Bei der familienpsychologischen Übertragung geht es zuerst um eine Ausweitung der primären Mutterbeziehung auf den Vater. In der Mutterbeziehung wird die affektive Disposition für das Eingehen von Beziehungen für das ganze Leben vorgeprägt. Die Mutter-Kind-Beziehung ist für das ganze Leben entscheidend. Aber es darf nicht allein bei der Mutter-Kind-Beziehung bleiben (keine Fixierung). Nach J. Kentenich hat die Mutter die Aufgabe, “zum Vater zu führen”, denn das Kind kann von sich aus nicht wissen, wer sein Vater ist, während die Beziehung zur Mutter schon vor der Geburt beginnt.[202] Das Muttererlebnis und die positive Emotionalität, die in der Mutterbeziehung entstehen konnte, überträgt das Kind auf den Vater als die nächste Bezugsperson: “Es kommt derjenige an die Wiege des Kindes, den das Kind später als Vater verehrt. Das Gefühl, das das Kind der Mutter gegenüber spontan erlebt, überträgt sich auf den Vater. Hat das Kind die Mutter als ein gütiges Wesen erlebt, überträgt es dieses Erlebnis auf den Vater.”[203]
Die Übertragung lässt die erste Bindung weiter bestehen. Es handelt sich um eine “Ausweitung” der ersten Beziehung oder um ein “Hineinnehmen” einer anderen Person in die Gefühlsbindung. Durch die Aufnahme der Beziehung zum Vater verändert sich das Gefühl des Kleinkindes der Mutter gegenüber. Das Kind erlebt die Mutter nicht nur als individuelle Person, sondern als in-Beziehung-stehend zu jemand anderem. Dadurch weitet sich die Beziehung zur Mutter, wird offener: “Wenn der Vater gütig ist und so erlebt wird, assoziiert sich ein zweites gütiges Wesen dem ersten, dem gütigen Wesen der Mutter.”[204] Würde das Kind aber den Vater in negativer Weise erfahren, dann würde das Kind auch in der Beziehung zur Mutter verunsichert.
Die Ausweitung der ersten Beziehung auf die Vaterbeziehung erschließt darüber hinaus immer weitere Beziehungsmöglichkeiten. Zuerst kommt es zur Beziehung zu den Geschwistern, dann über den engeren Raum der Familie hinaus bis in die ganze soziale Wirklichkeit hinein. Dabei fließen die vorherigen Erfahrungen in die folgenden Beziehungen immer mit ein. Die in den vorigen Beziehungen aktivierten Gefühle werden auf neue Bezugspersonen übertragen. Am meisten ausschlaggebend bleibt die Mutterbindung, die das ganze Leben lang nachwirkt: “Im späteren Leben überträgt sich dieses Gefühl, das ich dem ersten Menschen gegenüber gehabt habe, dem ich begegnet bin, auf alle, die irgendwie meine Liebe wecken.”[205]
Ein Zitat von J. Kentenich sei diesem Abschnitt vorangestellt: “Normalerweise setzt ein tiefes religiöses Erlebnis ein entsprechendes Erlebnis in der natürlichen Ordnung voraus. Ein religiöses Vatererlebnis setzt ein Vatererlebnis in der natürlichen Ordnung voraus. Ein religiöses Muttererlebnis setzt normalerweise ein entsprechendes Erlebnis in der natürlichen Ordnung voraus. Dasselbe gilt, wo es sich um brüderliche oder schwesterliche Liebe handelt.”[207]
J. Kentenich stellt fest, dass die frühesten Eindrücke im Leben des Menschen die Seele am stärksten prägen. Das fängt schon vor der Geburt an[208]. Allgemein lässt sich nach J. Kentenich sagen, dass die Seele aufnahmefähig ist und nichts vergißt. In den ersten Lebensjahren ist die Seele noch am meisten formbar, sie ist sogar auf Formung angewiesen. So prägen die ersten grundlegenden Eindrücke das ganze Leben.
Die erste und tiefste Erfahrung des Kindes ist die Erfahrung der Mutter[209]. Die Mutter stillt das Urbedürfnis des Menschen nach Geborgenheit. In der Beziehung zu ihr erschließt sich das Kind die Wirklichkeit als eine insgesamt gute und Verlässliche. J. Kentenich nennt das eine “Geborgenheit im Gemüt”[210], wobei “Gemüt” die Personmitte, den Personkern bezeichnet. Wo der Mensch sich in seinem Innersten als geborgen erlebt, kann man auch im Sinne E.H. Eriksons von “Grund-” oder “Urvertrauen”[211] reden; im Falle eines Versagens der ersten Beziehung von einem “Grundmisstrauen” (“Urmisstrauen”), das kaum wiedergutgemacht werden kann.
Das Muttererlebnis vermittelt das Vertrauen in die Wirklichkeit als Ganze und disponiert dafür, Gott als den tragenden Grund dieser Wirklichkeit anzusehen. J. Kentenich behauptet, das Muttererlebnis erschließe überhaupt die Fähigkeit zu religiösem Erleben.[212]
Wenn J. Kentenich vom “religiösen Muttererlebnis”[213] spricht, dann meint er meistens die Beziehung zu Maria. Das Erlebnis der eigenen Mutter erleichtert den Zugang zu ihr. Weil die Beziehung zur Mutter das tiefste Erlebnis des unmündigen Kindes ist, kann die religiöse Erlebnisfähigkeit in der Beziehung zu Maria geweckt werden.[214] Ein ganz harmonisches, positives natürliches Muttererlebnis ist aber nicht unabdingbare Voraussetzung für eine gelingende Beziehung zur Mutter Gottes. Das Mutterbedürfnis ist so grundlegend für den Menschen, dass der Überschritt zu Maria auch bei Menschen gelingen kann, die ein schlechtes Verhältnis zur natürlichen Mutter haben oder von ihr getrennt aufgewachsen sind. Den Zugang zu Maria hält J. Kentenich insgesamt für relativ einfach, so dass Maria eine wichtige psychologische Rolle zukommt, um einen Zugang zur religiösen Wirklichkeit zu finden. Das entspricht auch theologisch ihrer Aufgabe, zu Gott-Vater zu führen.[215] Ergänzend soll erwähnt werden, dass Maria als Frau Symbol ist für die weibliche Dimension Gottes im Heiligen Geist.[216]
Weniger häufig finden sich Ausführungen über Gott als “Mutter”. Meistens spricht J. Kentenich vom “Vater-Gott”, seltener ist der Ausdruck “Mutter-Gott”.[217] Das Bild, das J. Kentenich vom Vater-Gott zeichnet, trägt jedoch nicht nur typisch männlich-väterliche, sondern auch viele mehr weiblich-mütterliche Züge, so dass sich mit einem solchen Gottesbild ein “religiöses Muttererlebnis” verbinden lässt.[218]
J. Kentenich sieht auch einen Zusammenhang zwischen Mutterbild und Kirchenbild. Insofern mit Augustinus die Kirche als Mutter gesehen werde, gibt es auch eine Übertragung des Muttererlebnisses auf die Vorstellung, die man sich von der Kirche macht.[219]
Die Vaterbeziehung ist die zweite grundlegende Beziehung des Menschen. Das natürliche Vatererlebnis gibt dem Menschen einen “festen Halt”, schenkt ihm “ein triebmäßiges Autoritätsbewusstsein und damit eine erlebnismäßige Sicherheit”[220] oder eine “triebmäßige Sicherheit”[221]. Die väterliche Autorität “schenkt geistige und lebensmäßige Geborgenheit. Die triebmäßig erlebte väterliche Autorität schenkt dem Kind auch gleichzeitig durch Wort und Beispiel ein originelles Weltbild und eine tiefgreifende Kontaktmöglichkeit.”[222] Diese Zitate sind im Folgenden zu erklären.
