MyPK 09 Was ist Mystik? I

MyPK 09 Was ist Mystik? I

Aus: Patres-Exerzitien 1966. – In: An seine Pars Motrix, Band 5,165-179

Wir brauchen uns etwa nur daran zu erinnern, was wir aus der Geschichte der Philossphie wissen und vom philossphischen Idealismus, brauchen uns nur daran zu erinnern, wenigstens die Älteren von uns, was früher immer im Vordergrund der Erziehung stand: das war halt der gelehrte Kopf, das war halt das Wissen. Was aber im Hintergrunde blieb, was wir auch heute immer wieder wahrnehmen, wenn wir einmal tiefer hineinschauen in die religiöse Erziehung in dem konfessionellen Schulwesen, müssen wir immer wieder konstatieren: Gewiß, (der) Kopf mag mancherlei wissen, aber das Herz ist nicht verwurzelt, nicht hineingewurzelt in das Göttliche, hinein in das Ewige. Deswegen die Tatsache, daß nunmehr der Zug zum religiösen Erlebnis das Notwendigste zu sein scheint, was der liebe Gott heute als Gegengewicht von uns erwartet und verlangt.

[166]Ich muß noch eine zweite Bemerkung vorausschicken. Wenn heute wiederum geredet wird von einer großen Ideologie, also ideologisches Denken und Handeln, dann heißt das nicht, wie das so in unserem Munde klingt und zu deuten ist: idea exemplaris in mente divina existens, (sondern) dann heißt das heute, so im Sinne etwa des Bolschewismus und der modernen, modernsten Strömungen: hier geht es um willkürlich konstruierte Ideen. Willkürlich konstruierte Ideen, so meint man dann, auf der Gegenseite konstatieren zu dürfen, ist das tägliche Brot der Diktatoren. Ohne an die Seinsordnung sich zu halten, konstruieren die ein Ideengebäude und zwingen dann die Menschheit hinein in dieses Joch. Mehr, meine ich, sollte ich zu diesen Dingen für den Augenblick nicht sagen, viel lieber bei einer anderen inneren Wertung, einem anderen inneren Lebensvorgange stehenbleiben.

Es ist schon wahr, unsere religiöse Erziehung, die hat sich wohl zu einseitig auf das ethische Training eingestellt und ist zu wenig hineingestiegen in die tieferen Zusammenhänge des religiösen Lebens. Lassen Sie mich einmal einen Satz prägen, der leicht mißverstanden worden ist: Unterschätzung der Mystik. Dann müssen Sie mich aber nicht falsch verstehen. Ich meine jetzt nicht Mystik, also das innere Ergriffensein von Gott; ich meine jetzt also nicht die Beschauungsgnade mitsamt den Begleiterscheinungen, den Begleiterscheinungen der Visionen und dergleichen mehr. Das ist beileibe nicht gemeint. Derartige Dinge können sehr trügerisch sein. Gemeint ist tatsächlich die Beschauungsgnade, aber im engen Sinne des Wortes. (1) Nicht also eine Beschauung, wie sie ja auch von Ignatius gelehrt (worden) ist das ist eine erworbene Beschauung, daß man sich daran gewöhnt, Dinge so häufig anzuschauen, bis sie sich einprägen , nein, hier ist wirklich die Beschauungsgnade ge [167]meint. Verstehen Sie bitte, weshalb in der „Werktagsheiligkeit“ (2) bei Gelegenheit das Wort steht, unsere Familie brauchte ein doppeltes besonderes göttliches Geschenk: das ist auf der einen Seite das donum regiminis, also die Kunst, die Regierungskunst, und auf der anderen Seite die Gnade der Beschauung. Und „Himmelwärts“ (3) macht darauf aufmerksam, daß wir beten dürften und sollten, daß ein nicht geringer Teil unserer Familie die Gnade der Beschauung erhält.

Was man nun unter Beschauungsgnade versteht? Der heilige Bonaventura hat sie so definiert (die) Definition wird aber sehr häufig eine ganze Anzahl von Ebenen heruntergezogen; gemeint ist hier : „cognitio dei experimentalis“. (Da) haben Sie schon den Ausdruck: Experimentiersucht. Cognitio dei experimentalis was heißt das? Gotteserlebnisse, Innewerden Gottes; das Innewerden Gottes, göttliche Erlebnisse haben, Gott erleben. Also nicht nur Gott erkennen. Gotterlebnisse also bis hinein in das unterbewußte Seelenleben.

Was das alles in sich schließt? Wie (wirkt) an sich das göttliche Licht, das an sich nicht erworbene göttliche Licht (erworben) etwa durch die gewöhnlichen aszetischen Übungen und Forderungen , sondern das eingegossene göttliche Licht, wie und was das alles wirkt in der Seele?

Es ist wohl im wesentlichen ein Doppeltes.

