Zweitursache

Zweitursache

Paul Vautier

1. Geschichtliches zur Zweitursachenlehre
2. Die Zweitursachenlehre P. Kentenichs
3. Inhaltlich. Die Gesetze der Zweitursachenlehre
3.1. Das Weltregierungsgesetz
3.2. Das Weltordnungsgesetz
3.3. Das Weltvervollkommnungsgesetz
3.4. Das Weltanpassungsgesetz
4. Bedeutung und Anwendung der Gesetze
5. Problemanzeige

1. Geschichtliches zur Zweitursachenlehre

Unter Zweitursachenlehre versteht man normalerweise die Aussagen scholastischer Ursachenlehre, die das Verhältnis von >>Erstursache und Zweitursachen behandelt. Meistens versteht man dabei Gott als Erstursache und die geschöpflichen Ursachen als Zweitursachen. Philosophiegeschichtlich ist der Sachverhalt dagegen sehr komplex. Der Terminus „erste Ursache“ für Gott wird erst in der Schulphilosophie ab dem ersten Jahrhundert v. Chr. üblich, der Terminus „Zweitursache“ wird erst bei den Neuplatonikern ein fester Ausdruck. Über den „liber de causis“, eine Bearbeitung der „Stoicheiosis theologike“ des Proklos, die aber bis Mitte des 13. Jahrhunderts als aristotelisch galt, sind wichtige Positionen der neuplatonischen Ursachenlehre mit diesen Begriffen ins Hochmittelalter eingeflossen. Bei Thomas von Aquin hat der Begriff Zweitursache eine geringe Bedeutung, wohl aber das Anliegen der relativen Autonomie, der Eigenständigkeit und Eigengesetzlichkeit der Schöpfung. Damit schuf Thomas eine Synthese zwischen platonischem und aristotelischem Wirklichkeitsverständnis. Im 20. Jahrhundert hat besonders Erich Przywara Thomas von Aquin als den „Meister der Zweitursachenlehre“ herausgehoben, und zwar in einer kulturphilosophischen Perspektive.

Die philosophische und theologische Forschung zeigt, dass es bis heute nicht leicht ist, die Perspektiven dieser Ursachenlehre mit den modernen naturwissenschaftlichen Fragestellungen zu vermitteln.

2. Die Zweitursachenlehre P. Kentenichs

Bei P. Kentenich ist der Terminus „Zweitursache“ ab etwa 1924 zu einem Fachausdruck geworden, um seine Konzeption einer welthaften Spiritualität auszudrücken. Die Hauptanregung dazu stammt von Erich Przywara, der 1923 in einer kulturphilosophischen Analyse Augustinus als den Vertreter der Erstursache, Thomas von Aquin als Vertreter der Zweitursachen dargestellt hatte. P. Kentenich bezeichnet die augustinische Leistung als theologisch platonisch, die des Thomas als philosophisch-aristotelisch. Was er vermisst und was er als Gegenstand seines Beitrags sieht, ist die >>“Psychologie der Zweitursachen“. Es geht P. Kentenich um die Fragen: Darf ich mich an die Geschöpfe binden? Wie komme ich durch die Liebe zu den Geschöpfen zur Gottesliebe? Der Schwerpunkt der Fragestellung verschiebt sich von Metaphysik, Naturphilosophie und Schöpfungstheologie zur Pastoralpsychologie.

Im Zentrum steht die Frage nach den >>Bindungen des Menschen, häufig formuliert in einer sonst nur in der >>Aszese gebräuchlichen Begrifflichkeit. Bei den unten angeführten „Gesetzen“ ist zunächst aus theologischer Sicht das grundsätzliche Verhältnis von Gott (Erstursache) und Welt (Zweitursachen) im Blick. Das besondere Interesse liegt dann aber in der Frage, in welchem Verhältnis Bindung an Gott und an die Welt zueinander stehen. Die Sichtweise der scholastischen Zweitursachenlehre wird gesprengt und gleichzeitig weitergeführt. Dabei wird der Terminus „Zweitursache“ beibehalten.

3. Inhaltlich. Die Gesetze der Zweitursachenlehre

Die systematischeren Aussagen P. Kentenichs zur Zweitursachenlehre haben eine Doppelstruktur. Zuerst wird ein >>“Weltgesetz“ genannt eine theologische, allgemeine Aussage. Dann kommt der Aspekt der „Psychologie der Zweitursachen“, der eigentlich für eine Bindungslehre interessant ist. Die einzelnen Gesetze lauten:

3.1. Das Weltregierungsgesetz

Dieses Gesetz heißt bei P. Kentenich in seiner philosophischen Formulierung: Deus operatur per causas secundas liberas (Gott wirkt durch freie Zweitursachen). Den Inhalt dieses Prinzips macht er an der Philosophie des Thomas von Aquin fest.

In der psychologischen Formulierung handelt es sich um die Gesetze der organischen >>Übertragung und Weiterleitung. Nach diesen überträgt Gott auf die Geschöpfe etwas von seinen Vollkommenheiten mit der Absicht, dass jene sie auf andere Geschöpfe weiterleiten. Vom Menschen her gesehen bedeutet es, dass auch der Mensch etwas von sich auf andere Menschen überträgt, damit diese es auf Gott hin weiterleiten. Dieser Vorgang wird als gottgewollt positiv bewertet. Das Gesetz der organischen Übertragung und Weiterleitung besagt, dass Gott uns durch die Geschöpfe liebt, seine Liebe durch sie zu uns weitergeleitet wird. Vor allem aber sollen wir durch die Geschöpfe an ihn zur Gottesliebe weitergeführt, eben „weitergeleitet“ werden. Eine „mechanistische“ Anwendung dieser Gesetze würde aus diesen Vorgängen ein schroffes Nacheinander machen am Schluss sollten wir ausschließlich nur noch Gott lieben. Dagegen spricht P. Kentenich von „organischer“ Übertragung und „organischer“ Weiterleitung; d.h. die Bindung an die Geschöpfe darf und soll bleiben bis in die Vollendung des ewigen Lebens. Die Bindung an Gott wird im Stadium der Weiterleitung intensiviert.