Die Beziehung zum Vater antwortet wie die Mutterbeziehung auf ein grundlegendes Bedürfnis des Menschen. Der Vater wird als groß, stark, mächtig erlebt. Damit vermittelt der Vater das Gefühl, beschützt zu sein (Sicherheit). “Triebmäßige Sicherheit” meint eine echte, die im Inneren fest verankert ist, nicht eine äußerliche, gespielte. Die Triebe sind Grundkräfte und können nicht so leicht verändert werden, auch für den Willen nur schwer zugänglich. Wenn also die Triebstruktur des Menschen von dem Gefühl der Sicherheit und der Geborgenheit geprägt ist, dann kann man von einem gesunden Menschen sprechen. Insgesamt ist es wohl so, dass die Sicherheit, die der Mensch als Kind am Vater erlebt, internalisiert wird und zu einer eigenen inneren Größe wird.
Die Autorität des Vaters ist Führung, Ordnung, Dienst an der Originalität, Verlässlichkeit. Es kommt darauf an, wie der Vater seine Autorität gebraucht. Tut er es in der rechten Weise (nicht willkürlich, überharte, sondern gerecht, verständnisvoll und einsichtig, soweit es der Fassungskraft des Kindes entspricht), so wird das Bedürfnis des Kindes nach Orientierung befriedigt. Dabei wird die moralische Gewissensbildung mit grundgelegt (Über-Ich). Die Autorität des Vaters vermittelt einen Maßstab, eine grundsätzliche Orientierung in Bezug auf die Wirklichkeit der Welt, den das Kind sich nicht selbst geben kann, sondern übernehmen muss.
Die Vaterbeziehung als erste sekundäre Beziehung führt über den engen Horizont der Mutter-Kind-Bindung hinaus und schenkt so eine Kontaktfähigkeit in Bezug auf andere, weitere Menschen und auf die Welt.
Voraussetzung ist allerdings ein positives Vatererlebnis. Das ist dann der Fall, wenn es von “Vaterliebe”, “Vaterweisheit” und “Vatersorge” geprägt ist[223]. Einem solchen Vater gegenüber erlebt man sich als Kind (Kindeserlebnis). Das Kindeserlebnis ist aus dem Mutter- und Vatererlebnis zusammengesetzt. Was in diesem Abschnitt zur Bedeutung der Vatererfahrung gesagt wurde, gilt in ähnlicher Weise für die Muttererfahrung: auch in der Bindung an die Mutter wird Sicherheit vermittelt und durch die mütterliche Autorität Orientierung gegeben. Es geht um eine Akzentverschiebung: Die Funktion, die her dem Vater zugesprochen wurde, kommt ähnlich auch der Mutter zu, aber typischerweise oder im Regelfall mehr dem Vater als der Mutter. Im Einzelfall kann es anders oder umgekehrt sein.
Das Kindeserlebnis ist die Voraussetzung dafür, sich auch vor Gott als Kind zu erfahren und den eigenen Kindern oder den anvertrauten Personen (als Erzieher) ein Vater zu sein.[224] Das Bild, das man vom eigenen Vater hat, bestimmt nach J. Kentenich im Wesentlichen das Gottesbild als “himmlischen Vater”.
Ein Beispiel, das J. Kentenich gerne ausführt, für die Bedeutung der Beziehung zum natürlichen Vater für die Gottesbeziehung ist Therese von Lisieux[225]: “‘Sie blickt auf den Vater, der Vater blickt auf Gott, und so lernt sie durch ihn auf Gott blicken.’ Die einfachste Art: Das lebendige Beispiel des Vaters führt das an ihn hängende Kind unmittelbar zum lieben Gott. (…) Da gibt es keine Trennung zwischen irdischem und himmlischem Vater. Beides fließt im Empfinden und Denken der kleinen heiligen Theresia zusammen. Deswegen ist sie so gesund gewachsen. Deswegen ist sie für uns heutige Menschen so vorbildhaft.”[226]
Die Bedeutung der Vaterbeziehung für die Gottesbeziehung kann besonders deutlich werden, wenn man Gottesbilder betrachtet, die sich Menschen machen, die als Kinder eine sehr negative Vatererfahrung gehabt haben. Ich verweise auf Kap. 7.3.5.a.
Noch mehr als über die Mutterbeziehung macht J. Kentenich Aussagen über die Bedeutung der Vaterbeziehung für die Gottesbeziehung. Das liegt aber nicht daran, dass er die Bedeutung der Vaterbeziehung höher einschätzt als die der Mutterbeziehung, sondern daran, dass er in der heutigen Zeit die Vaterbeziehung für gefährdeter als die Mutterbeziehung ansieht.[227] In J. Kentenichs Begriff vom “Vatergott” sind viele weibliche, mütterliche Züge mit enthalten, ähnlich wie beim biblischen Begriff von Gott als Vater.[228] So ist insgesamt zu sagen, dass das Elternerlebnis insgesamt auf die Gottesbeziehung übertragen wird, nicht nur die Vater- oder die Mutterbeziehung.
