Ein bedeutsamer Unterschied besteht jedoch zwischen dem Mariengeheimnis in der Auffassung Grignions und Schönstatts. Schönstatt beruft sich auf ein historisches Ereignis, auf ein konkretes Liebesbündnis der Dreimal Wunderbaren Mutter und Königin mit Schönstatt(24), das heißt mit dem Heiligtum in Schönstatt und mit allen Schönstattkindern beiderlei Geschlechtes, die dieses Heiligtum zu ihrem Lieblingsplatz, zu ihrer Heimat erwählen. Es ist überzeugt von einem Einbruch des /
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Göttlichen in seine Familiengeschichte. Deswegen sprechen wir von einer moralischen lokalen Gebundenheit der Gottesmutter, des Mariengeheimnisses und der Mariensendung. Unsere Beiträge zum Gnadenkapital schenken wir nicht schlechthin, wie Grignion das tut, der Gottesmutter, sondern der Dreimal Wunderbaren Mutter und Königin von Schönstatt in ihrem Heiligtum, damit sie von da aus eine große Erziehungs- und Erneuerungsbewegung ins Leben ruft, lenkt und fruchtbar macht. In derselben Absicht schenken wir uns ihr am gleichen Ort durch Blankovollmacht und Inscriptio ganz und ungeteilt. Dadurch bekommt das »totum pro toto(25)« einen neuen Inhalt, eine ganz konkrete Form.
Von hier aus wird verständlich, weshalb wir an der lokalen Verwurzelung und Zentrierung der ganzen Bewegung in allen Stadien der Familiengeschichte trotz großer Hindernisse unentwegt festgehalten und sie nach allen Richtungen sorgfältig ausgebaut haben. Der letzte und tiefste Grund dafür ist und bleibt die gläubige Überzeugung, daß es so »im Plane« steht.
Solche theologische Einstellung wurde und wird durch psychologische Gesetzmäßigkeiten und vergleichende Religionsgeschichte weitestgehend geschützt und gestützt. Die psychologischen Gesetze, die hier in Frage kommen, sind das Gesetz der ökonomischen Verwertung der Kräfte und das Gesetz der lokalen und personalen ausgezeichneten Fälle. Alle Religionen scheinen diese Gesetze zu kennen und zu verwirklichen; deshalb sorgen sie für Orte, an denen ideale Menschen und /
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Menschengruppen eine warme Atmosphäre ausatmen, die Außenstehende mit unwiderstehlicher Macht anzieht und nach oben reißt. Was für Ausbau und Beseelung solcher Orte getan wird, kommt der ganzen Umgebung zugute. So läßt sich mit verhältnismäßig wenig Kräften auf die Dauer nachhaltige und weitreichende Wirkung erzielen. Dann spricht man vom Gesetz der ökonomischen Verwertung der Kräfte.
Um Anschauungsmaterial sind wir nicht verlegen. Man denke etwa an Mekka oder an den Berg Athos, die weit bekannte, ideal eingerichtete und regierte Mönchsstadt; man erinnere sich an die Erneuerungsbewegung der Cluniazenser, die um reformierte benediktinische Klöster kreiste und in kurzer Zeit Wesentliches zur Erneuerung des Abendlandes beitrug. Damit griff sie einen Lieblingsgedanken des heiligen Benedikt auf, der die stabilitas loci et personae(26) seiner Mönche zum Ausgangs- und Mittelpunkt seiner Erneuerungspläne machte. Deshalb auch die Originalität [[185]] benediktinischer Missionsarbeit, die sich überall, wo sie rassenrein geblieben ist, um ideal geordnete Kulturzentren bemühte, von denen aus der Geist echten Christentums die ganze Umgebung durchdrang und durchtränkte. Von demselben Gedanken ausgehend, sorgte der Nationalsozialismus für Einrichtung der »braunen Häuser« und Ordensburgen.
Wer Zielklarheit und Zielstrebigkeit unserer Familie kennt, wundert sich nicht über die Konsequenz, mit der sie die Folgerung aus den dargestellten Prinzipien gezogen hat. Nach dem Ersten Weltkrieg wollte man /
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die Zentrale von Schönstatt nach Ehrnbreitstein oder Olpe verlegen. So verlockend das Angebot auch war – rein natürlich kalkuliert, hätte es uns viele Vorteile gebracht -, wir verzichteten darauf. Der Grund war rein übernatürlich. Es war die gläubige Überzeugung, daß die Gottesmutter das schlichte Heiligtum im Tal als Ort ihrer besonderen Wirksamkeit – nicht einen anderen, wenn auch günstigeren Platz – gewählt und als Zentrale für ihre Erneuerungs- und Erziehungsbewegung auserlesen hat. Aus solcher Überzeugung heraus haben wir auch in späteren Jahren alle Versuche einer Umsiedlung abgewiesen. Wenn Gott so deutlich gesprochen hat, wie es tatsächlich in Schönstatt geschehen ist, so darf Menschenweisheit Gottes Planung nicht korrigieren wollen.
