Tiefenpsychologie

Tiefenpsychologie

M. Erika Frömbgen

Tiefenpsychologie ist ein Sammelbegriff für alle psychologischen Theorien und Praktiken, die davon ausgehen, dass sich die menschliche Psyche nicht ausschließlich und primär von ihrem bewussten Erleben und Verhalten aus erklärt, sondern als von unbewussten Voraussetzungen wesentlich mitbestimmt zu verstehen ist. Da sich die Tiefenpsychologie zunächst ausschließlich aus der therapeutischen Behandlung psychopathologisch bedingter Störungen entwickelt hat, gilt sie heute noch als eine primär darauf bezogene und eingegrenzte Fachrichtung mit einer Vielzahl von Schulen und Methoden (P. Kentenich bezieht sich z.B. auf Dieter Wyss 1961). Inzwischen haben ihre Ergebnisse auch andere Fachrichtungen der Psychologie inspiriert und durch populärwissenschaftliche Veröffentlichungen eine entsprechende Breitenwirksamkeit erreicht. Die interdisziplinäre Auseinandersetzung von Seiten der Pastoraltheologie mit den verschiedenen Theorien und Praktiken der Tiefenpsychologie hat erst begonnen und wird aufgrund der anthropologischen Differenzen im wissenschaftlichen Vorverständnis und durch die Einbeziehung mythologischer Traditionen aus den verschiedensten Kulturen unter dem Aspekt der Archetypen z.T. kontrovers ausgetragen.

P. Kentenich gehört zu den Pionieren, die als Priester, Seelsorger und Lehrer zeitgleich mit der aufkommenden Tiefenpsychologie die latent verborgene „Tiefenseele“ mit ihren un- und unterbewussten Vorgängen und Möglichkeiten ernst genommen und berücksichtigt haben. Nach seiner Erfahrung und wiederholten Aussage wird ein Großteil menschlichen Handelns weit mehr von un und unterbewussten Voreinstellungen denn von bewussten Vorentscheidungen bestimmt. So verwendet er schon früh die Ausdrücke „bewusstes, unbewusstes und unterbewusstes Seelenleben“. Dem Unterbewussten ordnet er alle jene seelischen Dispositionen zu, welche die bewussten maßgebend beeinflussen, ohne direkt erkennbar zu sein (positive und/oder negative Motive, Voreinstellungen, Erlebnisse, Erfahrungen). Tiefenpsychologische Erkenntnis zielt daher seinerseits zeitlebens auf tiefenpsychologische Selbsterkenntnis, auch „Läuterung und Reinigung des un und unterbewussten Seelenlebens“, „Herzensreinigung“ oder „Infinitismus der Tiefe“ genannt, die in der „affektiven Reife“ angestrebt wird.

Da P. Kentenich nicht wie andere Autoren primär über den pathologisch therapeutischen Erfahrungsweg seine Erkenntnisse gewann, sondern Menschen aller Alters und Berufsgruppen vorzugsweise in ihrem geistig-geistlichen Werde und Reifungsprozess begleitete, kam er auch zu anderen Teilergebnissen und methodischen Konsequenzen als diese (vgl. >>Bindungsorganismus, >>Erleben/Erlebnis, >>praeambula fidei, >>Psychologie der Zweitursachen, >>Übertragung u. Weiterleitung).

Bei Gelegenheit einer Rechtfertigung derselben gegenüber den Vertretern der Kirche gibt er 1962 selbst Auskunft über seine Tiefenpsychologie, die er von den oben genannten Schulen abgrenzt und als genuiner Teil Schönstatts verstanden wissen will: „Angeklagter weiß um die hier berührten modernen Strömungen, hat sich aber allezeit zur Genüge davon distanziert und seine Selbständigkeit bewahrt. Das Anliegen jedoch, um das es hier geht, war von Anfang an für ihn eine Herzenssache. Es ist es bis heute geblieben. Es musste so sein und bleiben, wenn Schönstatt seine zeitgemäße Sendung als ausgeprägte >>Erzieher- und Erziehungsbewegung in einer vollkommen gewandelten Zeit im Sinne des neuesten Zeitenufers gottgefällig lösen wollte.“

