EINFÜHRUNG
Im vorliegenden zweiten Band der Studie »Das Lebensgeheimnis Schönstatts« (vgl. die Einführung zum ersten Band) geht es Pater Kentenich darum, die Originalität seiner Gründung unter einem wesentlichen Gesichtspunkt herauszuarbeiten. Schönstatt verdankt seine Existenz dem geschichtlichen Ereignis eines Bündnisschlusses: Maria als Repräsentantin der jenseitig-göttlichen Welt und Pater Kentenich als Repräsentant der werdenden Schönstattfamilie gingen am 18. Oktober 1914 ein gegenseitiges Bündnis ein. Dieser historische Lebensvorgang entwickelte sich in der Folge zu dem Lebensstrom der Schönstattgeschichte, er ist aber auch – und das ist der Gesichtspunkt, der in dieser Studie im Vordergrund steht – die fruchtbare Keimzelle einer neuen Spiritualität.
Von Anfang an faßte Pater Kentenich die innere Sinnhaftigkeit der »neuen göttlichen Initiative« jenes Bündnisschlusses als eine eminent pädagogische Zielsetzung. Für ihn war Schönstatt ein Gotteswerk, das zur Erneuerungsbewegung in der Kirche werden sollte. Im Blick auf die historische Zeitenwende und ihr mutmaßliches Endergebnis ging seine Deutung der immanenten Zielsetzung des Gründungsgeschehens in Schönstatt noch weiter: es sollte über den Rahmen der innerkirchlichen Erneuerung hinaus miteingreifen in das »Ringen um einen neuen Menschen«, um eine »neue Gesellschaftsordnung«. So ist verständlich, daß unter seiner führenden und formenden Hand aus dem unscheinbaren Keim der Gründungsurkunde und im ständigen Dialog mit allen Geistesrichtungen unseres Jahrhunderts mit der /
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Zeit der Gesamtentwurf einer zukunftsorientierten Spiritualität erwachsen ist. Er hat vorab eine doppelte Charakteristik: durch und durch kirchlich und ganz und gar schöpferisch-originell. Kirchlich, weil er unverkürzt die ganze Fülle der uns von Christus überkommenen Offenbarung einfangen und weitergeben will, in der Überzeugung, daß darin für alle Zeit, also auch für die kommende Weltepoche, der gottgewollte Maßstab und die gottgeschenkte Lebenskraft zur Weltgestaltung enthalten sind. Praktisch heißt das: kirchliche Spiritualität kann nur die je originelle Zusammenschau und Zuordnung aller Elemente der Christusoffenbarung sein, alles andere ist »Häresie« in Lehre oder Praxis. So zeigt es ein einfacher Blick auf alle kirchlichen Frömmigkeitsschulen im Laufe der Geschichte. – Zweites Charakteristikum der Schönstatt-Spiritualität ist sodann ihre schöpferische Originalität, in der sie unableitbare und unkonstruierbare Ursprünglichkeit mit greifbarer und kontrollierbarer Ursprungsnähe zum Offenbarungsgeschehen in Christus verbindet. So ergibt sich das unauflösliche »Zusammen« von Traditionsverwurzeltheit und überraschender Nähe zur Zeitproblematik. Im Laufe der Geschichte sind auf diese Weise alle historisch wirksamen Frömmigkeitsschulen immer neue Konkretisierungen der Geist-Bewegtheit der Kirche gewesen, die zwar »verschiedene Geistesgaben« in ihrem Schoß erkennt, aber doch nur den »einen Geist«, »der einem jeden zuteilt, wie er will« (vgl. 1 Kor 12), der sich den »Kairos« seines Einfallens urpersönlich aussucht und auch die Werkzeuge seiner geheimnisvollen Führung und Gestaltung der Kirche. Dem gläubigen Blick enthüllt sich so der Gründungsvorgang Schönstatts als die geistgewirkte Keimzelle einer neuen, legitim kirchlichen Spiritualität, die eine schöpferische Synthese des gesam- /
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ten Glaubensgutes in Anpassung an die gewandelte Welt- und Seelenlage sein möchte. Es gehört zur Eigenart Pater Kentenichs, daß er zuerst und hauptsächlich Menschenbildner gewesen ist, der seinen Wurf einer neuen Spiritualität den lebendigen Menschen und Gemeinschaften einformen wollte, die Gott ihm als seine geistliche Familie zuführte. Nur in zweiter Linie hat er diese seine geistige Welt auch systematisch dargestellt. So ist sein Lebenswerk zunächst einmal »inkarnierte« Botschaft, die nur bis zu einem gewissen Grade auch ihre authentische Deutung durch das geschriebene Wort gefunden hat. Wo es aber vorliegt, kann es zu einem tieferen Verständnis des gelebten Lebens führen. Für ihn ist »Theologie« innerhalb der Kirche immer ehrfürchtig deutender Kommentar des geistgewirkten Lebens.