In der Beziehung zu den Geschwistern erlebt sich das Kind mehr oder weniger auf der gleichen Stufe mit anderen Menschen, und doch gibt es Verschiedenheiten: ältere Geschwister, jüngere, stärkere, schwächere, Bruder oder Schwester. Das Kind lernt soziales Verhalten: Kontaktfreudigkeit, Rücksicht, Toleranz, Initiative… . In den Geschwisterbeziehungen sind alle späteren sozialen Vergemeinschaftungen vorgebildet.[229] Die Menschen werden als Mitmenschen gesehen. Nach J. Kentenich ist für das Gefühl der geschwisterlichen Verbundenheit das Wissen um eine gemeinsame Abstammung und die Präsenz einer gemeinsamen Autorität notwendig. In der Familie sind es Vater und Mutter (bei J. Kentenich vor allem der Vater als “Haupt” der Familie), in der Kirche hat diese Einheitsfunktion der Papst, im Staat das Staatsoberhaupt. Ohne echte väterliche Autorität, die in der natürlichen Familie ihre Grundlage hat, kommt es im Staat zu Fehlformen der Vergemeinschaftung, der eine eigentliche innere Verbundenheit abgeht: Diktatur oder Kommunismus.[230] Über allen weltlichen Autoritäten muss aber Gott als letzte Autorität anerkannt werden, sonst kann es unter den Menschen keine wahre Geschwisterlichkeit geben.[231] Das dem Menschen gerechter werdende Modell für Kirche, Staat, Gesellschaft und alle Formen menschlichen Zusammenlebens ist nach J. Kentenich die Familie, sind nicht die Geschwister oder das Gleichheitsprinzip. In der Familie sind alle gleich der Würde nach, aber es gibt unterschiedliche Stellungen und Funktionen.[232]
Die familiären, freundschaftlichen Beziehungen sind auch Ausgangspunkt für zwei wichtige Erlebnisgrößen: Heimat und Nation. Das Erlebnis von Heimat und die nationale Identität fördern ein positives Verhältnis zur Welt und die Identifikation des Menschen mit sich und seiner Umgebung.[233] Durch das Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen wird der Lebensraum aus einer bloß zufälligen lokalen Gegebenheit zur Heimat. Die Menschen, die darin wohnen oder eine gemeinsame kulturelle, religiöse Geschichte teilen, fühlen sich als Nation.[234]
Auch das Erlebnis der Geschwister und der Familie ist die Voraussetzung für ganz bestimmte religiöse Beziehungen.[235]
Klöster[236] und andere religiöse Gemeinschaften[237] sind Vergemeinschaftungen aus einer religiösen Motivation, bleiben aber in erster Linie menschliche Gemeinschaften. Daher gilt auch für sie das Gesetz der Übertragung von familiären und geschwisterlichen Erlebnissen, die in der Naturfamilie gemacht wurden. Diesem soll in der Struktur der religiösen Gemeinschaften nach dem Familienmodell Rechnung getragen werden.[238]
Ohne das Erlebnis der natürlichen Familie bleiben bestimmte religiöse Wahrheiten bloßes Wissen, ohne dass sie erfahrbare Wirklichkeit werden. Z.B. dass alle Christen Geschwister sind[239], Kinder eines gemeinsamen Vaters[240], Glieder am Leib Christi, zur Nächstenliebe verpflichtet[241]usw.
Heimat und Kirche hängen zusammen. Heimat ist ein so umfassendes, ganzheitliches Erlebnis, dass J. Kentenich fordert, die Kirche müsse für die Christen zur Heimat werden müsse.[242] Auch die Religion insgesamt hat mit Heimat zu tun. Religion ist Teil das Heimaterlebnisses, und es gibt eine “Beheimatung” in der Religion.[243] Weiterhin gibt es eine “übernatürliche Heimat” – den Himmel – und eine Sehnsucht danach und eine “Beheimatung” schon jetzt in der übernatürlichen Welt durch die Beziehungen zu Gott und zu Maria, Engeln und Heiligen.[244]
a. Verlust der Vaterrolle[245]
J. Kentenich konstatiert eine kulturelle Krise, in die die Vaterrolle geraten sei. Gründe für diese Krise sieht er folgende: (1) äußere in Kriegs- und Nachkriegssituation, (2) innere in einer jahrhundertelangen geistesgeschichtlichen Entwicklung.
Der 2. Weltkrieg habe vor allem in Deutschland äußerlich die Familien auseinandergerissen. Die Väter wurden von ihren Familien über einen längeren Zeitraum getrennt. Bei der Wiederkehr blieb oft eine emotionale Distanz, weil sich Mann und Frau in der Zwischenzeit weiterentwickelt hatten. Die Väter seien häufig krank, verletzt, pflegebedürftig zurückgekehrt und böten nur ein schwaches Vaterbild. Inzwischen hätten die Frauen die Verantwortung übernommen und behielten sie dann auch weiterhin. Damit habe der Vater seine Position verloren. Ein weiterer Grund ist der, dass eine Enttäuschung am Vater stattgefunden habe, weil die Väter während des Krieges ihre Familie nicht hätten wirksam gegen die Auswirkungen des Krieges schützen können.[246]
Im Blick auf die modernen westlichen Gesellschaften[247] konstatiert J. Kentenich ebenfalls einen Verlust der Vaterrolle. Der Vater werde in den Medien und im öffentlichen Bewusstsein zur Witzfigur. Die Ursache liege im Abbau einer gesunden Auffassung von Autorität im Gefolge der französischen Revolution mit ihrer Parole “Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit”. Politisch und gesellschaftlich wirksam sei dann das Gleichheitspostulat im Kommunismus geworden, dessen Ideologe K. Marx gewesen sei, der selbst an seinem Vater gelitten habe und daher liebesgestört gewesen sei. Diese Entwicklung des totalen Verlusts der Vaterrolle sei gleichzeitig eine Gegenbewegung zum jahrhundertelangen Missbrauch mit väterlicher Autorität.[248]
J. Kentenich hat wesentlich stärker die Vaterrolle im Blick als die Mutterrolle, wenn er von einer “Krise” spricht. Von einer Unterbewertung der Mutter kann nach dem oben ausgeführten keine Rede sein. Offenbar war die Mutterrolle zu seinen Lebzeiten nicht so gefährdet wie die Vaterrolle. Vielleicht müsste man heute auch die Mutterrolle immer mehr mit in den Blick nehmen. Jedenfalls ist heute eine allgemeine Krise der Familie festzustellen. Für J. Kentenich liegt die Wurzel dieser Krise in den gestörten innerfamiliären Beziehungen, die ein Symptom sind von der “Liebesnot” des modernen Menschen.
