Natur und Gnade

Natur und Gnade

Paul Vautier

1. Theologiegeschichtliches
2. Natur und Gnade als Thema bei P. Kentenich
3. Die „vier Eigenschaften der harmonischen Verbindung von Natur und Gnade
4. Systematische Reflexion
5. Weitere Kontexte der Rede von Natur und Gnade

1. Theologiegeschichtliches

Die anfangs dieses Jahrhunderts vertraut klingende Formulie-rung „gratia non destruit, sed praesupponit et perficit naturam“ (die Gnade zerstört nicht, son-dern setzt voraus und vervollkommnet die Natur) hat eine reiche Geschichte hinter sich. Im ersten Jahrtausend finden wir eher Spezialisten für das eine (Natur: Tertullian) wie für das andere (Gnade: Augustinus). Prinzipielle Zuordnungen von Natur und Gnade, die dann zu der axiomatischen Formulierung führen, finden sich in der Hochscholastik ab Bonaventura und besonders bei Thomas v. Aquin. Der Akzent und die Einzelaussagen schwanken, je nach der jeweiligen Einstellung der Theologen: ob die Einheit oder die Differenz, das Vorbereitende der Natur oder das Überbietende der Gnade herausgestellt wird. Die Theologiegeschichte zeigt, dass mit der verbalen Wiederholung des Satzes noch nichts gewonnen ist: erst mit der jewei-ligen Definition von Natur und Gnade und ihrer gegenseitigen Zuordnung gewinnt die Aussa-ge ihren eigentlichen Sinn. Hans Urs von Balthasar hat mit seiner klaren Analyse des philoso-phischen Aspektes von „Natur“ und des theologischen (offenbarungsmäßigen) Aspektes von „Gnade“ die heftige innerkatholische Diskussion im deutschen Raum anfangs der fünfziger Jahre geklärt. H. de Lubac war mit seinen Studien über das „Übernatürliche“ wegweisend ge-wesen – wenn es auch noch zunächst eine große Gegenaktion gegen die „nouvelle théologie“ gab, die erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil abebbte.

2. Natur und Gnade als Thema bei P. Kentenich

„Natur und Übernatur“ ist eines der frühen systematischen Tagungsthemen P. Kentenichs. Er greift dabei zurück auf die Apologetik der damaligen Zeit, besonders auf A. Rademacher und A.M. Weiß. Diese Autoren stehen in der Tradition Scheebens, der im Rückgriff auf die Vätertradition den schematischen Begriff des Übernatürlichen in der Neuscholastik wieder zu bereichern suchte und in der Betonung des Übernatürlichen einen Gegenakzent zur rationalistischen Aufklärungstheologie setzte. Ander-seits kommt auch bei Scheeben die „organische Verbindung“ von Natur und Gnade stark zur Geltung, besonders in den Themen des Abbildlichen, des Symbolischen, der gegenseitigen Durchdringung; dies sind bezeichnende formale Konzepte Scheebens.

Das besondere Aussageinteresse P. Kentenichs ist die „organische Verbindung“ von Natur und Gnade, zunächst grundsätzlich gnadentheologisch gesehen. Er schließt sich aber den genannten Autoren auch in der Anwendung des Themas auf die praktische Ebene an; wegen seiner pädagogischen Einstellung hat er Interesse an der Verbindung des konkret Fassbaren (Natur) mit den Glaubenserfahrungen (Gnade). So werden wir bei P. Kentenich unter dem Titel „Natur und Gnade (bzw. Übernatur)“ sowohl in die Schöpfungs- und Erlösungslehre ge-führt wie in Grundthemen seiner Pädagogik, manchmal auch in die Behandlung von apologe-tischen Tagesfragen.

Schon sehr früh erscheint die „organische Verbindung von Natur und Gnade“ als ein Grund-prinzip Schönstatts. Ab 1925 finden wir besonders die theologischen Gedanken von A.M. Weiß aufgegriffen; in der Prinzipienlehre 1928 erscheint eine mehr praktisch-organisatorische Deutung. Die Kurse von 1946 enthalten eine theologisch ausgereifte Darstellung von Natur und Gnade. Zum Hauptthema der organischen Verbindung von Natur und Gnade tritt der Ge-sichtspunkt der „Naturopferung“ hinzu. Die Perspektive ist nicht mehr nur systematisch, son-dern auch stark biblisch-christologisch. Anfang der 60er Jahre stellt P. Kentenich das Prinzip „gratia supponit naturam…“ nochmals als „philosophische Grundlage“ seiner Erziehung dar, wobei das „Philosophische“ hier in einem sehr weiten Sinne genommen werden muss, weil viele theologische Inhalte integriert werden.

3. Die „vier Eigenschaften der harmonischen Verbindung von Natur und Gnade“

Ursprüng-lich, pflichtmäßig (im Sinne von: verwiesen auf), wirksam und einigend. Diese vier Eigenschaf-ten, die P. Kentenich in den zwanziger Jahren von A.M. Weiß übernimmt, bedeuten schon eine klare Abwendung von einer neuscholastischen „Stockwerkstheologie“ in Richtung der späteren „nouvelle théologie“. P. Kentenich betont mit Hilfe dieser Ausdrücke sowohl die na-türlich-übernatürliche Bestimmung des Menschen („ursprünglich“, „pflichtmäßig“) zur Vereini-gung mit Gott (keine „natura pura“) wie die Bedeutung und nur relative Eigenständigkeit der Natur. Die wirksame oder fruchtbare Verbindung („einigend“) ist für ihn die theologische Grundlage der Pädagogik, die zunächst am „Natürlichen“ ansetzt (Naturvollendung), ohne deswegen im Naturalismus zu verbleiben (Naturerhöhung) oder die Grenzen des Natürlichen zu verkennen (Naturopferung). Die Verbindung mit der Übernatur hebt darum die Natur des Menschen nicht auf, sondern bringt sie in ihrer ganzen Fülle (leiblich-seelisch-geistig) zur Ent-faltung.

