Einleitung

1. Einleitung

1.1. Untersuchungsgegenstand und Einordnung

J. Kentenich[1], der Gründer der internationalen Schönstatt-Bewegung, verstand Schönstatt in erster Linie als eine „Erziehungsbewegung“[2] und entwickelte ein umfassendes pädagogisches System, das er in Theorie und Praxis umsetzte, aber selber nie als Ganzes dargestellt hat. Heute gibt es viele Untersuchungen zu einzelnen Aspekten und eine Reihe von Studien, die einen Überblick über das pädagogische System schaffen wollen.[3] Aber eine systematische Gesamtdarstellung der Schönstatt­pädagogik steht immer noch aus. Ich verstehe diese Arbeit als einen kleinen Beitrag zur Erhellung des pädagogischen Anliegens von J. Kente­nich, vor allem was die psychologischen Grundlagen der Schönstatt­pädagogik betrifft.

Diese Arbeit stellt an J. Kentenich und seinen pädagogisch-psycholo­gischen Ansatz die Frage nach der Bedeutung der natürlichen Beziehung für die Gottesbeziehung. Die These im Anschluß an J. Kentenich ist, dass noch vor jeder explizierten Rede von Gott oder religionspädagogischen Methode in der menschlichen Beziehung unthematisch eine Gottes­beziehung vermittelt wird. Der normale Weg zur Gottesbeziehung führt nach J. Kentenich über die natürlichen menschlichen Beziehungen.

Wie sich J. Kentenich den Zusammenhang zwischen natürlichen Beziehungen und der Gottesbeziehung denkt, erklärt er durch das Gesetz der organischen Übertragung und Weiterleitung. Es erklärt, wie eine menschliche Beziehung zustande kommt, wie weitere Beziehungen entstehen und wie sie schließlich zu einer Gottesbeziehung führen. Dieses Gesetz gilt generell für alle menschlichen Beziehungen, ist also nicht nur auf die pädagogische Beziehung anzuwenden. Aber die Berücksichtigung dieses Gesetzes ist für J. Kentenich Grundlage für die religionspädagogische Glaubensvermittlung.

Das Ziel dieser Arbeit ist eine ausführliche Darstellung dieses Gesetzes der organischen Übertragung und Weiterleitung. Es geht darum, den Weg zur Gottesbeziehung über die menschliche Beziehung zu beschreiben. Andere Aspekte, die man auch unter „Erziehung in Beziehung“ sehen kann und die wesentlich zur pädagogischen Beziehung gehören, wie etwa Wertevermittlung und Persönlichkeitsformung, werden nur berührt aber nicht ausführlich behandelt. Ferner können im Rahmen dieser Grundlagenarbeit konkrete Anwendungen für die Praxis in bestimmten Erziehungssituationen oder Beziehungswirklichkeiten nur angedeutet werden. Was diese Arbeit auch nicht leistet, ist eine eingehende Diskussion des kentenichschen Ansatzes, etwa auf dem Hintergrund eines Vergleichs mit anderen religionspädagogischen oder psychologischen Ansätzen.[4]

1.2. Anlage der Arbeit

Beim Gesetz der organischen Übertragung und Weiterleitung fließen theologische und psychologische Überlegungen mit ein, wobei der Akzent eindeutig auf der psychologischen Seite liegt, was sich in der Gewichtung dieser Arbeit widerspiegelt. In Kap. 2. werden daher zunächst die theologischen Grundlagen der Schönstattpädagogik dargestellt. Das Kapitel ist kurz gehalten, um der nachherigen Analyse der psycho­logischen Zusammenhänge mehr Raum zu geben. Es erhebt nicht den Anspruch, die theologischen Grundlagen der Pädagogik J. Kentenichs im Gesamt darzustellen, sondern steht unter der Frageperspektive, wie J. Kentenich sich den Zusammenhang von Psychologie und Theologie vorstellt, da er in seinem Ansatz beides zusammendenkt (besonders auch beim Gesetz der organischen Übertragung und Weiterleitung).