b. Liebesnot als Ursache für die Krise der Familie
Die Liebesnot des modernen Menschen ist nach J. Kentenich die “Krankheit der heutigen Zeit”[249]. Andere Ausdrücke, die dieselben Zusammenhänge meinen, sind: “Gemeinschaftsunfähigkeit”, “Bindungsunfähigkeit”, “Kontaktnot”[250]. J. Kentenich zeichnet die Liebesnot des Menschen deutlich als Ursache für die Krise der Familie: “Wer in seinem Leben, zumal in Kindheit und Wachstumszeit, viel Liebesmangel und Liebeshunger aushalten musste, wird für gewöhnlich das ganze Leben hindurch an Liebesfähigkeit krank bleiben. Nicht umsonst spricht man heute allenthalben von der Kontaktnot oder Kontaktschwäche oder der Kontaktunfähigkeit des modernen Menschen. Sie ist nicht nur eine ansteckende Krankheit gewöhnlicher Art, sie muss als eine schreckliche Seuche gebrandmarkt werden, die sich nicht nur im Verkehr der Menschen untereinander, sondern sich auch im geheiligten Schoß der Familie einnistet und überall Unheil anrichtet. Wie häufig muss man gestehen, dass heutige Eltern bereits Kinder von liebesgestörten Eltern sind.”[251]
Die Liebesnot betrifft den Mann nach J. Kentenich noch stärker als die Frau, da der Mann wegen seiner Triebstruktur Schwierigkeiten hat, seine emotionale Seite zu integrieren und echte Liebe zuzulassen. Ein gesundes Vatererlebnis kann es aber nicht geben, wo der Vater keine emotionale Wärme vermitteln kann.[252]
c. Auswirkung auf die gesellschaftliche und religiöse Situation
Die Auswirkungen fehlender oder negativer Mutter- und Vatererlebnisse auf die persönliche Entwicklung des Menschen sind verschiedenste seelische Krankheiten oder Mangelerscheinungen, die sich nach dem unter “Bedeutung der Mutter- bzw. Vaterbeziehung” Gesagten ergeben. Zusammenfassend lässt sich die Schädigung als
“Wurzellosigkeit”[253] bezeichnen. Es handelt sich um den Verlust des eigenen Persönlichkeitskerns, innere Haltlosigkeit, Ich-Verlust, oder wie immer man es ausdrücken will. Innerhalb der heutigen Gesellschaft droht der heutige Mensch zu “vermassen”, d.h. er wird einer von vielen ohne persönliche Originalität, ohne eine feste Meinung (er übernimmt sie von der Mehrzahl) und ohne Charakterfestigkeit: “Im Maße personale Liebe zum personalen menschlichen und göttlichen Du schwindet, versachlicht und verzwecklicht sich das urtümlich gegebene, oder doch wenigstens grundgelegte Verhältnis zu den Mitmenschen und Gott und macht so die Bahn frei für den seelenlosen, freiheitsmüden und entscheidungsunfähigen Massenmenschen.”[254]
Weitere gesellschaftliche Erscheinungen sind “moralische Apathie”, “Entfesselung der Triebe”, Sexualisierung der Frau (“Hypostasie der Weib-Idole”).[255]
Die Krise der Familie hat auch Auswirkungen auf die Glaubenssituation. Für einen lebendigen, ganzheitlichen Glaubensvollzug fehlt die natürliche Grundlage in weiten Kreisen der Bevölkerung. Die Folge ist eine “Verkopfung” des Glaubens. Die Glaubenswahrheiten werden zur bloßen Idee und verlieren ihre Bedeutsamkeit für das Leben. Die Menschen schaffen es nicht mehr, zu einer wirklich personalen Gottesbeziehung zu kommen.[256] Das führt schließlich zum Atheismus in gesellschaftlichen Dimensionen.[257] Weitere Folgen aus dem fehlenden Gottesglauben sieht J. Kentenich in “religiösem Irrationalismus und betäubendem Mystizismus”.[258]
Mit dem Eintritt in die Pubertät gerät die Beziehung des Jugendlichen zu seinen Eltern in eine Krise.[259] Er fängt an, sich emotional von seinen Eltern zu distanzieren. Dieser Ablösungsprozess von den Eltern kann mehr oder weniger radikal und schmerzlich verlaufen. Zusammen mit den Eltern verlieren auch die Werte, Vorstellungen, Haltungen und Glaubensüberzeugung, die sie repräsentieren, an Überzeugungskraft. Häufig gerät damit der Kinderglaube in eine Krise. Eine solche Glaubenskrise verläuft auf mehreren Ebenen. Sie betrifft den jungen Menschen ganzheitlich: emotional und kognitiv. Es ist ein emotionaler, psychischer Ablösungsprozess und eine Auseinandersetzung auf der geistig-kognitiven Ebene, bei der die Überzeugungen der Eltern kritisch hinterfragt werden.[260] Das kann zu einer neuen Glaubensentscheidung oder zu einer totalen Abkehr vom Glauben führen.
Der Ablösungsprozess vom Elternhaus und bisher selbstverständlichen identitätsstiftenden Überzeugungen ist für den Jugendlichen ein schmerzlicher Vorgang in seiner Persönlichkeitsentwicklung. Er ist notwendig, weil der Jugendliche eine neue Identität finden muss. Die Identität des Kindes ist zu eng geworden. Die neue Identität des Erwachsenen ist noch nicht erreicht.
J. Kentenich beschreibt verschiedene Etappen der Identitätsfindung:[261] 1. Stadium: Scheu vor sich selber. Am Anfang steht eine Phase der “Ich-Verwirrung” verbunden mit einer Entfremdung von sich selber, einer großen Unsicherheit und dem Gefühl der Einsamkeit.[262] 2. Stadium: Schau des verklärten, idealisierten Ich. In dieser Phase treibt eine starke “Sehnsucht” die Phantasie an, Bilder und Idealvorstellungen hervorzubringen. Diese Ideale haben mit dem Selbstkonzept und der “Selbstentfaltung” zu tun.[263] 3. Stadium: Durchsetzungswille. Die Wunschträume gehen weit über das hinaus, was der junge Mensch eigentlich ist. Der Versuch, die Idealvorstellungen durchzusetzen, führt zum Zusammenstoß “mit der rauhen Alltagswirklichkeit”.[264] 4. Stadium: Ich-Entdeckung und Ich-Eroberung. Der Jugendliche lernt, sich an die eigene und die ihn umgebende Realität anzupassen und sich mit sich selbst zu identifizieren.[265] Dabei bleibt im gesunden Menschen ein Teil seines Idealismus erhalten, der ihn zeit seines Lebens antreibt, immer weiter zu wachsen und sich nie nur mit der Realität des Faktischen abzufinden.[266]
a. Identifikationsfiguren
Beim Prozess der Identitätsfindung spielen Beziehungen eine entscheidende Rolle. Andere Personen oder Persönlichkeiten im näheren oder weiteren Umkreis des Jugendlichen werden interessant und versprechen Halt und Identifikationsmöglichkeiten. Das können Stars, Idole, Personen des öffentlichen Lebens sein, aber auch ältere Jugendliche, besonders angesehene Kameraden und Erwachsene, die im näheren Blickkreis des Jugendlichen stehen. Eine Identifikationsfigur kann auch der Religionspädagoge sein, der als Religionslehrer(in), Pfarrer, pastorale(r) Mitarbeiter(in), Internatserzieher in Kontakt mit dem Jugendlichen tritt.[267]
b. Idealisierung und Übertragung in der Beziehung
Psychologisch ist ein Übertragungsvorgang greifbar: Die Idealvorstellungen, die die Sehnsucht im Jugendlichen produziert, werden auf die Umwelt und vor allem auf Personen übertragen.[268]
Der Jugendliche sucht die Nähe seiner Vorbilder und tritt in eine Beziehung zu ihnen, die J. Kentenich mit dem Begriff der “Erotik” kennzeichnet.[269] Er definiert “Erotik” in einem heute nicht mehr gebräuchlichen Sinn als “beschauende Hingabe an die im Menschen idealisierte, verkörperte Idee des Guten und Schönen”[270]. Es handelt sich also um eine “Idealisierung” der Bezugsperson, die aber für J. Kentenich in einer bestimmten Entwicklungsphase gesund und notwendig ist. Dabei werden die eigenen Idealvorstellungen auf einen anderen übertragen, der einem etwas voraushat (Alter, Reife, Ansehen, Wissen…).[271]
Können die Idealvorstellungen nicht in Verbindung mit einer wirklichen Person[272] gebracht werden, dann verblaßt der Idealismus zu einem traurigen, passiven Realismus oder er bleibt weltfremd übersteigert und für das praktische Leben genauso wirkungslos.[273] Die Idealvorstellungen müssen an der konkreten Wirklichkeit verifiziert werden. Dabei entsteht die eigene Identität.