In diesem Zusammenhang steht auch die vorliegende Studie. Sie will verstanden werden als Deutung eines Wesenszuges schönstättischer Spiritualität, wie er sich von der Gründungsurkunde an im Laufe einer langen und reichen Geschichte ausgefaltet hat. Es dreht sich dabei um den Kern des Lebensvorganges, der die eigentliche Gründung ausmacht, den Pater Kentenich »Liebesbündnis« genannt hat und aus dem folgerichtig eine genuine »Bündnisfrömmigkeit« erwachsen ist. Zusammen mit den beiden Elementen der »Werktagsfrömmigkeit« und der »Werkzeugsfrömmigkeit« bildet sie eine »dreidimensionale Frömmigkeit«, in der Pater Kentenich seinen Wurf einer modernen Spiritualität vorgelegt hat. Noch gibt es keine Gesamtdarstellung dieser Synthese. Wohl liegt schon seit 1937 in der »Werktagsheiligkeit« (letzte Auflage: Limburg 1964) eine Darstellung des ersten Wesenszuges vor, eine in Dachau geschriebene Studie über »Marianische Werkzeugsfrömmigkeit« wird /
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in Kürze im Druck erscheinen. Dagegen existiert keine eigentliche Studie über »Bündnisfrömmigkeit« aus der Hand Pater Kentenichs. Sehr vieles über gerade dieses Thema ist über sein gesamtes Werk zerstreut. Der vorliegende zweite Teil des »Joseph-Briefes« kann vielleicht noch am ehesten diese Lücke füllen, weswegen er im Rahmen der Gesamtstudie auch den Untertitel »Bündnisfrömmigkeit« führt (der von den Bearbeitern eingefügt ist).
Um wenigstens in kurzen Zügen die inneren Zusammenhänge der drei Elemente der Schönstattspiritualität anzudeuten, sei hier ein Text Pater Kentenichs aus dem Jahre 1953 angeführt. Er stellt die pädagogische Leitidee Schönstatts unter dem zusammenfassenden Bild des »Heiligen« dar und weist ihre Verwurzelung in der Gründungsurkunde nach, um daraus ihre drei Dimensionen im einzelnen kurz auszufalten.
»Die historische Entwicklung unserer dreidimensionalen Frömmigkeitsform findet einen fruchtbaren Sammel-, das heißt einen sinnvollen End- und einen schöpferischen Anfangspunkt in der Gründungsurkunde vom 18. Oktober 1914. Sie steht nicht einsam und getrennt da von allem umflutenden Leben.. . Sie ist Frucht und Wirkung der in der Vorgeschichte wirksamen Lebenskräfte; ist aber auch gleichzeitig Quelle und Ursache eines in der Nachgeschichte machtvoll flutenden Lebensstromes … Ein Blick in die Gründungsurkunde überzeugt zunächst davon, daß darin die ldee der Heiligkeit mit der größten Selbstverständlichkeit als das einzig gültige Ideal auf den Schild erhoben wird. Da steht ja mit klaren, eindeutigen Worten geschrieben: ‚Wie für unseren zweiten Patron, den heiligen Aloysius, eine Muttergotteskapelle /
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in Florenz, so soll für uns diese Kongregationskapelle die Wiege der Heiligkeit werden.‘ Der zusammenschauende und abwägend überprüfende Geschichtsphilosoph sieht in diesem markanten Satz einen ausdrucksvollen Niederschlag einer zweijährigen, überaus reichen ideen- und lebensmäßigen Entwicklung und das äußere Leitbild und die innere Triebkraft, die die folgende Schönstattgeschichte greifbar beherrscht und schöpferisch mitgestaltet hat…
Die Gründungsurkunde ist nicht damit zufrieden, das Ideal der Heiligkeit ideen- und lebensmäßig in den Vordergrund zu stellen, sie bestimmt auch mit klaren Strichen seine Eigenart. Sie spricht von Werktagsheiligkeit. Sie gebraucht zwar den Namen nicht, kennzeichnet aber deutlich deren Wesen mit dem Hinweis auf treue und treueste Pilichterfüllung und eifriges Gebetsleben aus Liebe: ‚Beweist mir erst, daß ihr mich wirklich liebt … Erwerbt euch durch treue und treueste Pflichterfüllung und eifriges Gebetsleben recht viele Verdienste und stellt sie mir zur Verfügung.‘ Werktagsheiligkeit ist das Ideal, um das wir von Anfang an gerungen haben; ein Ideal, das jugendlicher Größendrang schon früh als Inbegriff alles Großen und Wertvollen lieben lernte und in der Gründungsurkunde verewigen ließ. Es war und ist immer gemeint, wenn wir von Heiligkeit sprechen. Umschrieben wir es anfangs mit den nüchternen Worten ‚ordinaria extraordinarie‘ …, so gaben wir ihm später den bezeichnenden Namen ‚Werktagsheiligkeit‘, der in die Schönstätter Fachsprache übergegangen ist und durch Lehre und Leben das öffentliche Leben der Familie weitestgehend beherrscht. Es wuchs sich mit der Zeit zu einem geschlossenen System aus, das in der Literatur einen beachtlichen Niederschlag /
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gefunden und im Leben unserer Toten die Probe bestanden hat…
Aus: Das Lebensgeheimnis Schönstatts. II. Teil: Bündnisfrömmigkeit, Vallendar-Schönstatt 1972, 278 S. – www.patris-verlag.de
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