Aus solch übernatürlicher Einstellung erhellt, weshalb in der Familie der höchste Heroismus geweckt wurde, als der Nationalsozialismus seine Kampfesfront in die nächste Nähe des Heiligtums verlegte und den Lieblingsort der Gottesmutter bedrohte. Sofort bildeten sich Linien von Wachtposten, die bereit waren, mit Leib und Leben »den Schatz in Schönstatts Friedensau(27)« zu schützen. Der Kapellchenakt(28), in dem diese Haltung symbolhaft am stärksten zum Ausdruck kommt, hält die Erinnerung an diese heroische Zeit unserer Geschichte fest. Daß der Ort,
»wo unsere Dreimal Wunderbare Frau
im Kreise ihrer Lieblingskinder thront
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und alle Liebesgaben treulich lohnt
mit Offenbarung ihrer Herrlichkeit
und endlos, endlos reicher Fruchtbarkeit(29)«,
im Kriegsgewirre unter Bomben und Granaten einen besonderen Schutz erfahren durfte, nimmt niemanden wunder. So war es 1944, als ein viermotoriger Bomber kampfesunfähig in nächster Nähe niederging und Bundesheim und Heiligtum in seiner Existenz bedrohte(30). So war es auch im März 1945, als die Amerikaner siegreich dureh unser Tal zogen und Granate um Granate platzte. Schönstatt ist inmitten gräßlicher Verwüstungen in den Nachbargegenden, auch rein äußerlich, ein Paradiesesland geblieben(31).
Es war ein bedeutungsvoller Akt, als am 20. Mai 1945 Schönstatt, das als Staatsfeind Nummer eins(32) harte Verfolgung erdulden durfte, allüberall aus den Katakomben zum Licht emporstieg und der Gottesmutter im Heiligtum den Dank für gnädige Führung in schwerster Zeit /
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abstattete und sich erneut mit Herz und Hand als Eliteregiment im Kampf mit dem Todfeind des Christentums um die Mater Ter Admirabilis und den Turm Davids(33) scharte(34). Elitegemeinschaft um Elitegemeinschaft errichtete an Ort und Stelle ihr Mutterhaus. Die sinngemäß verwirklichte Idee vom Idealstaat, vom Berge Athos, nahm so mehr und mehr Gestalt und Form an.
Filialheiligtümer entstanden in überseeischen Ländern, teils als Zentral-, teils als Nebenheiligtümer. Dadurch wurde der Weg vorbereitet für Internationalisierung Schönstatts. Das Ärgernis, daß Schönstatt in Deutschland liegt, war damit im Kerne beseitigt. Überall, wo solche Heiligtümer entstanden, in Uruguay, Brasilien, Chile, Süd-Afrika, Argentinien, Australien und den Vereinigten Staaten, brach derselbe Gnadenstrom urgewaltig auf, wie er seit dem 20. Januar 1942 und seinem Umkreis aus Ur-Schönstatt hervorquillt(35). Jedes Land erstrebt zunächst ein gemeinsames Zentralheiligtum, das bis in Einzelheiten Ur-Schönstatt mit ständigem Anbetungskreis, mit Einsiedeleien, mit Schulungshäusern und Hochschule nachbildet. Die Nebenheiligtümer [[186]] wollen in ihrer Art lokale Verwurzelung erreichen und dadurch gnadenhafte Mittelpunkte der Schönstätter Ideen-, Lebens- und Gnadenbewegung sein. Sie gehen aber in der Nachgestaltung der einzelnen Einrichtungen nicht so weit wie die Zentralheiligtümer.
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So wird das Urheiligtum in weitester Welt wie mit einem Kranz fliegender Inseln oder Festungen umgeben, die alle Stützpunkte und Lebensquelle der Schönstätter Erneuerungsbewegung sind, ohne deswegen die Abhängigkeit von der Hierarchie zu lösen und die Fühlung mit ihr zu lockern. Urheiligtum und Zentralheiligtümer sind von einer dreifachen Kette von Wächtern geschützt. Die erste Kette sind die Anbetungsschwestern, die zweite die Ausschüsse und Leiter der Elitegliederungen, die dritte die Wallfahrtsbewegung, deren Träger sich um einen Schönstatt-Winkel im Wohnzimmer bemühen. Wo die Wächter fehlen, zieht die Gottesmutter sich mit der Zeit zurück; das hat die bisherige Geschichte bewiesen; so verlangt es auch die Grünaungsurkunde, die die Beiträge zum Gnadenkapital oder das Ernstmachen mit dem Liebesbündnis Vorbedingung für die Tätigkeit der Dreimal Wunderbaren Mutter und Königin nennt(36). Bisher hat die Gottesmutter an allen Orten, wo sie Wächter gefunden, sich als die große Volks- und Völkererzieherin erwiesen. Sie hat scheinbar Unmögliches möglich gemacht; sie hat sich tatsächlich als die große Missionarin, als die große Erzieherin bewährt, die mit Gnadenwundern nicht gespart hat.
