenich die Auseinandersetzung um das Kirchenbild und die Konstitution über die Kirche als das Mittel- und Herzstück des soeben zuende gegangenen Konzils. Er ist sich sehr gewiss, dass die Kirche im Konzil ein neues Bild von sich gewonnen hat und dieses Bild sich durchaus unterscheidet vom früheren Erscheinungsbild und Selbstverständnis der Kirche. Er fasst den Unterschied in das Bild vom Fels, der nicht starr bleibt. Der Fels ist in Bewegung geraten. Der Fels ist zum pilgernden Felsen geworden. Auf einmal gewinnt auch das alte Bild vom Schiff wieder neue Aussagekraft. Die Kirche macht sich auf den Weg und wagt sich hinaus auf die hohe See. Josef Kentenich konstatiert dieses neue Erleben der Kirche. Er begrüßt es, dass die Kirche sich auf den Weg macht und im Konzil ein neues Selbstverständnis und eine neue Grundeinstellung gefunden hat.

In gewinnender Weise arbeitet er dann für seine Zuhörer die Züge der Kirche heraus, wie sie ihm in den Dokumenten des Konzils entgegentritt. Ganz aus dem Geist von Lumen Gentium beginnt er Züge der erneuerten Kirche zu skizzieren.

  • „Das ist eine Kirche, die auf der einen Seite tief innerlich beseelt traditionsgebunden ist, aber auf der anderen Seite ungemein frei, gelöst von erstarrten traditionsgebundenen Formen.“
  • „Das ist eine Kirche, die in überaus tiefgreifender Brüderlichkeit geeint, aber auch gleichzeitig hierarchisch, ja väterlich gelenkt und regiert wird.“
  • „Das ist eine Kirche, die die Sendung hat, die Seele der heutigen und der kommenden Kultur und Welt zu werden.“
  • Mit besonderer Liebe zeichnet er sodann das marianische Antlitz der Kirche. Die neue Kirche wird eine marianische Kirche sein. Maria ist „Muster und Mutter der Kirche“.
  • Später in einem Vortrag über das Kirchenbild nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil am 2. Februar 1966 ergänzt er die Charakterisierung der erneuerten Kirche. Es ist ihm wichtig, dass es „eine arme Kirche“ wird, „die mehr und mehr Abschied nimmt vom gebräuchlichen Pomp“ und eine „Freundin der Armen ist und nicht ständig beim Staate bettelt um Wohlwollen und Wohlgefallen“.
  • Eine Kirche, die sich nicht verlässt auf Reichtum und politische Macht, wird auf eine ganz neue Weise offen sein für das Wirken des Geistes. So zeichnet er „eine Kirche, die durch und durch vom Heiligen Geist regiert wird“.
  • Schließlich beschreibt er das Ideal einer „demütigen Kirche, die sich selber als schuldig bekennt und den Mut hat, um Verzeihung zu bitten“.

Diese Züge der erneuerten Kirche werden im Folgenden jeweils nach einer kurzen Hinführung des Herausgebers mit ausgewählten Texten Josef Kentenichs vorgestellt.

Aus:
Peter Wolf (Hrsg.)
Erneuerte Kirche in der Sicht Josef Kentenichs
Ausgewählte Texte
Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt
http://www.patris-verlag.de