[190]
Das ist die Geschichte des 31. Mai im Zusammenhang mit dem 20. Beide Tage gehören historisch zusammen. Deshalb habe ich sie in der Darstellung miteinander verbunden. Der 20. ist die notwendige Voraussetzung und Vorbereitung für den 31. Ohne Einweihung des Filialheiligtums wäre die folgende Feier mit ihrem tiefen Inhalt nicht möglich geworden.
In unserem Zusammenhang erhebt sich nach dieser Aufklärung und Klärung abermals die bereits gestellte Kernfrage: Entspricht das geschilderte Ereignis tatsächlich einer göttlichen Planung? Hat Gott wirklich die angedeutete Tür geöffnet, oder war es nicht doch menschliche Vermessenheit, die [[74]] sie aufgestoßen hat? Sind nicht letzten Endes doch krankhafte Wunschträume mit Gottes Absichten in tragischer Weise verwechselt, verkleidet und verwirklicht worden? Muß da nicht früher oder später das Gebäude zusammenbrechen, auch wenn es äußerlich noch so kunstvoll aufgebaut wäre? Oder: Muß man nicht nach wie vor wenigstens von einer bedauerlichen Fehldeutung, von einem folgenschweren Fehlgriff sprechen? Und wiederum: Steckt nicht Einbildung, Stolz, irregeleiteter Geltungs- und Größendrang dahinter? Endlich: Muß man nicht sogar von Größenwahn reden? Der Vergleich mit Tagesgötzen, die heute wie ein Meteor aufsteigen und morgen jäh vom Himmel in die Tiefe fallen, liegt nahe, man denke etwa an Hitler und seinesgleichen.
Ich nehme diese Denkweise, diese aufsteigenden Zweifel und Vermutungen niemand übel – genauso, wie ich niemand verargt hätte, wenn er sich 1914 nach der ersten, 1939 nach der zweiten, 1944 nach der dritten Gründungsurkunde so eingestellt und gesprochen hätte. Der /
[191]
Abstand von 1949 bis heute ist zu kurz, um sich aus der geschichtlichen Entwicklung eine überzeugende Antwort geben zu lassen. So müssen wir denn das Endurteil der Geschichte noch abwarten.
Manche werden allerdings jetzt schon sagen: Alles, was in Schönstatt geworden, ist nach derselben Gesetzmäßigkeit der »geöffneten Tür« entstanden und hat sich im wesentlichen später als Gottes Planung ausgewiesen, auch wenn es jahrelang abgelehnt, verurteilt und verdammt wurde. Füglich haben wir Grund genug, auch dieses Mal einen richtigen Griff eines anerkannten übernatürlichen Spürsinns anzunehmen, bis das Gegenteil einwandfrei feststeht. Die aufbrechende Gegenaktion, die die höchsten kirchlichen Stellen beschäftigt, ist kein schlagender, kein zwingender Gegenbeweis. Sie könnte auch – so wie die Geschichte verwandter Bewegungen zeigt – als Argument für die Tragweite des Aktes aufgefaßt werden. Sie könnte nach Gottes Absicht den Zweck haben, weiteste Kreise bis in die höchsten Spitzen auf Schönstatt deutlich hinzuweisen, allseits läuternd und klärend zu wirken und den langen Weg zum Ziel im Interesse bevorstehender Katastrophen abzukürzen.
Pater Wimmer war der Meinung: erst müsse Schönstatt von den menschlichen Trägern kirchlicher Autorität gekreuzigt werden – genauso, wie es vorher die politische Macht getan hat -, dann könne es seinen Segenslauf in großem Ausmaße beginnen und Welt und Kirche die Dienste leisten, wie sie in Gottes Plan von Ewigkeit hineingeschrieben sind. Wer wagt mit Sicherheit das Gegenteil zu behaupten? Pater General(18) ist der Überzeugung, /
[192]
durch die Visitation seien wir in der Entwicklung in kürzester Frist zwanzig Jahre vorwärts gekommen. Mich dünkt die Schätzung zu niedrig gegriffen; ich möchte zwanzig mit fünf multiplizieren. Freilich denke ich dabei nicht zunächst an das Organisationsnetz, ohne deshalb die Bedeutung des zu erwartenden Fortschrittes nach dieser Richtung verkleinern zu wollen. (…)
Größeren Segen erwarte ich nach einer doppelten anderen Richtung. Ich denke vor allem an die Geschlossenheit von Gesellschaft(19) und Bewegung, an den Ellipse-Charakter von beiden, an ihr Kreisen um Schönstatt und Pallotti. Pallotti ist bereits gemeinsam anerkannter Mittelpunkt. Das ist aber noch nicht der Fall, wo es sich um Schönstatt – genauer, wo es sich um unser Heiligtum handelt.