In der pädagogischen Beziehung ist der Erzieher eine Person, auf die der Jugendliche überträgt. Mit dem jugendlichen Idealismus muss der Erzieher vorsichtig und ehrfürchtig umgehen. Er ist herausgefordert, an sich selbt zu arbeiten, um dem Jugendlichen ein wirkliches Vorbild zu sein. Er muss zwar in vielem die Idealvorstellungen des Jugendlichen enttäuschen – schon allein durch seine normalen menschlichen Schwächen – und auf den Boden der Realität zurückholen. Aber in dieser Realität, die der Erzieher für den Jugendlichen repräsentiert, muss etwas von dem, was der Jugendliche ersehnt, greifbar werden. Der Erzieher muss aufpassen, dass er den Idealismus nicht zerstört, denn dann gehen viele Werte, innere Reichtümer und Wachstumsmöglichkeiten im Jugendlichen kaputt.[274]
a. Übertragung auf geistliche Eltern
Nach J. Kentenich hat der Jugendliche wie jeder Mensch das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit, auch wenn er sich von seinen physischen Eltern ablöst. Bei diesen kann er dieses Bedürfnis nun nicht mehr befriedigen.[275] In der Unsicherheit seiner Identitätskrise braucht der Jugendliche Orientierung und neuen Halt. Die emotionale und geistige Sicherheit in der Beziehung zu seinen Eltern hat der Jugendliche weitgehend verloren. In dieser Situation kann unter Umständen durch die Übertragung der Elternbindung auf den Erzieher dieser an die Stelle der physischen Eltern treten und neu ein emotionales Geborgenheits- und Sicherheitsgefühl vermitteln[276]: “In jedem Menschen steckt halt dieses überaus starke Geborgenheitsbedürfnis. In der normalen Entwicklung wird aber dieses Geborgenheitsbedürfnis beim Einbruch der Reifenot bei den leiblichen Eltern nicht mehr in genügendem Maße befriedigt. (…) Instinktiv ringt jede Seele nach einem festen Halt, nach einem Menschen, der dasteht wie aus Fels gehauen, der aber auch gleichzeitig gütig und anpassungsfähig ist. Und nur da kann die Seele ihr Geborgenheitsbedürfnis anklammern (…). Was wird also übertragen? Unser Geborgenheitsbedürfnis wird losgelöst von den natürlichen Eltern und übertragen auf geistliche Eltern, auf den geistlichen Vater oder die geistliche Mutter “[277].
Dabei übernimmt der Erzieher oder die Erzieherin in einer Person sowohl die Funktion der Mutter wie des Vaters. Beide Funktionen ergänzen sich gegenseitig. Das Mütterliche steht mehr für Qualitäten wie Güte, Verständnis, Annahme, das Väterliche für das Kraftvolle, Fordernde und auch Sicherheit Vermittelnde, wobei die Grenzen fließend sind und die/der jeweilige Erzieher(in) mehr das eine oder mehr das andere verkörpert.[278]
b. Bedeutung der geistlichen Elternschaft für die religiöse Erziehung
Für die Wirkung der Beziehung Erzieher-Jugendlicher gilt im Prinzip dasselbe wie für die Eltern-Kind-Beziehung. J. Kentenich spricht von “geistlicher Vaterschaft” oder geistlicher Mutterschaft”. Psychologisch gesehen schafft diese pädagogische Beziehung eine starke Stütze bei geistigen und sittlichen und bei Glaubens-Krisen, vor allem in der Adoleszenz.[279]
J. Kentenich hält die personale Beziehung, wie sie die geistliche Elternschaft darstellt, für unabdingbar in der religiösen Erziehung: “Wo diese innere Bindung nicht vorhanden ist, da können wir einpacken mit unseren erzieherischen Erfolgen. Da können wir den Körper vielleicht beugen (uns äußerlich herab neigen); da können wir Mimik machen, aber eine wahre Erziehung ist nicht möglich. Denn nur in dem Maße ist wahre Erziehung möglich, als diese innere Bindung zustande gekommen ist.”[280]
a. Ungleichheit der Partner in der pädagogischen Beziehung
Für die weitere Entwicklung und Ausreifung der Gottesbeziehung in der Jugend ist in der Regel entscheidend die Beziehung zu einer religiösen Gemeinschaft[282] oder Person. In einer solchen Beziehung wird für den Jugendlichen der Glaube greifbar erlebt.
Innerhalb einer religiös orientierten Gruppe oder in der Pfarrei erlebt der Jugendliche “geschwisterliche” Beziehungen von Mitchristen, die in derselben Lage sind wie er: auf dem Weg des Suchens, Zweifelns und Glaubens. Die Gemeinsamkeit des Glaubensweges unterstützt die Glaubensentwicklung des Jugendlichen.
