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GRIGNIONS UND SCHÖNSTATTS MARIENGEHEIMNIS
Mit solchen Gedankengängen berühren wir schon die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Mariengeheimnis Grignions und Schönstatts.
Grignions Einfluß auf Schönstatt
Daß Grignion unsere Lehre vom Gnadenkapital, vom dreifachen Wert der guten Werke, vom verdienstlichen, fürbittenden und sühnenden Wert, und von deren Verschenkbarkeit beeinflußt hat, wurde bereits an anderer Stelle hervorgehoben(1). Gleichzeitig erhielt die Idee der Ganzhingabe durch seine Lehre von der »Vollkommenen Andacht« im Laufe der Jahre mannigfache Anregung. Weiter dürfte jedoch die Abhängigkeit von ihm nicht gehen.
Gleichheiten zwischen Grignion und Schönstatt
Wenn trotzdem in allen wesentlichen Punkten eine staunenswerte Gleichheit festzustellen ist, so kann zu /
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deren Erklärung und Begründung nur auf die Wirksamkeit desselben Heiligen Geistes hingewiesen werden, der uns durch das »Gesetz der geöffneten Tür« immer rechtzeitig die rechten Wege gewiesen hat.
Das gilt zunächst von der Stellung der Gortesmutter im Heilsplan. Schon die erste Gründungsurkunde malt ihr Bild so, wie Grignion sie sieht(2). Ein anschließender Vortragszyklus bemühte sich sorgfältig, das Amt der Gottesmutter im Gottesreich verständlich zu machen(3). Er kreiste um den Gedanken, daß die beliebten Darstellungen von Mutter und Kind nicht nur als historische Erinnerung, sondern auch und vornehmlich symbolhaft für das offiziell übertragene Amt der Christusgebärerin und Christuserzieherin anzusprechen sind.
Beide Gesichtspunkte finden in der Gründungsurkunde einen deutlichen Niederschlag. Wenn die Taborherrlichkeiten Mariens offenbar werden sollen(4), so ist damit vor allem die Herrlichkeit der großen christusgestaltenden Frau gemeint. Deshalb ist die Rede von »Wundern der Gnade(5)« im Reiche der Erziehung; deshalb wird /
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das Heiligtum »Wiege der Heiligkeit(6)« genannt. Wie stark die christusgestaltende Tätigkeit der Gottesmutter die Familiengeschichte, die Familiengeistigkeit und das Familiengebet geformt haben, ist bereits an anderer Stelle ausführlich dargestellt worden(7). Man besinne sich darauf. Deutlich malt die Gründungsurkunde die Bildungs- und Erziehungsaufgabe Mariens. So heißt es im Text:
»Dann werde ich mich gerne unter euch niederlassen und reichlich Gaben und Gnaden austeilen; dann will ich künftig von hier aus die jugendlichen Herzen an mich ziehen, sie erziehen zu brauchbaren Werkzeugen in meiner Hand(8).«
Die Vorgründungsurkunde(9) ist vom Anfang bis zum Ende auf Selbsterziehung eingestellt. Wohl wird darauf hingewiesen, daß die Gottesmutter diese Arbeit unter ihren Schutz nimmt. Die Eigentätigkeit steht jedoch sichtbar im Vordergrund, sie wird als die Hauptsache empfunden. Maria reicht im Hintergrund hilfreich die Hand. Das ist die Haltung von Oktober 1912. Sie hat sich im damals gehaltenen programmatischen Vortrag verewigt. Er stellt als Ideal auf: »Wir [[183]] wollen lernen, unter dem Schutze Mariens uns selbst zu erziehen zu festen, freien, priesterlichen Charakteren(10).«
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Persönliche Erlebnigse und Zeitverhältnisse – man denke an den Ausbruch des Ersten Weltkrieges(11) – hatten schon zwei Jahre später -die Fragwürdigkeit jeglicher Selbsterziehung zum Bewußtsein gebracht. Sie hatten die Sehnsucht nach tatkräftiger fremder Führung geweckt, die die Selbsterziehung in die Hand nehmen, ständig in Bewegung halten, ergänzen und zum höchsten Gipfel der Vollkommenheit emporgeleiten sollte.