1939 war das äußere Mauerwerk unseres Kapell- [[75]] chens bedroht. Wie ein Wall stand damals im Nu eine opferfreudige Kapellchenwacht zum Schutze da(20). Heute will man es aus unseren Herzen herausreißen – und das ist gefährlicher und folgenschwerer. Man will uns kraftlos machen, wie man es ehedem mit Samson getan, indem man ihm das wallende Haar im Schlafe abgeschnitten hat(21). So sollen wir unserer Kraft- und Lebensquelle beraubt werden, wir sollen die Garantie für unsere durch und durch übernatürliche Einstellung über Nacht verlieren.
[193]
Die Kapellchenwächter von ehedem sind bereits zur Stelle, um es mit Leib und Leben, mit Hilfe von Inscriptio und Engling-Akt zu verteidigen. Ihre Zahl reicht nicht aus. Die Gottesmutter will alle ohne Ausnahme in einer gemeinsamen Kampfesfront vereinigt wissen. Damals schied das Ausland zum Teil aus; heute ist es mit aufgerufen. Und es meldet sich wenigstens in Süd- und Nordamerika bereits freudig zur Stelle. Weder hüben noch drüben darf ein Glied fehlen, sonst ist die Kette nicht geschlossen, und sie kann durchbrochen werden. Das gilt vornehmlich für Verbände und Bünde, an erster Stelle für die Pallottiner. Folgen diese der unmißverständlichen Einladung und Aufforderung, so schließen sich ihre Reihen, sie schweißen sich zu einem undurchdringlichen Block zusammen. Es wird ihnen leicht, das richtige Verhältnis zu den Verbänden und Bünden zu finden. Der Sinn der Seligsprechung Pallottis wird verwirklicht: Gesellschaff und Bewegung nehmen den gottgewollten Ort im Organismus der Kirche ein(22). Verstehen die Pallottiner den Ruf Gottes, beantworten sie ihn in der rechten Weise, so dürfte das zweite Jahrhundert ihrer Geschichte mit großen Erwartungen beginnen. Die Gründung der Gesellschaff ist ja abgeschlossen. Sie kann ihren Weg laufen wie ein Riese, wenn – ja wenn.
Allem Anscheine nach rüstet man sich allenthalben, im In- und Ausland, die gestellte Bedingung zu erfüllen. Möge der Prozeß bald einen krönenden Abschluß finden! Möge das Heiligtum überall, wo Pallottiner sind, Pallotti bergen und mit ihm eine heilige Zweieinheit bilden! Gesegnet dürfte dann der Akt sein, der sich so /
[194]
fruchtbar erwiesen hat. Ich weiß nicht, ob wir je ein besseres Mittel gefunden hätten, um dieses heißersehnte Ziel zu erreichen.
Ob nicht noch eine weitere Segensfrucht zu erwarten ist? Ich denke an den besprochenen bedauerlichen Krankheitsbazillus, an die mechanistisch und idealistisch eingestellte Geistigkeit. Heute mag man meine Auffassung noch als fixe Idee abtun, man mag sie bagatellisieren und lächerlich machen. Sind die Wasser der Erregung aber einmal abgelaufen, vergewaltigt das verletzte Gefühl nicht mehr so stark Verstand und Willen, so dürfte ruhigere Überlegung mindestens die Tragweite des Problems erfassen und bereit sein, sich – ohne unbillige Verketzerung nach irgendeiner Seite – damit auseinanderzusetzen. Bis zur vollendeten Klärung ist allerdings noch ein weiter Weg. Es dauert lange, bis Botschaften dieser Art an die Zeit verstanden und richtig beantwortet werden. Die geistige Entwicklung in der ganzen Welt wird das ihrige zur Beschleunigung beitragen. Das Zusammenbrechen zahlreicher Versuche, den heutigen Menschen für Gott aufgeschlossen zu machen, wird früher oder später unser bester Anwalt.
