. . . Stufen und Stadien der Kindlichkeit. Wir kennen nennen ihrer drei. Wir sprechen von primitiver, von abgeklärter oder vollkommener und von heroischer Kindlichkeit.
Gemeinsam ist allen Stufen ohne Ausnahme – also der untersten wie der obersten, der primitiven wie der heroischen – was wir von der Gesamtstruktur schlechthin gesagt haben. Das braucht nicht eigens bewiesen zu werden. Die wesentlichen Züge eines Lebensvorganges müssen in allen drei Teilen in irgendeiner Weise wiederzufinden sein. Daraus folgt in unserem Fall: In allen Stadien bleibt die Verbindung zwischen Erst- und Zweitursache unlösbar bestehen. Gott darf niemals von den Eltern und die Eltern dürfen niemals von Gott getrennt werden, es sei denn, die Eltern würden sich gegen Gott stellen. Es muß nicht notwendig eine aktuelle oder virtuelle Verbindung sein. Es genügt, wie dargestellt, periodenweise eine habituelle… Ferner: In allen Stadien verlangt das Gefühl eine sorgfältige Pflege… Endlich: Ob das Gefühl stärker reagiert auf die Eltern oder auf Gott, liegt zunächst außerhalb des Willensbereichs. Hauptsache ist und bleibt, daß Gott der Wertschätzung nach immer an erster Stelle steht. Der Unterschied in den Graden wird nicht durch das Objekt bestimmt – es bleibt immer dasselbe, Gott und Eltern – sondern durch das Subjekt, genauer durch den Grad der Ichgelöstheit, der Entichung.
Primitive Liebe liebt – Gott und Eltern – um des eigenen Vorteils willen. Dieser Vorteil ist das ut finale, nicht ut consecutivum. Die Moral nennt sie amor concupiscentiae…
Abgeklärte oder vollkommene Kindesliebe liebt Gott um seinetwillen. Das Ich tritt zurück. Gott steht im Vordergrunde. Dasselbe gilt wegen Gleichheit des Liebesobjektes von den Eltern – freilich immer in und mit Gott. Die Aszetik sagt dafür amor benevolentiae, beneplacentiae, conformitatis… Die Ausdrücke erklären sich selbst. Die Werktagsheiligkeit spricht darüber Seite 66 und 67. Heroische Kindesliebe ist die höchste Stufe. Auf ihr liebt man Gott ausschließlich um seiner selbst willen und sich selbst und alles Geschaffene nur wegen Gott. Augustinus verlangt diesen Grad von allen Christen, die vollkommen werden wollen. St. Bernhard ist der Meinung: Nur wenige Menschen würden ihn hier auf Erden erreichen. Franz von Sales stellt in unbedenklich als Ideal in den Mittelpunkt seines ganzen Systems:
„Ich glaube“, schreibt er einmal, „alles außer Gott ist mir nichts mehr; aber in ihm und für ihn liebe ich alles zärtlicher denn je, was ich liebe.“
Das Wort „alles“ schließt selbstverständlich auch die Eltern in sich, ob es die leiblichen oder geistigen sind.
Dieser Grad ist identisch mit unserer Inscriptio. Das Wort ist dem Sprachschatz des hl. Augustinus entnommen und besagt heroische Herzensverschmelzung zwischen Mensch und Gott. (Inscriptio perfecta, mutua, perpetua cordis in cor)
Löst heroische Kindesliebe sich im Sinn mechanischer Weiterleitung vom menschlichen Transparent, so verdient sie früher oder später den Vorwurf, den Voltaire den Ordensleuten macht: sie seien Menschen, die zusammenkommen, ohne sich gekannt zu haben, die beieinander leben, ohne sich zu lieben, die auseinandergehen, ohne es zu bedauern, die sterben, ohne sich zu beklagen…
Wenn dieses Kindsein tatsächlich eine außergewöhnliche überzeitliche und zeitbedingte Bedeutung hat, wenn andererseits die menschliche Natur bis in die letzte Wurzel hinein krank geworden ist, ergibt sich ohne weiteres, wie ernst und gewissenhaft der heutige Erzieher nach brauchbaren, nach triebkräftigen Anknüpfungspunkten suchen muß.