Auch die Darstellung der psychologischen Grundlagen der Pädagogik bei J. Kentenich ist begrenzt. J. Kentenich ist der Meinung, einen eigenständigen psychologischen Ansatz entwickelt zu haben.[5] In diesem Ansatz legt er sich nicht auf eine spezielle Schulrichtung der Psychologie fest. Er wendet sich auch nicht nur einer Spezialdisziplin der Psychologie zu, sondern zieht Ergebnisse aus allen Feldern heran.[6] Auf diesem Hintergrund ist klar, dass ich nur einen Bruchteil des psychologischen Konzeptes von J. Kentenich darstellen kann. Im Kap. 3. versuche ich das psychologische Anliegen und den psychologischen Grundansatz J. Kentenichs (die Lehre vom Bindungsorganismus) im Sinne eines Überblicks herauszuarbeiten. Das Gesetz der organischen Übertragung und Weiterleitung, das ich in den Kap. 4.-9. schrittweise darstelle, ist Teil seiner Grundkonzeption vom Bindungsorganismus.

1.3. Methodik

Wer sich mit der Psychologie bei J. Kentenich befassen will, sieht sich mit einer Reihe von Schwierigkeiten konfrontiert:

J. Kentenich selbst hat sein psychologisches Konzept nie als einen systematischen Gesamtentwurf dargestellt. Gleichwohl lassen sich verstreut in seinen Schriften, Studien, Vorträgen usw. deutliche Anzeichen einer profilierten Theoriebildung erkennen.[7]

J. Kentenich ist kein Fach-Psychologe und hat seinen psychologischen Ansatz im Umfeld seiner Pädagogik formuliert. Die Leistung J. Kentenichs besteht nicht darin, eine Psychologie an sich entwikelt zu haben, sondern in der Verbindung von Psychologie und Pädagogik.[8] Der psychologische Ansatz J. Kentenichs muss daher aus dem pädagogischen Kontext herausgearbeitet werden.[9]

Da J. Kentenich nicht im heutigen Sinne wissenschaftlich gearbeitet hat, ist es ein mühsames Unterfangen, die in seinem Lebenswerk vorfind­baren Elemente zu einem psychologischen Gesamtentwurf zusammenzutragen. Z.B. gibt es nur wenige längere Fallbeschrei­bungen[10], an denen man seine Vorgehensweise studieren könnte.

J. Kentenich bleibt in dem bisher erschlossenen Schrifttum auf einer mehr allgemeinen, prinzipienhaften Ebene. Zu konkreten Umsetzungen und Anwendungen müsste man erst noch die Praxis von J. Kentenich erheben. J. Kentenich hat nach eigenen Aussagen und nach Zeugnissen therapeutisch gearbeitet und im Rahmen seiner pädagogisch-pastoralen Tätigkeit tatsächlich psychisch kranke Menschen geheilt.[11] Er hat jedoch keine psychotherapeutischen „Methoden“ beschrieben, die man einfach übernehmen könnte.

Ein möglicher Umstand, warum sich J. Kentenich in der Darstellung seines Ansatzes zurückhalten musste, war zeit seines Lebens der Verdacht kirchlicherseits, er sei ein Anhänger der Psychoanalyse. Öfters nimmt er Stellung gegen den Vorwurf des „Psychologismus“ und verteidigt gleichzeitig sein psychologisches Anliegen.[12]

So steht man vor einer Fülle von Material, die einerseits deutlich macht, wie wichtig für J. Kentenich sein psychologischer Ansatz ist, andererseits aber verlangt, die Inhalte der psychologischen Lehre aus verschiedensten Texten unterschiedlicher Qualität und aus verschiedenen Zusam­men­hängen herauszuarbeiten, zusammenzutragen und zu ordnen. Dabei stößt man immer wieder auf offengelassene Fragen. Man steht vor sprachlichen Verstehensproblemen und der Notwendigkeit, von anderen Entwürfen abzugrenzen.