Jetzt schon darf man behaupten – ohne der Übertreibung, der Unbilligkeit oder der Ungerechtigkeit im Urteil geziehen zu werden -, daß sich alle Experimente, die sich im Sinne der Unionsbewegung der mechanistischen und der idealistischen Denkweise anzupassen versuchten, als Fehlspekulation erwiesen haben. Umgekehrt stellt sich mehr und mehr heraus, daß nicht wenige seelisch Erkrankte – und deren Zahl ist heute Legion – den Beichtstuhl mit dem Sprechzimmer des Psychotherapeuten vertauschen, weil wir Priester innerseelische Zusam- /
[195]
menhänge, vornehmlich solche des unter- und vorbewußten See- [[76]] lenlebens, nicht mehr verstehen, genauer gesagt, weil wir nicht mehr gesund organisch denken können.
Möge bald die Zeit kommen, da unsere Hochschule sich in den Dienst der hier gezeichneten Aufgabe stellt. Im Mittelalter haben sich ganze Universitäten für erkannte und anerkannte geistige Ziele und Aufgaben eingesetzt und so ihre Zeitsendung im Sinne gesunder Verbindung zwischen Wissenschaft und Leben legitimiert. Warum sollte das bei uns nicht auch sein können? Es dürfte kaum etwas geben, was unseren Lehrkörper so eng zusammenschließt und für echte Wissenschaft und ihren Dienst am Leben wach macht und wach hält.
(……)
Saubere Wissenschaft ist eine saure Arbeit. Sie darf nicht von heute auf morgen mit Erfolg und Anerkennung rechnen. Am besten gedeiht sie wie alles, was Gott und Seele zum Gegenstand hat, unter dem Kreuze neben der Mater dolorosa(23). Deutet sie dort das Wort des Herrn richtig – »ecce mater tua(24)« -, ahmt sie das Beispiel des heiligen Johannes nach, von dem es heißt: »et accepit eam discipulus ex eo in sua(25)«, so darf sie einen vielfältigen Kreuzes- und Mariensegen erwarten: einen Segen für sich, einen Segen für den Träger und einen Segen für Welt und Kirche. Das gilt besonders für uns, die wir eine ausgesprochen marianische Sendung haben – /
[196]
wir haben sie von Schönstatt aus, wir haben sie von Pallotti her – und unsere Aufgabe darin erblicken, der Bewegung gerade nach der Richtung zu dienen. Solche Verantwortung mag die Hochschule seinerzeit veranlaßt haben, die Verkündigungsszene als Leitbild zu wählen(26).
Sie hat sich in die Fiat-Haltung der Gebenedeiten unter den Weibern verliebt. Sie weiß, daß solche Haltung von psychologischer Ganzheitsschau aus betrachtet eine eindeutig organische Denkweise voraussetzt. Sie weiß aber auch, daß weder sie noeh die Bewegung der gemeinsamen marianischen Sendung genügend Rechnung tragen kann, wenn das mechanistische und idealistische Denken nicht in weiten Kreisen überwunden wird. So wird jede Art [[77]] ernsten wissenschaftlichen Bemühens ein Akt tiefer, inniger Marienliebe und eine wirksame Antwort auf die früher getätigte Weihe an die Dreimal Wunderbare Mutter und Königin von Schönstatt.
Sie spüren aus allem heraus, mit welch frohem Optimismus ich die Situation beurteile. Ob ich mich dabei nicht täusche? Könnte es nicht auch anders sein? Sie mögen recht haben. Es bleibt jedem frei, sich zu entscheiden, wie es ihn richtig dünkt. Wer die Wahl hat, hat die Qual. Eines jedoch dürfte auf jeden Fall feststehen: Die Auseinandersetzung ist nicht so leichtsinnig vom Zaune gebrochen, wie es da und dort vermutet und hingestellt wird. Sollte die oben getätigte kurze Darstellung des Aktes nicht zum Beweise genügen, so möge man sich mit seiner Vor- und Nachgeschichte beschäftigen.
18. P. Turowski.
19. Gesellschaft der Pallottiner.
20. Der Indivisa-Kurs der Marienschwestern umstellte in der Nacht des 31. 5. 1939 das Heiligtum in Schönstatt, um symbolhaft ihren äußersten Einsatz für das Schönstattwerk zum Ausdruck zu bringen.
21. Vgl. Ri 16,19.
22. Vgl. die Ansprache P. Kentenichs vom 23.1.1950 in Rom.
23. Die Schmerzensmutter.
24. Siehe da deine Mutter (Jo 19,27).
25. Und der Jünger nahm sie von dieser Stunde an zu sich (Jo 19,27).
26. Vgl. H.M. Köster, Annuntiatio Mariae, Gedanken um ein Bild, eine Gemeinschaft und eine Zukunft, Limburg 1947.
Aus: Joseph Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form, Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S. – www.Patris-Verlag.de
blaue links führen zur Seite,
grüne Links führen zum Lexikon