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Pater Joseph Kentenich (1885-1968), der Gründer des Schönstattwerkes, scheint auf eigenartige Weise von Gott auf seine Gründung vorbereitet worden zu sein; denn als junger Theologiestudent mußte er nachhaltig die Gefahren einer naturalistischen und skeptischen Denkweise kennenlernen. Einzelne Äußerungen, die er später machte, lassen vermuten, daß er damals eine tiefe geistige Krise durchgemacht hat, die ihn bis an die Grenze der geistigen Existenz brachte. Die Lösung fand er in einem »organischen Denken«, das ihm half, alle Fragen im Zusammenhang mit der Gesamtwirklichkeit von Natur und Gnade zu lösen. Dabei lernte er auch die einzigartige Stellung Mariens innerhalb dieses Ordnungskosmos kennen und schätzen. Im Laufe der Jahre erkannte er immer mehr, welche Bedeutung dieser organischen Betrachtungsweise zukommt, wie aber in weiten Kreisen der Kirche an dessen Stelle eine mechanistische Denkweise getreten ist, die das gesamte Glaubensleben bedroht.
Als Spiritual eines Missionsgymnasiums legte er am 18. Oktober 1914 im alten Michaelskapellchen zu Schönstatt den Grundstein zu dem internationalen Schönstattwerk. Auf der Höhe seines Wirkens wurde er 1941 von der Gestapo verhaftet und über drei Jahre im Konzentrationslager Dachau festgehalten. Wenige Jahre nach seiner Befreiung wies er 1949 die Hierarchie auf das mechanistische Denken und seine Gefährlichkeit für die Kirche hin. Er zeigte dabei, wie die Schönstattfamilie diese Gefahr von Anfang an in ihrer Pädagogik gesichtet und um ihre Überwindung sich bemüht hat. Ein mu- /
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tiges Wagnis in der vorkonziliaren Situation, wie die weitere Entwicklung in der Kirche und Schönstattgeschichte zeigt. Die Folge war eine Apostolische Visitation Schönstatts und die Verbannung des Gründers nach Nordamerika.
Auf dem Weg in die Verbannung im Jahre 1952 hielt sich Pater Kentenich längere Zeit in Südamerika auf. Zu dieser Zeit suchte in Schönstatt der Apostolische Visitator die künftige Struktur des Werkes festzulegen. Zur Lösung der Frage legte er in der Karwoche 1952 den Entwurf zu einem »Generalstatut« vor. Dieser wurde in keiner Weise der gewordenen Eigenart des Schönstattwerkes gerecht: es wäre nach diesem Entwurf seiner eigentlichen Sendung und Kraft beraubt worden. Neben mehreren Vertretern der Gesellschaft der Pallottiner war als einzige von allen Gliederungen des Schönstattwerkes nur die Priestergemeinschaft geladen worden. Ihr einziger Vertreter, Rektor Rudolf Klein-Arkenau, damals mittätig in der Leitung, erkannte sogleich diese Gefahr und wehrte sich nachdrücklich dagegen. Nach der zweiten Besprechung am Karsamstag, zu der ich als Leiter der Priestergemeinschaft herbeigerufen worden war, und in der erneut schriftlich und mündlich die Bedenken gegen das Generalstatut in vorliegender Form erhoben wurden, berichtete Rektor Klein-Arkenau darüber an Pater Kentenich. Dieser antwortete darauf am 8. Mai in einem an ihn gerichteten Brief.
Diese erste Reaktion Pater Kentenichs ist in doppelter Hinsicht bedeutsam. Einerseits läßt sich aus den eindringlichen Worten ungefähr die Gefährdung ablesen, in die das Schönstattwerk durch das Vorgehen des Visi- /
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tators geraten war; andererseits zeigt diese Antwort, worauf es Pater Kentenich in dieser Schicksalsstunde vor allem ankommt. Während in Schönstatt um Organisationsfragen gerungen wurde, lenkte er den Blick auf Geist und Leben. Aus diesen Gründen seien einige Abschnitte dieses Briefes zitiert.