Diese klare Abgrenzung und Zielangabe wird mit Blick auf sein Anliegen ergänzt: „Sein ganzes Leben hindurch schwebte ihm ein einziges großes Ideal vor Augen: Gott und die Seelen. Alles andere war für ihn Nebensache. Es wurde zielstrebig dieser einen großen Lebensidee ein- und untergeordnet. Es ging ihm immerdar darum, die Seele für Gott zu öffnen und sie mit ihm unzertrennlich in Verbindung zu bringen. Das aber verlangte unabdinglich, dafür zu sorgen, dass die Seele womöglich bis in die letzten Tiefen für Gott und Göttliches geöffnet würde und geöffnet blieb. Darauf legte er – die bevorstehende Problematik des Seelenlebens gleichsam mit einem mutigen Griff vorwegnehmend – vom ersten Augenblick seiner Erziehertätigkeit (seit 1912) gebührend Gewicht. Es geschah also mehr als ein Jahrzehnt vor der Zeit, wo langsam die Öffentlichkeit anfing, sich damit zu beschäftigen“ (1962).

P. Kentenich erklärt mit Verweis auf die psychologische Dimension der religiösen Tiefenerfahrung, welche Bedeutung er der Berücksichtigung des un- und unterbewussten Seelenlebens zuerkennt. Dabei kommen zwar die gleichen zentralen Themen wie Freiheit, Liebe, Angst, Schuld, Leid, das Böse, die heute auf breiter Ebene von Autoren der Tiefenpsychologie disponiert und diskutiert werden, zur Sprache. Die Unterschiede zeigen sich jedoch im Problem und Lösungsansatz, da es bei P. Kentenich immer um das religiöse Zentralanliegen geht: eine möglichst harmonische und zugleich affektbetonte Gott- und Menschengebundenheit in einer dazu kontrastierenden Umwelt (vgl. WH 1937). Mit diesem Anliegen steht er Autoren wie Albert Görres und Dieter Wyss nahe, die aufgrund ihrer psychotherapeutischen Erfahrung eine „existentielle Psychologie“ fordern, die in ihre konzeptionelle Entwicklung auch die Sinn und Lebensfragen einbezieht und die Dimensionen des Transzendenten wie auch des Irrationalen aus Gründen der methodischen Selbstbeschränkung nicht ausschließt.

In der Spiritualität Schönstatts nimmt die Berücksichtigung tiefenpsychologischer Teilerkenntnisse daher einen breiten Raum ein. Neben positiven Ansätzen der Übertragung in die fortgesetzte Praxis von Erziehung und Seelsorge, stößt dieser Anteil im Erbe P. Kentenichs noch immer auf die gleichen Vorbehalte, die der Gründer gegenüber seinen Zeitgenossen zu entkräften suchte. Die theoretische Aufarbeitung, zu der P. Kentenich 1962 ausdrücklich auffordert, ist noch nicht hinreichend begonnen (vgl. >>Psychologie).


Literatur:

  • J. Kentenich, Brief vom Juni 1962, in: Schlosser, Herta, Der neue Mensch – die neue Gesellschaftsordnung. Mit Originaltexten von Pater Josef Kentenich im zweiten Teil, Vallendar-Schönstatt 1971, 306-310. 337 ff. 349 f. 352. 390 f. 405 f.
  • H. Czarkowski, Psychologie als Organismuslehre, Vallendar-Schönstatt 1973
  • E. Frömbgen, Tiefenpsychologie als Erkenntnisweg in der Theologie heute, Regnum 26 (1992) 60-70. 108-118
  • H. King, Marianische Bundesspiritualität, Vallendar-Schönstatt 1994.
  • D. Wyss, Die tiefenpsychologischen Schulen von den Anfängen bis zur Gegenwart Entwicklungen, Probleme, Krisen, Göttingen 1961 ff.

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

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