3.2. Das Weltordnungsgesetz (in der späteren Fassung von 1952)

Die philosophisch-theologische Aussage: Die Welt ist in Stufen geordnet. Das Niedere ist vom Höheren her zu verstehen, die Erkenntnis geht aber von unten nach oben.

Der psychologische Aspekt: Die niedere Ordnung ist für die höhere Ordnung Ausdruck, Mittel und Schutz und umgekehrt. Dies ist genauso von der Bindung gemeint: Die Bindung an die Zweitursachen hat für die Beziehung zu Gott die Funktionen von Ausdruck, Mittel und Schutz, und umgekehrt.

3.3. Das Weltvervollkommnungsgesetz

Philosophisch-theologischer Aspekt: Die natürliche und übernatürliche Welt kennt einen Prozess der Vervollkommnung.

Psychologischer Aspekt: Durch die Bindung an die Zweitursache, das Unvollkommenere, werden wir zur Bindung an Gott, das Vollkommenere, geführt.

3.4. Das Weltanpassungsgesetz

Gott erschuf den Menschen als sinnenhaftes Wesen auf sich hin. In seiner Schöpfung paßt er sich dieser sinnenhaften Natur des Menschen an.

4. Bedeutung und Anwendung der Gesetze

Die Kernaussage der vier Gesetze besteht in der vollen Annahme und theologischen Rechtfertigung der Bindungen an die Menschen und die Welt. Der Hintergrund dieser Aussagen ist ein doppelter:

4.1. Der Supranaturalismus und eine rigoristische Aszese in der christlichen Spiritualität. In der extremen Form heißt das: Der Mensch soll Gott allein lieben, jede andere Bindung ist höchstens vorübergehend erlaubt oder wird im Sinne der Verdienste instrumentalisiert, die Welt wird verteufelt und der Himmel zum Ort der absoluten und exklusiven Gott Bindung. P. Kentenich wollte im Gegensatz dazu eine Spiritualität begründen, die sich vom Individualismus, Supranaturalismus und den jansenistischen Tendenzen des 19. Jahrhunderts klar abhebt.

4.2. P. Kentenich entwickelt in seinem psychologischen Ansatz das Konzept des >>“Bindungsorganismus“. Der Mensch entfaltet sich dann richtig, wenn er in einen ganzheitlichen natürlich-übernatürlichen Bindungsorganismus hineinwächst. Die Zweitursachenlehre ist der Versuch einer theologisch philosophischen Grundlegung. Hat sich das 19. Jahrhundert besonders um eine „analysis fidei“ bemüht, geht es hier um eine „analysis caritatis“.

Die Anwendung dieser Zweitursachenlehre findet überall da statt, wo es um seelische Bindungen geht, seien es familiäre, freundschaftliche, partnerschaftliche oder erzieherische. So sind seine besonderen Anwendungsbeispiele Eltern, Erzieher und die Gottesmutter Maria. Da P. Kentenich die Verehrung Marias als Beziehung und Bindung versteht, findet die Zweitursachenlehre Eingang in die Mariologie und Marienverehrung (>>Maria).

5. Problemanzeige

Obwohl die Zweitursachenlehre P. Kentenichs die Horizonte einer scholastischen Philosophie und Theologie sprengt, verleitet sie doch durch ihre Formulierung und Darstellung dazu, als neuscholastisch und wenig weiterführend missverstanden zu werden.

Für den Dialog mit der >>Psychologie ist darauf zu achten, dass der Übertragungsbegriff bei P. Kentenich sich sehr von dem von Sigmund Freud unterscheidet. Die Übertragungslehre P. Kentenichs steht innerhalb der gläubigen Weltdeutung, die eine reale Beziehung zu Gott kennt und offen ist für einen „übernatürlichen“ >>Bindungsorganismus.

>Organismuslehre, >>organisches Denken


Literatur:

  • J. Kentenich, Marianische Erziehung. Pädagogische Tagung (22.-26. Mai 1934), Vallendar-Schönstatt 1971, 286 S., 154 ff.
  • J. Kentenich, Daß neue Menschen werden. Eine pädagogische Religionspsychologie. Vorträge der Pädagogische Tagung 1951. Bearbeitete Nachschrift, Vallendar-Schönstatt 1971, 264 S., 221 ff.
  • J. Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form (Brief an Joseph Schmitz, geschrieben in Santiago/Chile, ab dem 3. Mai 1952), Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S.I, 130 ff.
  • Causa Secunda. Textbuch zur Zweitursachenlehre bei P. Josef Kentenich, hrsg. vom Josef-Kentenich-Institut, Freiburg i.Br. 1979
  • H. Czarkowski, Psychologie als Organismuslehre, Vallendar-Schönstatt 1973, 223 ff.
  • H. King, Ein neues Gottesbild für eine neue Kultur. Zur Bedeutung der Zweitursachen, Regnum 25 (1991) 59-71
  • P. Vautier, Maria die Erzieherin, Vallendar-Schönstatt 1981, 236 ff.
  • ders., Die Theologie Scheebens und die Zweitursachenlehre Pater J. Kentenichs, Regnum 10 (1975) 67-79
  • E. Przywara, Gottgeheimnis der Welt, München 1923.

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

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