4. Systematische Reflexion

Bei der geschilderten theologischen Sachlage, dass „Natur“ und „Gnade“ unscharfe Begriffe sind, die der jeweilige Theologe von seinen Positionen her im ein-zelnen definiert, ins Verhältnis setzt und wertet, muss die systematische Reflexion des The-mas bei P. Kentenich von den Grundanliegen seiner Darlegungen ausgehen und sich nicht an (womöglich fremden) philosophischen und theologischen Details festhaken. Diese Grundan-liegen kann man so zusammenfassen:

4.1. Weite, Horizont und Spannung der Anthropologie P. Kentenichs. Sowohl das Natürliche wie das Übernatürliche soll in seiner Sicht des Menschen ganz zur Geltung kommen. Er wendet sich sowohl gegen den Supranaturalismus wie gegen den Naturalismus.

4.2. Die Verbindung von Natur und Gnade sieht er unter ausgesprochen pädagogischer Per-spektive. Übernatürliche Beziehungen setzen normalerweise natürliche voraus; die religiöse Erlebnisfähigkeit wird normalerweise durch die frühkindlichen Erlebnisse in der Familie grundgelegt.

4.3. Der Ordnungsbegriff (natürliche – übernatürliche Ordnung) wird nicht dazu verwendet, um Natur und Gnade zu trennen, sondern um den Reichtum und die Größe des von Gott im Glaubensbereich Geschenkten (Gnade) zu demonstrieren.

4.4. Die Formel „Natur und Gnade“ wird bei P. Kentenich zu einer allgemeinen Redeweise und hat eine Entsprechung im >>“organischen Denken“. Natur und Gnade werden in innigster Weise verbunden gesehen; Natur ist Ausdruck, Mittel und Schutz für die Gnade, die Natur bildet das Gnadenhafte vor und ab, die Natur ist pädagogisch, der Genese nach (nicht dem Wert nach) Voraussetzung für das Übernatürliche. Dies gilt für den Normalfall; P. Kentenich weiß, dass Gott nicht an eine solche Regel gebunden ist.

4.5. Läge der Akzent einseitig und ausschließlich auf der organischen und harmonischen Entwicklung von der Natur zur Gnade, bestünde die Gefahr einer einseitig hamonisierenden pädagogischen Theorie. Die theologia crucis, die notwendige Rede von der „Naturopferung“, ist aber bei P. Kentenich ebenfalls vertreten.

5. Weitere Kontexte der Rede von Natur und Gnade

P. Kentenich hat dem Prinzip von Natur und Gnade eine sehr grundsätzliche Bedeutung zugemessen und es in der Darstellung der Grundprinzipien Schönstatts verwendet. Sein Anliegen ist es, Natur und Gnade nicht als stati-sche Begriffe zu sehen oder voneinander zu trennen. Vielmehr bringt er Natur und Gnade in Beziehung zu anderen zentralen Begriffen seiner theologisch-spirituellen Konzeption, wie „Lebensvorgang“, „Gott der Geschichte“, „Vorsehungsglaube“, „Plan“, „organisches Wachs-tum“, die mehr die geschichtlich-dynamische und pädagogisch-psychologische Dimension zum Ausdruck bringen.


Literatur:

  • J. Kentenich, Natur und Übernatur. Fortführungstagung für Akademiker (23.-30. September 1925), verv.S, A 4, 51 S. – Fortführungstagung in Schönstatt, Pfingsten 1926. Natur und Gnade (28.-30. Mai 1926), masch., A 4, 20 S.
  • J. Kentenich, Allgemeine Prinzipienlehre der Apostolischen Bewegung von Schönstatt (gleichnamige Tagung aus den Jahren 1927-1929, verschiedene Mitschriften) 1927-1929
  • J. Kentenich, Vollkommene Lebensfreude. Priesterexerzitien (7.-13. Oktober 1934), Vallendar-Schönstatt 1984
  • J. Kentenich, Das katholische Menschenbild. Tagung 1946, verv. A 5, 121 S.
  • J. Kentenich, What is my philosophy of education?, in: Philosophie der Erziehung. Prinzipien zur For-mung eines neuen Menschen und Gemeinschaftstyps. Bearbeitet von Herta Schlosser, Vallendar 1991, 39-89
  • H.U. von Balthasar, Karl Barth, Olten 1951
  • U. Kühn, Gnade und Natur, Berlin 1961
  • M. Marmann, Praeambula ad gratiam, Diss. Regensburg 1973
  • A. Rademacher, Gnade und Natur, Mönchengladbach 1914
  • A.M. Weiß, Anhang über das Verhältnis von Natur und Gnade, in: M.J. Scheeben, Die Herrlichkeiten der göttlichen Gnade, Freiburg 111919, 659 673

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

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