Zunächst wird dieses Licht bezeichnet als ein überaus reinigendes Licht; dann aber auf der andern Seite als ein beglückendes, die ganze Seele durchdringendes Licht. Es sind also zwei Funktionen, die dieses Licht in der Seele vollzieht, die offensichtlich eine tiefgreifende, umfassende Wandlung in sich schließt. Eine Wandlung. Auf der [168] einen Seite also Lösung von uns selber, auf der anderen Seite ein beglückendes Hineingezogensein, und zwar (ein) erlebnismäßiges, hinein in das Leben Gottes. Ein überaus großes Geschenk.

Verstehen Sie also: Wenn wir diese cognitio dei experimentalis eingegsssen bekämen vom lieben Gott, dann hätten wir ja die Antwort auf den Erlebnishunger des heutigen Menschen.

Natürlich ist es die Frage: Ist das denn nicht zu hoch gegriffen, wenn wir die Hand nach einer solchen Gnade ausstrecken?

Sie mögen sich daran erinnern, wie die Auffassungen über die Beschauungsgnade, auch bei den Theoretikern, sehr unterschiedlich sind.

Zunächst sei darauf aufmerksam gemacht, daß an sich die Aszetik der letzten fünfzig Jahre sich verzweifelt wenig um diese Dinge gekümmert hat. Wann haben wir so unter normalen Verhältnissen uns darüber einmal orientieren können? Und wo und wann ist die öffentliche Meinung in Elitekreisen nach der Richtung positiv gewesen? Es ist immer so: „Utamur haereticis…“ Das ist eben das große Gesetz der Gegensätzlichkeit. Wir sollen halt immer wieder geistige Strömungen, die die Zeit durchzittern, immer wieder neu überprüfen und fragen, was der liebe Gott dadurch will.

Wenn also im alltäglichen Leben heute alles auf Erlebnis eingestellt ist, auf greifbare, faßbare Erlebnisse, müßten wir dann nicht wiederum erneut sagen: Um all diesen Bestrebungen und Strömungen den Wind aus den Segeln zu nehmen, hängt alles davon ab, daß auch wir uns bemühen um tiefere religiöses Erlebnisse im eigenen Leben, im Leben er Familie und im Leben auch der ganzen Bewegung?

Ich darf Sie erinnern an die bereits bekannten Auffassungen im Raume der Theoretiker. Es gibt eine ganze Menge Theoretiker, zumal im Orden der Dominikaner, die [169] meinen, die Gnade der Beschauung, das wäre der normale Gipfelpunkt des religiösen Lebens schlechthin. Danach würde also allen etwas fehlen an der Ganzheit des religiösen Lebens, wenn ihnen die Gnade der Beschauung nicht geschenkt würde. Wo dann der Grund läge? Offensichtlich an dem persönlichen Versagen, offensichtlich dann darinnen, daß wir als Menschen, als Priester, nicht ernst und tief genug gestrebt hätten in die transformatio in deum, transformatio in Christus hinein.

Sie können sich natürlich vorstellen, daß auf einem solchen heiklen Gebiete, auf dem so viele Täuschungen möglich sind, eine ganze Menge auch entgegengesetzter Auffassungen möglich sind. Sehen Sie deswegen . Und das sind ja wohl am meisten, wenigstens wenn wir typisieren, klassifizieren wollen, die Jesuiten, die auf dem entgegengesetzten Boden stehen. Die sind der Meinung: (Die) Gnade der Beschauung kann ein Sondergeschenk sein vom lieben Gott; aber das wird nicht verlangt. Ich kann genauso heilig sein, und zwar kanonisierbar heilig sein, ohne diese Gnade. (Das) mag natürlich viel beitragen zu dieser Wandlung, (zu dieser) transformatio in deum; aber (zu) erwarten, notwendig, ist das durchaus nicht.

Und hier wiederum zwei andere Klassifizierungen. Es gibt solche, die vermeinen, sagen zu dürfen: die Gnade der Beschauung verlangt eine bestimmte Disposition. (Es) ist also so, daß die nicht erteilt wird von heute auf morgen; es muß vorausgehen eine ganze Menge von Experimenten, eine ganze Menge von aszetischem Ringen. Erst wenn diese Vorbedingung gestellt, diese dispositio da ist, dann, dann erst schenkt der liebe Gott die Gnade der Beschauung. Allgemeine Auffassung.

So, wie sie hier liegt, können wir natürlich dazu wohl ein herzhaftes Ja sagen.

Aber hier die Unterschiedlichkeit. Ich kann so sagen: Es [170] wird vom lieben Gott auf dem gewöhnlichen Wege, freilich immer mit Hilfe der Gnade, eine dispositio positiva oder eine dispositio negativa verlangt. Dispositio positiva ist so zu deuten: Wenn ich in meinem aszetischen Ringen und Streben diesen Höhepunkt erreicht, erlangt habe, dann kann ich sicher sein, dann habe ich ein Recht auf die Beschauungsgnade. Die andere Auffassung ist sehr vorsichtiger, sehr viel vorsichtiger; die sagt so: Eine dispositio wird zwar verlangt, aber eine dispositio negativa. Dispositio negativa, das will heißen: Ich entferne die Hindernisse für die Gnade der Beschauung; erringe also mit gewöhnlichen Mitteln einen recht hohen Grad der Lösung von mir selber und der Hingabe an den lieben Gott. Dispositio negativa, das wird also verlangt, dieser Grad der Vorbereitung. Aber ob nun, wenn die Hindernisse entfernt sind, der liebe Gott mir die Gnade der Beschauung gibt, das ist damit beileibe nicht gesagt; das ist immer ein freies Geschenk.