Deshalb stellt die Gründungsurkunde die Gottesmutter als Erzieherin per eminentiam(12) überragend in den Vordergrund(13). Sie ist die große Werkmeisterin; wir sind nicht nur ihr Werk, sondern auch Werkzeuge in ihrer Hand. Sie bildet mit uns eine möglichst vollkommene Ziel-, Wirk- und Lebenseinheit. Das Ziel, das sie verfolgt, ist heroische Heiligkeit und verzehrender Apostelgeist, beides in stetiger vollkommener Abhängigkeit von ihr, von ihren Wünschen und von ihrer Gnadenhilfe. Auf hochgelagerten Apostelgeist weist der Werkzeugsgedanke hin. Es heißt ja: Ich will sie machen »zu brauchbaren Werkzeugen in meiner Hand(14).« Nach derselben Richtung deutet der Vergleich mit der streitbaren Jungfrau von Orleans(15). An heroische Heiligkeit gemahnt der Hinweis auf Sankt Aloisius und die Anregungen, die ihm im Heiligtum von Florenz geworden /
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sind(16). Darauf macht avch Gottes Wunsch durch die Zeitforderungen aufmerksam.
So spürt man überall denselben Geist, der Grignion geführt hat, ohne eine Abhängigkeit von seinen Ideengängen nachweisen zu können. Es ist eben derselbe Heilige Geist, der hüben und drüben wirksam ist. Er ist es auch, der in gleicher Weise Pallottis Marienbild geprägt hat. Wenn der Selige Maria den »großen Missionar« nennt, der Wunder wirkt(17), so will er damit dasselbe sagen, was die Gründungsurkunde meint, wenn sie von der großen Erzieherin spricht, die die jugendlichen Herzen an sich zieht und zu brauchbaren Werkzeugen in ihrer Hand erzieht; die Wunder der Gnade, das heißt Wunder der seelischen Wandlung, der seelischen Beheimatung und der seelischen Fruchtbarkeit wirkt. So versteht man, mit welchem Recht Schönstatt sich von Anfang an als marianische Erzieher- und Erziehungsbewegung aufgefaßt und gegeben hat.
Ein zweiter Gedanke inspiriert in gleicher Weise Grignion und Schönstatt. Das ist die Überzeugung, daß die Zeit gekommen ist, in der Gott seine Mutter in einzigartiger Weise verherrlichen will. Wie diese Idee sich in Grignions Lehre und Leben auswirkt, wissen wir.
In Schönstatt hat sie die konkrete Form angenommen: Die Gottesmutter hat Schönstatt auserwählt, um sich in /
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Schönstatt und durch Schönstatt weithin sichtbar ein einzigartiges Denkmal ihrer Macht, Weisheit und Güte zu setzen. So war es von Anfang an, so besonders seit dem 20. Januar 1942(18) und dem 20. Mai 1945(19). Deshalb in allen, auch den verzweifeltsten Lagen die unerschütterliche Ruhe und Zuversicht, auch dann, wenn die Wasser der Trübsal uns über dem Kopf zusammenschlagen wollten; deswegen das ständig wiederholte Merkwort »clarifica te(20)« oder »mater perfectam habebit curam(21)«; deshalb die großen Welteroberungspläne trotz ausgeprägtem Grenz- und Begrenztheitsbewußtsein; deshalb der kühne Wagemut, der an den kleinen David mit Schleuder und Kieselstein erinnert, der sich vermißt, mit dem Riesen Goliath zu kämpfen(22). Schleuder und Kieselsteine sind für uns heroisches Vertrauen auf unsere Bündnispartnerin und das ernste Bestreben, uns ihr ganz auszuliefern, uns von ihr formen und erziehen zu lassen, auch wenn wir dabei Todessprünge wagen müssen für Verstand, Wille und Herz. Die verflossenen Verfolgungsjahre durch den Nationalsozialismus liefern dafür einen anschaulichen Beweis.
