1. Was versteht man unter organischer‘ Denkweise?
Die erste Teilfrage regt uns an, das organische Denken genauer zu untersuchen.
Es kann unter einem doppelten Gesichtspunkte betrachtet werden: unter dem Gesichtspunkte des Denkobjektes oder des Denkgegenstandes (ratione objecti) und des Denksubjektes oder Denkträgers (ratione subjecti).
Weil Gegensätze sich gemeiniglich einander belichten und beleuchten, sprechen wir zweckmäßig zunächst vom Gegenteil: vom mechanistischen Denken. Es ist dann leicht, im Gegensatz dazu die Eigenart der konstruktiv-organischen Geistigkeit verständlich zu machen.
Mechanische oder mechanistische Denkart trennt, wo es sich um den außerpersönlichen Denkgegenstand handelt, im Objekt die Erstursache von der Zeitursache. Sie löst die Idee vom Leben und bevorzugt deshalb lebensfremde Abstraktionen. Sie atomisiert das Leben und macht auf diese Weise die Bahn für einen vielgestaltigen Impersonalismus frei: frei für Entpersönlichung Gottes und Entpersönlichung des Menschen und – in natürlicher Konsequenz – nicht zuletzt auch für persönliche Entpersönlichung. Sie reißt endlich die Ideen auseinander. Sie ist nicht fähig und nicht gewillt, sie in ihrem inneren Zusammenhang zu sehen, zu künden und zu verwirklichen.
Wo es sich um den Denkträger handelt, trennt mechanische Denkweise im Subjekt, das heißt in der eigenen Person, in ungebührlicher Weise Kopf und Herz, schlechthin die inneren seelischen Fähigkeiten voneinander. Sie kennt keine Spannungseinheit, noch viel weniger eine Ordnungseinheit zwischen ihnen. Deswegen ist ihr eine gesunde Harmonie in Denk- und Lebensweise – soweit sie überhaupt im erbsündlichen Zustand mit Hilfe der Gnade möglich ist – vollkommen fremd.
Da jedoch das eigene Ich nicht nur in seiner Art Träger, sondern auch Gegenstand der Erkenntnis ist, kann sich je nachdem die unnatürliche Denkweise, die sich als solche ganz allgemein auf außerpersönliche Objekte zu richten pflegt, ungemein verstärken, sobald das eigene Ich in den Objektkreis des Denkens hineingezogen wird und so zu einer ungemein ungesunden, zerstückelten und zerstückelnden Lebensweise führen.
Will man nun genauer umschreiben, wie im Gegensatz dazu organische Denk-und Lebensweise aussieht, so braucht man nur überall den Trennungsstrich zu entfernen und ihn durch einen Verbindungsstrich zu ersetzen… Praktische Beispiele dafür anzuführen, erübrigt sich. Im Laufe der Jahre ist von mir über diese Dinge soviel geschrieben und gesagt worden, daß ich mich damit begnüge, darauf hinzuweisen. Damit dürfte für den Sachkundigen die erste Teilfrage geklärt und beantwortet sein.
2. Wie sieht die typisch romanische Seele aus?
Die zweite Teilfrage knüpft hier an. Sie bemüht sich unter dem besagten Gesichtspunkte um genauere Erfassung und Durchdringung der typisch eigenartigen Struktur der romanischen Seele. Es handelt sich also um eine Typisierung, darum gelten alle Regeln eines solchen Prozesses. Man muß also strenggenommen bei der ganzen Diagnose mit einer gewissen Überspitzung rechnen, die in dieser gefüllten Form praktisch kaum je oder doch nur ganz selten vorkommt. Alle Typisierungen wollen so verstanden werden, ganz gleich, welcher Art sie sind. Will man sie richtig lesen und deuten, so muß man bei der Lektüre sich immer sagen: nach dieser Richtung liegt die Struktur und nach dieser Richtung geht die Entwicklung. Typisierungen gehen allezeit vom Gesetz der ausgezeichneten Fälle aus. Es ist darum nicht zu erwarten, daß sie sich auch nur annähernd in der umrissenen Form bei der Masse des Volkes verkörpert finden. Aber auch da, wo bei Führerschichten die sorgfältige Bildung und Erziehung fehlt, muß man recht häufig mit Verwilderung der edelsten Anlagen rechnen.
Das alles vorausgesetzt, stelle ich die Behauptung auf: Die romanische Seele hat eine ausgeprägte Anlage zu konstruktiv-organischer Denkart ratione objecti, das heißt, es liegt ihr von Hause aus, mit einer gewissen Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit die Verbindung zwischen Erst- und Zweitursache, zwischen Idee und Leben, zwischen den einzelnen Lebensäußerungen und den einzelnen Ideen geistig festzuhalten und sprachlich darzustellen. Das will natürlich nicht sägen, diese Anlage kenne nicht unterschiedliche Grade oder sie könne sich ohne Schulung und Erziehung ohne weiteres vollkommen entwickeln. Daraus ergibt sich von selbst, wie die Masse des romanischen Volkes als solche in diesen Rahmen hineinpaßt.
Anders liegt der Fall, wo es sich um genauere Charakterisierung der organischen Denkweise ratione subjecti, das heißt, wo es sich nicht um außerpersönliche Objekte, sondern um den Denkträger selbst handelt. Hier muß man wiederum unterscheiden: Nimmt man das Ich gleichzeitig als Objekt des Denkens, so bringt die romanische Seele es leichter fertig – ähnlich wie bei außerpersönlichen Denkgegenständen -, innere Zusammenhänge richtig zu sehen und anzuerkennen; sieht man aber das Ich formell als Träger oder als Subjekt des Denkens, so ist es praktisch von Hause aus sehr geneigt, dem Herzen vor dem Kopf und dem Triebmäßigen vor dem geschulten und trainierten Willen in weitestem Ausmaße den Vorrang einzuräumen. Das mag zur Klärung der zweiten Teilfrage genügen.
Als Manuskript gedruckt in: Texte zum 31. Mai 1949,(hrsg. von der chilenischen Regio der Schönstattpatres, o.J.), S.102-105 ***
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