Ich … beschäftige mich mit dem normalen Anknüpfungspunkte für das Kind-sein vor Gott: Das ist das Kindsein Menschen gegenüber.
So entspricht es dem gewöhnlichen Lauf der Dinge. Die natürliche Ordnung ist auf die übernatürliche hin geordnet. Erlebnisse in der natürlichen bereiten Verstand und Gemüt für übernatürliche Erkenntnisse und Erlebnisse vor. Darauf weist Pestalozzis Spinnengleichnis recht sinnvoll hin. Das praktische Leben beweist dasselbe ungezählt viele Male. So übertragen wir instinktiv unser menschliches Vaterbild und Vatererlebnis auf Gott. Ähnlich verhält es sich mit dem Mutterbild und Muttererlebnis und dem Marien- und Kirchenbild. Das Gesetz der organischen Übertragung und Weiterleitung erhält dadurch einen vertieften Sinn und eine entwirrende Anwendungsmöglichkeit. Wir bewundern des hl. Augustinus Auffassung von der Mutterschaft der Kirche. Maßgebend dafür war zweifellos die Lehre der göttlichen Offenbarung; nicht unbedeutend mitgewoben hat an dem wunderbaren Gewebe aber auch sein natürliches Mutterbild. . . .
Woher kommt es, daß das Vaterbild Gottes im Abendland bis zur Unkenntnis verzeichnet…, in ungezählt vielen Fällen ganz ausgewischt ist? Der Gründe gibt es ohne Zweifel viele. Man denkt unwillkürlich an die ungeheuerliche Belastungsprobe durch die heutigen Katastrophen. Man weist hin auf die vielfache theologische und biblische Unkenntnis, auf Mangel an tiefer Erfassung des salesianischen Weltgrundgesetzes der Liebe (Werktagsheiligkeit S. 232-240 / 180-186), das zum Lebensgesetz der Heiligen geworden ist. Es gibt noch manche andere Erklärung…
Ein Hauptgrund ist der Mangel an echten Kindeserlebnissen in der natürlichen Ordnung. Nietzsche meint, das Fehlen an Kinderländern zurückführen zu müssen auf die betrübliche Tatsache, daß es keine Mutter-, keine Vaterländer mehr gäbe. Die Worte erinnern an das ganze Elend der heutigen Familien…
Daraus zieht der Erzieher eine doppelte Folgerung:
Erste Folgerung: Gewissenhafte Erziehung der Gefolgschaft zu echten Vätern und Müttern, genauer zu Väterlichkeit und Mütterlichkeit. Zweite Folgerung: Kraftvolle Selbsterziehung zu diesem hohen Ziel, um der Gefolgschaft – soweit das noch geht – in seiner Person eine Art Nacherlebnis möglich zu machen. Es möchte für seine Gefolgschaft ein Abbild des Vatergottes (benediktinische Art) oder des Heilandes werden (jesuitische Art).
Die Gesamterziehung orientiert sich sorgfältig und erfolgreich an der gezeichneten Seinsstruktur: an der Verbindung zwischen Erst- und Zweitursachen … und an den Gesetzen, die das Verhältnis zwischen amor affective und aestimative summus regeln. .
Diese Gesamtstruktur bestimmt alle Stufen der praktischen Kindlichkeit. Es ist nicht so, als ob sie mechanisch voneinander getrennt wären. Die Obergänge fließen nicht selten so stark ineinander, daß schwer zu entscheiden ist, wann die eine Stufe aufhört und die andere beginnt. Es ist denkbar und kommt nicht selten vor, daß man auf eine höhere Stufe Merkmale einer niederen mitbringt – und umgekehrt – oder periodenweise plötzlich wieder aufbrechen fühlt. Ähnlich geht es auch sonst im Leben. -(S. 144-149)-
vervielfältigt/Wachs, 191 Seiten A4, S.144-149 ***
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