»Die Lebensfragen der ganzen Bewegung sind durch die Visitation so stark in Frage gestellt, daß man schlechthin von Existenz- und Schicksalsfragen sprechen kann. Ob und wieweit die Fundamente unseres Seins und Lebens dadurch bereits in Erschütterung geraten sind, hängt von der Gläubigkeit und Hingabe der einzelnen Gliederungen ab. Immer deutlicher entschleiert sich die Absicht des Visitators. Pallotti wird anerkannt, seine Idee und sein Werk sollen fortbestehen (…) Alles aber, was Schönstatt heißt, soll beiseitegeschoben, soll nach Möglichkeit unterdrückt und begraben werden. Deswegen herrscht tiefes Schweigen über die Eigengesetzlichkeit und Eigenwertigkeit Schönstatts; deswegen wird alles versucht, die in unserem Mariengeheimnis aufbrechenen göttlichen Kräfte zu übersehen und durch taktische Manöver in Vergessenheit zu bringen.«
Hier ist der Lebensnerv Pater Kentenichs getroffen. Seit 1916 ist er davon überzeugt, daß die Idee Pallottis von einem Apostolischen Weltverband nur in Verbindung mit dem Schönstätter Mariengeheimnis oder Liebesbündnis verwirklicht werden kann. Deshalb die beschwörenden Worte:
»Unser Mariengeheimnis ist tatsächlich schlechthin die Lebensquelle, aus der wir schöpfen, ohne die wir nicht existieren können. Löst man Pallottis Idee und Werk /
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von dieser Quelle und von allem, was damit verbunden ist, so wie es sich historisch entwidrelt hat, so hat man weiter nichts in Händen als eine Form der Katholischen Aktion, die auf die Dauer nicht leben und sterben kann. (…) So stehen wir denn tatsächlich in einer Schicksalsstunde unserer Familie.«
»Was folgt aus all dem? Zunächst sind alle Gliederungen und alle Glieder unserer Gesamtfamilie aufgefordert, sich neu zu entscheiden über unser Mariengeheimnis. (…) Alle ohne Ausnahme müssen sich neu entscheiden, müssen ihren Glauben an die Göttlichkeit des Schönstattwerkes überprüfen, vertiefen und im praktischen Leben stärker sich auswirken lassen. Hier scheiden sich die Geister. (…) Die Gottesmutter hat sie (die Schönstattfamilie) ja ausersehen, um sich in ihr und durch sie in der heutigen Welt und Kirche ein Denkmal zu setzen. Wenn Sie nunmehr die ganze Priestersäule als gefährdet empfinden, sollten Sie zunächst auf diese allgemeingültige Antwort zurückgreifen und sie zu der Ihrigen machen. Sie sollte wie ein Stein sein, der ins Wasser geworfen wird und Kreise zieht bis ans ‚andere Ufer‘; das heißt sie sollte alle Glieder der Säule innerlich erfassen, in allen in gleicher Weise das Verantwortungsbewußtsein wecken, die von Gott berufen sind, das ganze Werk über alle Klippen und Abgründe hinweg ans ’neue Ufer‘ der Kirche zu bringen. Das ist das deutlich wahrnehmbare Gotteswort, die eindeutige Einladung Gottes.«
»Ihre nächste Aufgabe bestünde folglich darin, (…) zu dieser Neuentscheidung aufzufordern, aber auch durch sorgfältige Einführung in Fundamente und Zusammenhänge die gläubige Überzeugung von der Göttlichkeit /
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des Werkes zu vertiefen. (…) Mich dünkt es auch sehr ratsam, (…) zunächst die Gemüter wegen Organisationsfragen nicht zu erregen, vor allem keine Gegensätzlichkeit zu den Pallottinern und keine Feindseligkeit gegen sie aufkommen zu lassen, sondern das Hauptgewicht auf die gemeinsame Rückorientierung an den Urkräften zu legen.«
»Im übrigen dürfen Sie sicher sein: Was heute nicht erreicht wird, fällt Ihnen morgen in den Schoß, wenn Sie ernstmachen mit dem Lösepreis. (…) Sie dürfen überzeugt sein, daß wir letzten Endes unser Ziel erreichen. Die Größe der Opfer und Kämpfe dürfen Sie als Maßstab für die Größe und Fruchtbarkeit des Werkes buchen. Wer sich Gott und der Gottesmutter einmal in die Arme geworfen, muß sich auf alles gefaßt machen.«
In den folgenden Wochen führte Pater Kentenich diese Überlegungen weiter in einem langen Brief an mich, weshalb dieser Brief auch »Joseph-Brief« genannt wurde. Es handelt sich um eine Studie, die sich – ausdrücklich – an einen weiteren Leserkreis richtet, nämlich die Leitung der Gliederungen der Schönstattfamilie. Die literarische Form des Briefes machte es möglich, anhand auftauchender konkreter Fragen grundsätzliche Antworten zu geben.
Diese grundsätzlichen Darlegungen gehen in ihrer Bedeutung weit über den Rahmen -der damaligen Situation des Schönstattwerkes hinaus. Heute erhalten sie eine besondere Aktualität, weil viele in dem allgemeinen Umformungsprozeß die Erneuerung der Kirche vor allem von neuen Strukturen und Organisationsformen erwarten. Pater Kentenich zeigt in seiner Gründung /
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Wege, wie diese Problematik von Form und Geist, Organisation und Leben gelöst werden kann.