Anders ist das Verhältnis der beiden Partner bei der geistlichen Elternschaft. Der Erzieher ist wie der Jugendliche ein Mitchrist auf dem Glaubensweg, und doch steht er nicht einfach auf derselben Ebene wie der Jugendliche. Er ist für den Jugendlichen eine “Autorität”. Nachdem so vieles zur geistlichen Elternschaft und auch schon zur Bedeutung der Eltern für die Persönlichkeits- und Glaubensentwicklung gesagt wurde, ist es nicht mehr nötig, den Sinn einer solchermaßen durch Autorität gekennzeichneten pädagogischen Beziehung zu begründen. Gleichwohl sind hier einige Bemerkungen zum Umgang mit der Autorität am Platze.
b. Herkunft der Autorität
Die Ungleichheit in der pädagogischen Beziehung ist nicht allein institutionell begründet (äußere Autorität), sondern sie liegt in der Natur der Sache. Dass der Jugendliche sich an den Erzieher bindet, liegt an dem inneren Bedürfnis nach neuer Orientierung, nach Halt und Geborgenheit, das zu seiner gesunden Entwicklung dazugehört.[283] Kann der Erzieher diesen Bedürfnissen entsprechen, dann bekommt er von selber eine “innere Autorität”.[284] Das stellt hohe Anforderungen an die Reife und Authentizität des Erziehers.[285]
c. Grenze und Norm der Autorität
Die geistliche Elternschaft des Religionspädagogen dem Jugendlichen gegenüber bedeutet nicht, dass das gegenseitige Verhältnis von Bevormundung und Unterwerfung geprägt ist. Selbstverständlich sind in dieser Beziehung die beiden Partner nicht gleich. Aber der Erzieher hat nicht das Recht, den Jugendlichen zu bevormunden. Er steht einer immer mündigeren und reiferen selbständigen Persönlichkeit gegenüber, der der Erzieher mit “Ehrfurcht” zu begegnen hat.[286]
Forderungen an den Jugendlichen kann der Erzieher stellen, wenn er auch Forderungen an sich selbst stellt und wenn eine tragfähige Beziehung vorhanden ist, die vom gegenseitigen Vertrauen geprägt ist. Aber diese Forderungen dürfen nicht zu Befehlen werden, sondern sollen Appelle an die Freiheit und die Einsicht des Jugendlichen sein. Der Jugendliche soll selber entscheiden lernen, was für ihn gut und richtig ist. Wenn er nur mechanisch gehorcht, geschieht nach J. Kentenich keine wirkliche Erziehung sondern nur Dressur.[287]
Die Freiheit und Persönlichkeit des anderen sind für den Erzieher Grenze und Ziel (Grundnorm) seiner Tätigkeit, wie es J. Kentenich schon zu Beginn der Geschichte der Schönstattbewegung formuliert.[288] Die erzieherische Autorität richtig verstanden grenzt nicht die Möglichkeiten des anderen ein, will ihn nicht zu einer Kopie von sich selbst machen oder bestimmte objektive Leitbilder durchsetzen, sondern ermuntert und unterstützt den Jugendlichen in dem Prozess, die eigene Identität und Originalität zu finden und zur freien Persönlichkeit auszureifen. Die Überzeugungen und Werte, die der Erzieher verkörpert, sind für den Jugendlichen lediglich ein Angebot und eine wertvolle Identifikationsmöglichkeit. Für J. Kentenich ist richtige Autorität daher kurz zusammengefasst “selbstloser Dienst am fremden Leben”[289].
d. Partnerschaft in der Erziehung
Der Erzieher wie der Jugendliche sind beide noch unterwegs im Glauben und in der persönlichen Entwicklung, so dass der Erzieher, obwohl er dem Jugendlichen etwas voraus haben soll, auch seine Schwierigkeiten haben darf und dazu auch stehen soll. Sonst würde er dem Jugendlichen nur etwas vormachen, was dieser früher oder später sowieso merken würde.[290] Auf der Ebene des Noch-Unterwegs-Seins, des Noch-Nicht-Fertig-Seins bekommt die pädagogische Beziehung auch eine partnerschaftliche Dimension.
Es ist nicht so, dass der Erzieher nur etwas zu geben hat und der Jugendliche nur empfängt, sondern auch umgekehrt. “Es gibt kaum etwas Schöneres, als Erzieher sein zu dürfen. Wer wirklich Erzieher ist, der wird durch seine Erziehertätigkeit viel mehr geformt, als er selber formt. Das Erziehen ist ein gegenseitiger Zeugungsakt. Das ist das Geheimnis der Erziehung, des Erziehungsvorgangs. Wenn ich als der “Herr” da stehe und meine Gefolgschaft das “Geschärr” ist, dann ist das Unterricht, aber keine Erziehung. Wenn ich nicht geöffnet bin den Werten meiner Gefolgschaft gegenüber, dann öffnet sie sich nicht für meine Werte. Sie mögen die Fälle multiplizieren! Als Prinzip sollten wir insgesamt merken, ob wir Väter oder Mütter in der natürlichen Familie sein dürfen oder ob wir geistig Väter und Mütter sein dürfen: Alle Not und Unart unserer Gefolgschaft muss erst durch unser Herz gehen, ehe eine Reaktion von den Lippen weitergegeben wird. Sie muss erst im Herzen verarbeitet werden bis in die letzte Wurzel unseres Seins. Dann reifen wir ständig den Wachstumsgesetzen gemäß einer kraftvollen, gottbegnadeten Persönlichkeit entgegen.”[291] P. Kentenich führt verschiedene Beispiele an: Ein Erzieher, der sich der Disziplinlosigkeit der Jugendlichen konfrontiert sieht, soll sich fragen, “wie viel Disziplinlosigkeit in meinem Herzen wurzelt, in meinem Leben und Benehmen sich auswirkt.”[292] Ein gleiches gilt bei Infantilismus[293], bei Krisen auf sittlichem und religiösem Gebiet, bei der Sexualerziehung[294]. Und wo der Erzieher bei sich keine Schwierigkeiten wahrnimmt, soll er sich nach seinen Schwachheiten auf anderen Gebieten befragen.
Auf diese Art werden die Bemühungen des Jugendlichen zu den Bemühungen des Erziehers. Ebenso darf der Erzieher erwarten, dass sein Bemühen einen Widerhall beim Jugendlichen findet. Die gemeinsamen Bemühungen vertiefen die Beziehung und lassen sie zu einer Partnerschaft werden. Beide Partner wachsen miteinander in einer Solidarität der Erziehung. Der Erzieher ist somit im Erziehungsvorgang keine neutrale Instanz, sondern er wird selber existentiell betroffen und bringt sich persönlich ein.