Eine exakte wissenschaftliche Aufarbeitung der psychologischen Lehre J. Kentenichs würde verlangen:

  • Untersuchung der Schriften J. Kentenichs, die Mitschriften und Tonbandaufzeichnungen, die längst noch nicht alle gesammelt und redigiert wurden.
  • Bearbeitung seiner Briefkorrespondenz, die in die Zehntausende geht, unter dem Blickwinkel, wie er konkret mit Menschen umgegangen ist und welche Methoden und praktische Vorgehensweisen darin wiederzufinden sind.
  • Befragung heute noch lebender Personen, die von J. Kentenich therapeutisch oder pädagogisch-pastoral begleitet wurden.
  • Untersuchung der religiösen Gemeinschaften, die J. Kentenich gegründet hat und in denen er seine Lehre praktisch konkret verwirklicht und angewendet hat.

Diese Arbeit, die von Fach-Psychologen geleistet werden muss, wurde noch kaum in Angriff genommen. Eine wissenschaftliche Beurteilung über den Wert des psychologischen Ansatzes, kann nur vorgenommen werden, wenn das Konzept von J. Kentenich klar herausgestellt worden ist.

Als Fachfremder sehe ich meine Aufgabenstellung darin begrenzt, das vorgefundene Material zu ordnen und darzustellen. Für diese Arbeit standen mir eine Fülle von Quellentexten zur Verfügung. Ich konnte mich auch auf einige Studien stützen, die Teile der psychologischen Lehre J. Kentenichs herausarbeiten. Zur Erhellung des Übertragungskonzeptes bei J. Kentenich durch die Gegenüberstellung mit der Tiefenpsychologie in Kap. 7. stütze ich mich sowohl auf diese Studien, wie auch auf Texte der jeweiligen psychologischen Autoren.


[1] Pater Josef Kentenich (1885-1968). Pallottiner.

1910 Priesterweihe. 1914 Gründung von Schönstatt. Ab 1919 feigestellt zum Aufbau und Ausbau der Schönstatt-Bewegung. 1941 Gefangener der Gestapo. 1942-45 Konzentrationslager Dachau. 1945-51 Weltreisen zum Ausbau der Bewegung. 1951-65 Exil in Milwaukee/USA. 1965 Rehabilitation und Rückkehr nach Schönstatt.

[2] Vgl.: NAB 48, 235, in: WPhE 59, 158; WPhE 59, 42; FP 54, 334.336; SchöTPsy 62, 2; Schlosser, 51, 83f.

[3] Schmidt, Hermann: Organische Aszese. Ein zeitgemäßer, psychologisch orientierter Weg zur religiösen Lebensgestaltung, Paderborn, 1938, 4. Aufl. 1940; Bleyle, M.: Erziehung aus dem Geiste Schönstatts, Münster 1965; Frömbgen, M.E.: Neuer Mensch in neuer Gemeinschaft. Zur Geschichte und Systematik der pädagogischen Konzeption Schönstatts, Vallendar 1973.

[4] Lediglich in Kap. 7. erfolgt eine Gegenüberstellung von J. Kentenich mit zwei tiefenpsychologischen Ansätzen.

[5] Darin stimmen ihm alle Autoren zu, die dazu Stellung genommen haben; vgl.: Avalos, B., Rasche, A.: El Organismo de Vinculaciones en la Pedagogía de Schoenstatt, 74ff; Czarkowski, 224ff; Vautier, Maria, 289 (Anm. 409).

[6] Czarkowski nennt: Persönlichkeitspsychologie, Sozialpsychologie, Entwicklungspsychologie, Tiefenpsychologie, Religions- und Pastoralpsychologie; vgl. Czarkowski, 29f.

[7] Vgl.: Czarkowski, 30.

[8] Vgl.: Czarkowski, 28.31.172.175.

[9] Vgl.: Czarkowski, 26.

[10] Vgl.: CN 55, 245.372f.384.520-522; St 60, 46-48; DD 63 II, 174-183.

[11] Vgl.: St 60, 112f.
Seit 1921/22 begleitete J. Kentenich Patienten aus der psychiatrischen Klinik von Dr. Bergmann, Kleve.

[12] Vgl.: BrMärz 55, 6.7.14 (Hug).