Pater Kentenich hat diese Studie nicht in einem Stück geschrieben, sondern in den freien Stunden, die ihm neben seiner Vortragstätigkeit blieben. Am 13. Mai 1952 sandte er die ersten 23 Seiten nach Deutschland. Bis zum 31. Mai hatte er den ersten Teil der Studie fertiggestellt, die 94 Seiten umfaßte und in diesem Band veröffentlicht wird. Der zweite Teil ist eine in sich geschlossene Abhandlung über das Liebesbündnis Schönstatts im Rahmen des heilsgeschichtlichen Gottesbundes, die unter dem Titel »Bündnisfrömmigkeit« veröffentlicht wird.
Die Studie wird geprägt durch zwei Tendenzen, die sich gegenseitig in Spannung halten und ergänzen. Auf der einen Seite gieht Pater Kentenich sein Lebenswerk gefährdet und wehrt sich wie ein Löwe gegen die »Einebnung« Schönstatts. Deshalb bricht immer wieder der Bezug zu aktuellen Themen im Gedankengang der Studie durch. Auf der anderen Seite sieht sich Pater Kentenich gerade wegen der Situation veranlaßt, seine Mitarbeiter tiefer in die Prinzipien seiner Gründung einzuführen. Deshalb die ausführlichen Überlegungen über die »metaphysische Grundlage des ganzen Schönstattwerkes«. Durch die Visitation war die Frage der Machtbefugnisse von Hierarchie und Schönstattbewegung akut geworden. Deshalb spricht Pater Kentenich von organisatorischer Machteinschränkung und lebensmäßiger Machtfülle. Ihm kommt es vor allem auf das Leben an, das aus dem »ungemein sprudelnden Lebens- und Gnadenstrom« gespeist wird, der im Liebesbündnis mit der Gottesmutter seine Quelle hat. Weil diese Quelle in Gefahr geraten ist, aber nach der Überzeugung Pater /
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Kentenichs ohne sie alles zusammenzubrechen droht, konzentrieren sich seine Gedanken darauf, hier tiefer zu graben, damit die Quelle noch ertragreicher wird und für die kommende Kirche und Gesellschaftsordnung viel Segen stiften kann. Um diesen neuen Lebensstrom, der vom Liebesbündnis ausgeht und gespeist wird, in möglichst weite Kreise hineinzuleiten, hat Pater Kentenich in jahrzehntelanger geduldiger Arbeit eine neuartige Organisation geschaffen.
An diese mehr grundsätzlichen Erwägungen schließen sich geschichtsphilosophische Überlegungen an. Zwei Merksätze, die sich auf das Verhältnis von Form und Geist und auf das Liebesbündnis als Quelle der schönstättischen »Geist- und Lebensfülle« beziehen, führen zunächst die vorherigen Überlegungen fort. Dann weist Pater Kentenich nach, wie Maria durch dieses Bündnis die Schönstattfamilie zu Christus und zum Vatergott geführt hat.
Pater Kentenich zeigt im folgenden auf, wie das Bündnis mit der Gottesmutter das Mittel war, die Bedrohung der christlichen und der schönstättischen Existenz zu überwinden. Die Bedrohung der christlichen Existenz kommt von der Unbegreiflichkeit im heutigen Weltgeschehen. Demgegenüber entdeckt der praktische Vorsehungsglaube – als eine konkrete Form der göttlichen Tugend des Glaubens – hinter allen Sinnlosigkeiten einen göttlichen Liebesplan. Deshalb sieht Pater Kentenich in der Erziehung zu einem solchen Vorsehungsglauben »eine zentrale Aufgabe der heutigen Seelsorge«. Im Liebesbündnis mit Maria hat er einen vorzüglichen Weg erfahren, die Menschen zu einem lebendigen Vorsehungsglauben hinzuführen.
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Auf die Frage, inwiefern das Liebesbündnis die Bedrohung der schönstättischen Existenz überwindet – man denke an die Verwicklungen im Jahre 1952 -, geht Pater Kentenich in diesem ersten Teil der Studie nicht mehr ein. Er bringt vielmehr zwei historische Beispiele für das Zusammenspiel von Liebesbündnis und praktischem Vorsehungsglauben: die Ereignisse vom 20. Januar 1942 und vom 31. Mai 1949.
Am erstgenannten Datum hatte er im Gestapogefängnis zu Koblenz darauf verzichtet, ein Verfahren einzuleiten, das ihn auf Umwegen vor dem Konzentrationslager bewahrt hätte. Das zweite Datum bezeichnet den Tag, an dem er von Chile aus eine Studie an die deutschen Bischöfe absandte, die im Gefolge die Auseinandersetzung mit römischen Behörden mit sich führte. Obwohl er diese mögliche Folge voraussah, glaubte er doch diesen Schritt zum Wohle der Kirche tun zu müssen. Welche Überlegungen ihn zu diesem Schritt bewogen, auf den er sich Jahrzehnte hindurch vorbereitet hatte, beschreibt er ausführlich in dieser Studie.