Das Wort »Schönstatt« hat infolgedessen einen hellen Klang in der Welt bekommen, auch dort, wo etwa wegen romanischer Zunge die vielen Konsonanten nur schwer ausgesprochen werden können. Die Zentralheiligtümer haben in allen Weltteilen den Namen »Neu-Schönstatt«; dabei wird das Wort »Neu« in die Landessprache übersetzt. Die Glieder der Bewegung nennen sich Schönstätter. Man spricht von Schönstattpriestern und /
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-patres, Schönstattschwestern. Schönstattfrauen. Der Ausdruck »Schönstattmensch« bezeichnet einen eigenen Typ Mensch, der das Heiligtum in Schönstatt als Heimat anerkennt und bestimmte Eigenschaften in seinem Charakter ausprägt.
Bei solch gläubig erfaßter Bedeutung unserer Heiligtümer dürfte es nicht verwunderlich erscheinen, daß es Kreise gibt, die nicht damit zufrieden sind, ihre Nachbildung in Rom und Washington vorzubereiten; ihre Pläne sind weiter gespannt: sie spekulieren gleichzeitig auf Moskau. Daß sich dafür vorläufig noch kein gangbarer Weg öffnet, verschlägt nichts. Wer hätte sich 1945 ein Schönstätter Weltbild gemalt, wie wir es heute bereits verwirklicht vor uns sehen? Wenn ein Filialheiligtum in Moskau »im Plane« steht – und es scheint so zu sein -, dann wird es früher oder später dort erstehen, allen Schwierigkeiten zum Trotz.
Von lokaler Gebundenheit haben wir schon oft gesprochen. Weil es sich jedoch um die spezifische Originalität unseres Liebesbündnisses, um das Kernstück unseres Schönstätter Mariengeheimnisses handelt, wollen wir die Gelegenheit benutzen, zur Vertiefung unseres Wissens und Liebens drei Gedanken beizufügen. Der erste hebt nochmals die Quelle hervor, aus der das Schönstätter Mariengeheimnis schöpft; der zweite beschäftigt sich mit der Voraussetzung für das Fließen, der dritte mit den Wirkungen dieser Quelle.
24. Gemeint ist das Ereignis vom 18. 10. 1914 im alten Michaelskapellchen zu Schönstatt, interpretiert durch die »Gründungsurkunde«.
25. Alles für alles.
26. Orts- und Verbandsbeständigkeit.
27. Himmelwärts, 34.
28. Der Akt des Indivisa-Kurses der Marienschwestern vom 31. 5. 1939, bei dem die Schwestern nachts einen Ring um das Heiligtum und P. Kentenich bildeten, um symbolhaft ihren äußersten Einsatz für das Schönstattwerk zum Ausdruck zu bringen.
29. Himmelwärts, 158.
30. P. Kress, der damals in Schönstatt weilte, erzählt darüber: »Im Mai 1944 war es wohl, da stürzte ein dreimotoriger Bomber ab. Ich fürchtete schon, er stürze aufs Bundesheim. Da zog er nochmals eine Schleife und landete mit heftigem Aufprall auf dem Gelände über dem Steinbruch … Zwei Stunden lang knallte die explodierende Bordmunition im brennenden Flugzeug. In den Trümmern fand man später einen Rosenkranz.«
31. Vgl. dazu den Beitrag von Vikar Kaiser in: Regnum, 5. Jg. (1970), 69-71. Der Tag, an dem die Amerikaner Schönstatt erreichten, war der 25. März, nachdem sie am 7. März in Remagen den Rhein überquert hanen. Das Gebet »Halt das Zepter in der Hand« hat P. Kentenich als Novenengebet auf diesen Tag hin verfaßt (Himmelwärts, 130 f).
32. So wurde, wie P. Kentenich erfahren hat, wohl im Reichssicherheitshauptamt in Berlin über Schönstatt geurteilt – mit dem Entscheid, es mit Stumpf und Stil auszurotten.
33. Titel Mariens aus der Lauretanischen Litanei. Vgl. Hl 4,4.
34. Vgl. J. Fischer, Heimkehr 1945,in: Regnum, 5. Jg. (1970), 68-81.
35. Die ersten Filialheiligtümer entstanden in Nueva Helvecia/Uruguay 1943, in Santa Maria/Rio Grande do Sul 1948, in Bellavista/Chile 1949, in Cathcart/Südafrika 1949, in Florencio Varela/Argentinien 1952, in Kew/Australien 1952, in Madison/Wis 1952.
36. Vgl. Schönstatt, Die Gründungsurkunden, 27.
Aus: Das Lebensgeheimnis Schönstatts. II. Teil: Bündnisfrömmigkeit, Vallendar-Schönstatt 1972, 278 S. – www.patris-verlag.de
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