a. Frühkindliche Schädigung in der Persönlichkeits- und Glaubensentwicklung
J. Kentenich mißt den ersten Lebensjahren des Menschen entscheidende Bedeutung bei für die Entwicklung des Menschen sein ganzes Leben hindurch. Er konstatiert gleichzeitig das kulturelle Phänomen, dass die Rolle des Vaters und damit das Erlebnis des Vaters für viele Kinder ausfällt. Auch negative Elternerlebnisse, durch die Kinder fürs ganze Leben emotional und psychisch schwer geschädigt werden, kennt J. Kentenich zur Genüge. Vor allem hat er die früher oft üblichen überstrengen Erziehungsmethoden der Väter im Blick. Wir können aus heutiger Sicht an die erschreckenden Phänomene von KindesMissbrauch und Kindesmisshandlung denken: “Wir (…) wissen von der Grausamkeit und Brutalität ungezählt vieler Väter, zumal, wo es sich um Kinder in unmündigem Alter handelt. – Wissen wir es nicht aus eigener Erfahrung? Man sagt uns ja: Das Kind ist im Wesentlichen mit vier bis fünf Jahren fertig, bis dahin ist der Charakter im Kern gebildet. Es steckt viel Richtiges darin. – Man will damit wohl sagen: In diesem Alter nimmt das kindliche Empfinden und Gemüt eine bestimmte Richtung an; und das Gemüt, das jetzt gebildet wird, begleitet das Kind durch das ganze Leben.. Sehen Sie: All die Erschütterungen im kindlichen Gemüt, die Brutalität und Grausamkeit, die von uns Vätern ausgeht, senken sich in das Gemüt des Kindes und wirken verheerend das ganze Leben hindurch.”[295]
Die psychischen und emotionalen Schädigungen der Persönlichkeit durch eine negative frühkindliche Elternerfahrung und wie sie sich im späteren Leben äußern, kann ich an dieser Stelle im Einzelnen nicht ausführen. Hinweisen möchte ich aber auf die Schädigung des Gottesbildes, das durch die Übertragung des Vatererlebnisses auf die Vorstellung vom Vatergott entsteht. Wie ein positives Vatererlebnis ein positives Gottesbild fördert, so beeinflusst ein negatives Vatererlebnis die Gottesvorstellung negativ. J. Kentenich redet von “Verfärbungen” der Gottesvorstellung “nach zwei Richtungen”[296]: Der Ausfall des Vaters oder die Erfahrung eines schwachen, zu nachgiebigen Vaters (physisch zwar präsent, in seiner Vaterrolle aber emotional als abwesend erfahren) führt zu einer Vorstellung eines schwachen Gottes (eines “Großväterchens”), der ohnmächtig den Lauf der Welt geschehen lässt und eigentlich überflüssig ist und für das eigene Leben ohne Bedeutung ist. Das Erlebnis eines überstrengen Vaters führt zu der Vorstellung eines bedrohlichen, übermächtigen, kontrollierenden, unfrei machenden Gottes (“Polizeiagent”, “Diktator”, “Richter”).[297]
Beide Gottesbilder müssen überwunden werden. Das erstere ist für das Leben ohne Bedeutung und wird leicht dazu führen, dass der jugendliche religionslos wird oder einen neuen Glauben dagegen eintauscht. Die zweite Gottesvorstellung entspricht einer krankhaften Über-Ich-Instanz und schädigt die Persönlichkeit.
b. Heilung durch Nacherlebnisse
Die Heilung von Schädigungen, die durch eine Störung frühkindlicher Elternbindungen entstanden sind, kann nach J. Kentenich in einer Beziehung geschehen, in der sich ein Jugendlicher oder Erwachsener an einen anderen Menschen bindet, der für ihn Elternstelle einnimmt. In dieser Beziehung können Heilungsprozesse ablaufen, in denen das nachgeholt wird, was in der frühen Kindheit versäumt wurde. Grundbedürfnisse wie die nach Sicherheit und Geborgenheit, die nur durch andere Menschen befriedigt werden können, werden nun von der neuen Bezugsperson gestillt, die eine Art “Ersatzvater” oder “Ersatzmutter” darstellt. J. Kentenich spricht von einem “Nacherlebnis echter Kindlichkeit”. [298] Allerdings sind das sehr langsame und schwierige Prozesse, in denen das negative frühkindliche Elternerlebnis aufgearbeitet werden muss, so dass es nicht mehr aus dem Unterbewussten durchbricht und wirksam wird. Gleichzeitig muss in der Beziehung ein neues, positives Elternbild geformt werden, das das alte ersetzt.[299]
[202] Vgl.: PT 51, 99.106.
[203] PT 51, 191.
[204] PT 51, 191.
[205] PT 51, 191.
[206] Vgl.: Czarkowski, 228-232.
[207] PT 51, 45.
[208] Vgl.: PT 51, 99: “Sie (die Mutter, d.V.) ist es, die das unbewusste Seelenleben des Kindes schon formt, wenn es noch im Mutterschoße ist.”
[209] Vgl.: PT 51, 105.
[210] Vgl.: PT 51, 100.
[211] Vgl.: Erikson, E.H.: Kindheit und Gesellschaft, Stuttgart 1961 (Orig.: Childhood and Society, by W.W. Newton and Company Inc., New York), 60.67.228-232.245.345.
[212] Vgl.: PT 51, 106.
[213] Vgl.: PT 51, 45.
[214] Vgl.: PT 51, 105.
[215] Vgl.: PT 51, 106.
[216] Vgl. u.a.: MPr 41, 85f; EAD 51, 7-9; BT 52 III, 250-52; DD 63 II, 56; DD 63 IX, 162.
[217] Vgl.: ExKG 37, ?
[218] Vgl.: PT 51, 50f.
[219] Vgl.: St 49, 144-149 (in: Causa, 131f).
[220] Vgl.: PT 51, 87.
[221] Vgl.: PT 51, 100.
[222] PT 51, 87.
[223] Vgl.: WPhE 59, 75.
[224] Vgl.: WPhE 59, 70; BethEx 37, 49-55.92-131.162.
[225] Vgl.: PT 51, 47-54.
[226] PT 51, 48.
[227] J. Kentenich sprach vor allem in die Nachkriegszeit bis zu seinem Tod 1968 von der Vaterproblematik. Heute in der Situation einer immer weiter fortschreitenden Auflösung und Krise der Familie insgesamt, müssten diese Ausführungen mit einer vertieften Betrachtung auch der Mutterbeziehungen ergänzt werden.
[228] Vgl. die von Schlosser zur Problematik der Vaterrede von Gott zusammengestellten Gedanken in: WPhE 59, 7-23.
[229] Vgl.: PT 51, 208.
[230] Vgl.: PT 51, 88f.
[231] Vgl.: WPhE 59, 75.
[232] Vgl.: WPhE 59, 71.
[233] Vgl. ausführlich zu Wesen und Bedeutung der Heimat: PT 51, 163-225.
Zur Bedeutung der Nation vgl.: NAB 48, 114ff, in: WPhE 59, 119f.
[234] Vgl.: PT 51, 169ff, bes.: 170: “Volkstümlich gesehen, ist Heimat gleichbedeutend mit der Familie. Die Grund- und Urform der Heimat und der Beheimatung sollte normalerweise die Familie, die natürliche Familie sein.”
[235] Vgl.: PT 51, 45ff.
[236] Vgl.: PT 51, 50.
[237] Vgl.: PT 51, 124.
[238] Vgl.: Czarkowski, 154-158.
[239] Vgl.: PT 51, 209.
[240] Vgl.: WH 37, 168f.