[[184]] Damit ist bereits eine dritte Gleichheit angedeutet: die Ganzhingabe. Grignion nennt sie die »Vollkommene /
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Andacht zu Maria«. Wir sprechen von Blankovollmacht und Inscriptio und heben in konsequenter Deutung des Liebesbündnisses außerordentlich stark den Charakter der Gegenseitigkeit hervor. Darum die Formulierung: inscriptio perfecta, mutua, perpetua cordis in cor(23). Bei Grignion finden sich ähnliche Gedanken. Ob sie aber so zentriert formuliert und in alle Lebensbereiche hineingetragen sind wie bei uns, müßte erst nachgeprüft werden. Unsere Auffassung der Ganzhingabe ist teils originelles Gnadengeschenk von oben, teils bis zu einem gewissen Grade von der Marianischen Kongregation und von Grignion abhängig. Wir sind von ihrer Bedeutung so überzeugt, daß wir die Botschaft vom Liebesbündnis die Zentralbotschaft von Schönstatt nennen und nicht müde werden, sie nebst der Botschaft vom praktischen Vorsehungsglauben und der göttlichen Sendung zu leben und zu künden.
1. Vgl. oben, S. 82 ff.
2. Vgl. z. B. das Wort »Ego diligentes me diligo« (Spr 8, 17) in Abhandlung, Nr. 175 und 201 mit Schönstatt, Die Gründungsurkunden, 26.
3. Gemeint sind wohl die Maivorträge 1914 des Spirituals, in: F. Kastner, Unter dem Schutze Mariens, 226-254 (Auflage 1952: 181-204). Der Ausdruck »Das Amt der Gottesmutter im Gottesreiche« ist die Überschrift über einer Artikelserie von dem damaligen Schriftleiter der Präsides-Korrespondenz für Marianische Kongregationen, H. Heitger, in den Jahrgängen 1915, 52-58, 83-86, 112-116; 1916, 14-19, 45-50, 77-85; 1917, 15-21, 44-52, 77-82, 99-106; 1918, 11-17. Diese Artikelserie hat P. Kentenich mannigfache Anregungen gegeben.
4. Vgl. Schönstatt, Die Gründungsurkunden, 23.
5. Vgl. a.a.O., 24 und Abhandlung, Nr. 217.
6. Vgl. a.a.O., 25.
7. Vgl. z.B. Bd. I, S. 94-98; oben, S. 83 ff.
8. Schönstatt, Die Gründungsurkunden, 27.
9. Der mit »Programm!« überschriebene erste Vortrag des neuen Spirituals P. Kentenich im Studienheim Schönstatt vom 27. 10. 1912, in: a.a.O., 9-20.
10. A.a.O., 12.
11. Am 1. August 1914 erklärte das Deutsche Reich Rußland den Krieg und verordnete eine allgemeine Mobilmachung. Am 3. August erfolgte die Kriegserklärung an Frankreich und der Einmarsch deutsder Truppen in Belgien.
12. In hervorragender Weise.
13. A.a.O., 21-27.
14. A.a.O., 27.
15. A.a.O., 25 f.
16. A.a.O., 25.
17. »O wie viele Wunder wird Unsere Liebe Frau wirken! Seht da den großen Missionar!« Pallotti pflegte dies bei der Ausreise von Missionaren zu sagen. Vgl. J. Frank, Vinzenz Pallotti, 2. Bd., Friedberg 1962, 493.r~6s, 4~3-
18. An diesem Tag fiel für P. Kentenich die Entsmeidung, daß er ins KZ-Dachau kommen werde, da er von sich aus nichts für seine Freilassung tat: das Ringen der Seinen um innere Freiheit sollte der Lösepreis für seine äußere Freiheit werden.
19. Es war Pfingstsonntag, als P. Kentenich nach über dreijähriger »Schutzhaft« im Konzentrationslager Dachau nach Schönstatt heimkehrte.
20. Verherrliche dich!
21. Die Mutter wird in vollendeter Weise sorgen. Vgl. Bd. I, S. 175.
22. Vgl. 1 Sam 17.
23. Vollkommene, gegenseitige, dauernde Herzensverschreibung.
Aus: Das Lebensgeheimnis Schönstatts. II. Teil: Bündnisfrömmigkeit, Vallendar-Schönstatt 1972, 278 S. – www.patris-verlag.de
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