Die vorliegenden Ausführungen schrieb Pater Kentenich nur drei Jahre nach jenem Ereignis vom 31. Mai 1949. Es herrschte nicht geringe Verwirrung wegen seines Schrittes. Selbst manche von seinen Freunden verstanden sein Vorgehen nicht. Heute, nach mehr als zwanzig Jahren, kann man feststellen, daß seine Prognose sich bestätigt hat. Er mußte allerdings vierzehn Jahre in Milwaukee warten, bis seine Anliegen dank der geistigen Klimaänderung, die das Konzil herbeiführte, verstanden wurden. Im Jahre 1965 erhielt er durch Papst Paul VI. die volle Bewegungsfreiheit zurück, so daß Schönstatt heute ungehindert darangehen /
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kann, die »Sendung des 31. Mai«, oder den »Kreuzzug eines organischen Denkens, Liebens und Lebens« zu verwirklichen.
Die Ausgabe dieser Studie wurde nach folgenden Gesichtspunkten vorbereitet: Der ganze Brief wird so veröffentlicht, wie er im Originalmanuskript vorliegt, mit Ausnahme von einigen Stellen, in denen von noch lebenden Personen die Rede ist, und deren Weglassung den Gedankengang in keiner Weise beeinträchtigt. Kleinere Auslassungen sind durch (…), größere durch (……) kenntlich gemacht. Um die Übersicht über das Ganze zu erleichtern, wurde es in Abschnitte gegliedert, die im Text selbst begründet sind. Da in diesem ersten Teil der Studie die Gedankenfolge oft lose aneinandergereiht ist, sollen Zwischenüberschriften, die vom Bearbeiter stammen, dem Leser eine Übersicht über den Gedankengang vermitteln. Die in Kursiv-Druck gesetzten Worte sind von Pater Kentenich hervorgehoben. Von ihm zitierte Texte sind in kleinere Schrift gesetzt. Alle von ihm wiedergegebenen Zitate wurden mit ihrer Urschrift verglichen und Abschreibfehler der Urschrift entsprechend verbessert. Gelegentlich wurden auch die Zeichensetzung korrigiert, wenn dadurch die Intention des Verfassers besser getroffen werden konnte; denn Pater Kentenich hatte die Zeichensetzung im Originalmanuskript nicht selbst durchgesehen. Die Zahlen am Rande des gedruckten Textes geben die Seitenzahl im Originalmanuskript wieder.
Die redaktionelle Bearbeitung dieser Studie erforderte manche Überlegungen im Kreise der für die Verlagsarbeit des Patris-Verlages verantwortlichen Patres. Ihnen, wie auch besonders Herrn Franz Lüttgen, der /
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sich der Mühe der Einzelbearbeitung mit viel Sorgfalt unterzogen hat, sowie allen, die im Hintergrund das Zustandekommen der Herausgabe ermöglichten, sei herzlich gedankt.
Hält man sich das Lebenswerk Pater Kentenichs vor Augen, so kann man bestätigt finden, was Henri de Lubac einmal folgendermaßen umschrieben hat: Es gibt heute »wahre Propheten – sei es, daß sie unser Gewissen wachrütteln, indem sie uns die großen sozialen Aufgaben der Stunde zeigen, sei es, daß sie uns zu jener innersten Umkehr rufen, ohne die unsere Anfangsbemühungen ohne Fortsetzung blieben, sei es schließlich, daß sie ohne Lärm die Initiative ergreifen, die sich eines Tages als vorbildhaft mit Notwendigkeit zur Nachahmung auferlegen. Wie immer werden sie erst viel später von allen als Propheten anerkannt; wie immer behandelt man sie zunächst mit Geringschätzung oder bringt ihre Stimme zum Schweigen; denn sie schmeicheln nicht der Meinung der vielen, und ihre Botschaft erscheint hart. Doch tragen sie unter Einwirkung des Geistes dazu bei, die Kirche auf dem rechten Kurs zu halten, indem sie ihr neue Bahnen brechen, die ihr gestatten, weiter voranzuschreiten(1).«
Joseph Schmitz
Schönstatt, den 15. September 1971
(1) Henri de Lubac, Die Kirche in der gegenwärtigen Krise, in: Theologie der Gegenwart, 12. Jg. (1969), 197.
Aus: Joseph Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form, Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S. – www.Patris-Verlag.de
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