[241] Vgl.: FP 54, 434f.
[242] Vgl.: PT 51, 173.
[243] Vgl.: PT 51, 208.
[244] Vgl.: PT 51, 170f.
[245] Vgl. auch: Blankenhorn, David, Fatherless America – confronting our most urgent social problem, Basic books, 1995 (ISBN 0-465-01483-6).
[246] Vgl.: PT 51, 84f.
[247] J. Kentenich hielt sich zum Zeitpunkt dieser Aussagen in den USA auf.
[248] Vgl.: WPhE 59, 70-72; PT 51, 85ff.
Karl Marx (1818-1883).
[249] Vgl.: WPhE 59, 72-75.
[250] Vgl. auch: FP 54, 395-419.
[251] WPhE 59, 72.
[252] Vgl.: WPhE 59, 74.
[253] Vgl.: NAB 48, 211-220, in: WPhE 49, 146-153.
[254] WPhE 59, 75.
[255] WPhE 59, 75.
[256] Vgl. u.a.: NAB 48, 189.193, in: WPhE 59, 133f; St 49, 13f.25f.134-140.144-149 (in: Causa, 126-132); UMS 66, 47-60.67-72; Vortrag an Verbandspriester vom 25.11.66, in: T31Mai 74, 229-248; VP II 67, 45-64; WT 67, 23-27, in: T31Mai 74, 269-273; Vautier, Maria, 225-232.
[257] Vgl.: WPhE 59, 70 (hier bezogen auf den Verlust der Vaterrolle): “Vaterlose Zeiten sind gottlose Zeiten. Sie sind fast notwendig dazu verurteilt, Atheisten verschiedenster Art in Hochkulturen großzuziehen.”
[258] St 49, 140 (in: Causa, 130).
[259] Vgl.: JPT 31, 116.
[260] Vgl.: SFKJPsy 26, 50ff.
[261] Vgl.: SFKJPsy 26, 62ff; JPT 31, 267ff.
[262] Vgl.: SFKJPsy 26, 37.
[263] Vgl.: SFKJPsy 26, 46.
[264] Vgl.: SFKJPsy 26, 70.
[265] Vgl.: SFKJPsy 26, 39.
[266] Vgl.: SFKJPsy 26, 65ff.
[267] Vgl.: JPT 31, 312.
[268] Vgl.: SFKJPsy 26, 71.
[269] Vgl.: SFKJPsy 26, 74ff.
[270] JPT 31, 311.
[271] Vgl.: JPT 31, 312.
[272] Vgl.: SFKJPsy 26, 72.
[273] Vgl.:SFKJPsy 26, 40.71.
[274] Vgl.: JPT 31, 315.
[275] Vgl. Czarkowski, 230.
Vgl. JPT 31, 116.
[276] Vgl.: SFKJPsy 26, 39.45.
[277] JPT 31, 116f.
[278] Vgl. Czarkowski, 231.
[279] Vgl.: JPT 31, 122.
[280] JPT 31, 117; vgl. auch: PT 50, 186f: “Wenn nicht tiefergehende personale Beziehungen zwischen Erzieher und Zögling vorhanden sind und wenn nicht gleichzeitig der Erzieher so ganz in der übernatürlichen, jenseitigen Ebene, bei Gott, zu Hause ist, so dass er im Namen Gottes die Forderungen stellen kann und sie erreicht durch das gegenseitige Verhältnis, dann ist es heute unmöglich, mit Forderungen an unsere Jugend heranzutreten. Die persönliche Gebundenheit erleichtert auf der ganzen Linie das gegenseitige Verhältnis.”
Vgl. PT 51, 87ff. 138ff.
[281] Vgl.: JPT 31,117; PT 50, 209ff.218f; PT 51, 87.
[282] Vgl.: PT 51, 11-126.
[283] Vgl. Czarkowski, 231.
[284] Vgl.: WPhE 59, 79.
[285] Vgl.:SFKJPsy 26, 50.
[286] Vgl.: JPT 31, 233-242.
[287] Vgl.: JPT 31, 117.
[288] Vgl. die programmatische Ansprache des neu eingesetzten Spirituals J. Kentenich an die ihm anvertrauten Jugendlichen vom 27.10.1912, die als “Vorgründungsurkunde” in die Geschichte der Schönstattbewegung eingegangen ist: SchöGU 67, 12: “Welches ist unser Ziel? (…): Wir wollen lernen, uns unter dem Schutze Mariens selbst zu erziehen zu festen, freien priesterlichen Charakteren.”
[289] PT 51, 86. Vgl.: JPT 31, 260.287.
[290] Vgl.: SFKJPsy 26, 50.
[291] PT 51, 142f.
[292] PT 51, 141.
[293] Vgl. PT 51, 145: “Unter Infantilismus verstehen wir eine schreiende Disharmonie zwischen unserer geistig-seelischen Einstellung zum Leben und unserem Lebensalter.”
[294] Vgl. PT 51, 141-143.
[295] PT 50, 215.
[296] Vgl.: StExMü 67, 173f.
[297] Vgl.: StExMü 67, 173f.
[298] Vgl. PT 51, 101: “(…) ein Nacherlebnis echter Kindlichkeit, ein Nachkosten des Vater- und Muttererlebnisses, auch Nachkosten des Geschwistererlebnisses. Das mag praktisch konkretisiert sein im Vatererlebnis. Worin besteht das Nacherlebnis? Das, was ich früher nicht erleben konnte, darf ich nacherleben. Das setzt voraus, dass der liebe Gott mir einen Vater, eine Mutter schenkt – wenn Sie so wollen: einen Ersatzvater, eine Ersatzmutter -, an denen ich alles nacherleben darf, was ich als Kind in der natürlichen Familie nicht oder nicht genügend habe leben und erleben dürfen.”
[299] Vgl.: PT 51, 102: “Es ist viel leichter, von Kindheit an ein gesundes Vater- und Kindes- und Muttererlebnis zu haben als später nachzuholen. Das alte Vaterbild muss in solchem Falle nicht nur theoretisch, sondern erlebnismäßig ausgelöscht werden. Wird das alte, kranke Vaterbild der Kinderzeit nicht ausgelöscht, kann das neue nicht herrschend und beherrschend das Herz erfüllen. Jahrzehntelang kann es dauern, bis diese Arbeit zum Abschluss gebracht ist. Selbst wenn man schon älter geworden ist, wenn man meint, das neue Vater- und Muttererlebnis wäre tief gegründet, bricht immer wieder aus dem unterbewussten Seelenleben das frühere Vater- und Mutterbild durch und kommt nach oben. Wer deswegen Vater- und Mutterstelle vertreten darf, muss sich gefasst machen auf lange, lange Sicht auf ungezählt viele Krisen in dem neu angenommenen Kind.”