Was daraus folgt? Wenn wir schon einen Standpunkt einnehmen wollen und wenn wir das tun in der vorsichtigen Art, wie wir gemeiniglich vorzugehen gewohnt sind, dann stellen wir uns auf den Boden der negativen Disposition. Aber um nun nicht zu spielen, besagt das: Mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, heißt es, diese Disposition herzustellen. Mit allen Mitteln! Will also heißen: Was wir vom Heroismus der Liebe gesagt haben, vom Hersismus der Lösung, das will mit einem dauernden Eifer erstrebt werden. Mehr noch: Wenn wir überlegen, wie der liebe Gott in seiner Weisheit, in seiner besonderen Liebe uns erzogen hat (wir) brauchen dabei etwa nur stehen zu bleiben bei der Geschichte der Gesamtfamilie, mögen uns aber auch begnügen, stehen zu bleiben bei den eigenen Erlebnissen , dann werden wir finden: auch hier gibt es Zeiten in unserem Leben, da nimmt der liebe Gott in einzigartiger Weise unsere Erziehung in die Hand.

[171] Sie können das jetzt das werden die Schweizer mir nicht verübeln, wenn ich das so sage einmal nachprüfen an der Geschichte der Schweizer. Prüfen Sie einmal, wieviel harte Schläge den Schweizern jetzt ausgeteilt werden! Was heißt das hier? Was wird verlangt? Eine passive Abtötung höchsten Grades. Das ist uns Männern natürlich viel genehmer, wenn ich selber das Messer in die Hand nehme und an mir herumschneide; das ist viel, viel schwerer, ein Fiat als ein Volo Mensch zu sein. Und das ist gemeiniglich die Praxis Gottes im alltäglichen Leben. Wir haben das Sinnbild ja wohl in der Art und Weise, wie der Heiland seinerzeit Petrus behandelt: „Bisher hast du dich selber geführt.“ Schweiz, bisher hast du dich selber geführt, hast selber Entschlüsse gefaßt, hast überlegt, was des Willens Gottes ist, hast Opfer gebracht. Ja, recht so. „Aber“ wie sagt der Heiland zu Petrus? “ es kommt die Zeit, da dich jemand anders gürtet. Es kommt die Zeit, wo du hingeführt wirst dorthin, wohin du nicht willst“ (Joh 21,18). Das ist eben die große Scheidung im Leben, wo der VoloMensch notwendigerweise zum Fiat Menschen werden muß. Und wer das nicht erlebt, wen der liebe Gott nicht so behandelt freilich, das kann unterschiedlich sein, weil der liebe Gott ja jeden von uns individuell geschaffen und auch individuell ausgestattet und (ihm) ein individuelles Ziel gesteckt hat wissen Sie, wo das nicht in irgendeinem Grade geschieht, dann müssen wir schier fürchten, von Gottes Liebe vergessen zu sein. (Dies) sind ja Gedankengänge, die wir so vielfach hören, wahrnehmen (und) uns erzahlen lassen dürfen vom Leben hochstrebender, religiöser Menschen, daß eine starke Sehnsucht da ist, nun auch von Gott in die Kur genommen zu werden, in die Kur genommen, die dahin zieht, daß alles menschliche Denken zerschellt, daß alle menschlichen Pläne ins Gegenteil umgewandelt werden.

Sehen Sie, das ist genau das, was die Gnade der Beschauung uns schenkt: ein verzehrendes Licht. Was will [172] das verzehrende Licht? Bis in die letzten Wurzeln uns frei machen von uns selber.

Das beseligende Licht das Hineinwachsen, erlebnismäßig(e) Hineinwachsen in den Besitz Gottes. Genau das, was jetzt in positivster Weise die Antwort sein sollte auf den Zug zu Erlebnissen, zu praktischen Erlebnissen, zum Erfahrungswissen.

Sehen Sie, was müßten wir also nunmehr tun? Ja, das ist an sich eine Selbstverständlichkeit.

Fortsetzung

  1. Siehe dazu auch P. J. Kentenich: Wachstum im höheren Gebetsleben. Priestertagung Jan. 1941, S. 68ff und 169ff.
  2. Vgl. S. 190 197.
  3. Siehe Text des „Schönstatt Offiziums“ (52) und „Führer Gebet“ (135).

Aus:
Textsammlung zum Thema „Mystik“ bei Pater Kentenich
Zusammengestellt von P. Herbert King