Was hat es nun mit der viel beschworenen Krise der Beichte auf sich? Die meisten Autoren sind sich einig, dass es innerhalb der letzten 50 Jahre einen massiven Wandel in der Beichtpraxis gegeben hat. Die Beichthäufigkeit ist, ähnlich wie der Gottesdienstbesuch, seitdem stark gesunken. Sucht man aber nach statistischem Material, so muss man feststellen, dass die Beichte in den kirchlichen Statistiken schon gar nicht mehr auftaucht.[54]
Auch im Bewusstsein der Gläubigen scheint sie keine große Rolle mehr zu spielen. Priester, Ordensleute und Priesteramtskandidaten sind da keineswegs ausgenommen.[55] Laut Baumgartner waren es um 1950 noch ca. 50% der sonntäglichen Gottesdienstteilnehmer, die monatlich zur Beichte gingen; der Großteil der verbleibenden anderen Hälfte ging zumindest einmal jährlich zur Osterbeichte.[56] Heute muss man dagegen feststellen, dass der überwiegende Teil der Gottesdienstbesucher gar keine Beichtpraxis mehr hat.[57]
Wenn man bedenkt, dass im gleichen Zeitraum auch die Zahl der Gottesdienstteilnehmer beständig abgenommen hat – von 50,4% der Katholiken im Jahr 1950 auf 14,3% im Jahr 2005[58] –, dann kann man tatsächlich einen ganz erheblichen Rückgang der Beichtpraxis feststellen.
Trotz allem – ein etwas genauerer Blick lohnt sich auch hier: Zwar gibt es an den statistischen Fakten nichts zu rütteln; auch stimmt es, dass in vielen Pfarreien die regelmäßige Beichte praktisch zum Erliegen gekommen ist, aber es gibt auch andere Erfahrungen. So begegnet man mitunter an Wallfahrtsorten, geistlichen Zentren oder zentralen Innenstadtkirchen mit einem regelmäßigen Beichtangebot auch heute noch wartenden Menschen vor den Beichtstühlen bzw. Gesprächszimmern.[59] Ebenso kann man beobachten, dass bei Weltjugendtagen und anderen Jugendveranstaltungen oder auch bei Einkehr- und Besinnungstagen[60] die Beichte nicht gerade ein Nischendasein fristen muss. Wo sie sozusagen inmitten des Geschehens mit einer bewusst niedrigen Hemmschwelle angeboten wird, wird dieses Angebot durchaus auch wahrgenommen. Hier zeigt sich, dass es offenbar so etwas wie eine Verlagerung von einer regelmäßigen ‚Gewohnheitsbeichte’ hin zur anlassbezogenen Beichte gibt.[61]
Ohne Frage ist es für eine zukunftsfähige Beichtpastoral aber wichtig, den gewaltigen Veränderungen in der Beichtpraxis Aufmerksamkeit zu schenken und nach neuen positiven Ansätzen zu suchen.
Wenn man sich die Radikalität des Umbruchs vor Augen hält, den die Beichte im letzen Jahrhundert durchlebt hat, dann wird schnell deutlich, dass eine monokausale Begründung der Beichtkrise zu kurz greifen würde, es scheint vielmehr einen komplexen Zusammenhang verschiedener Ursachen zu geben. Ich bevorzuge es deshalb im Folgenden, von Faktoren anstelle von Ursachen der Beichtkrise zu sprechen. Versucht man, die unterschiedlichen Ansätze und Akzentuierungen, die man bei verschiedenen Theologen finden kann, ein wenig zu systematisieren, so lassen sich vier Zugänge erkennen: die soziologisch orientierte Frage nach Faktoren in der Gesellschaft, ein empirischer Zugang, der von Erfahrungen mit der Beichte ausgeht, eine „innerkirchliche“ Argumentation, die sich mit Veränderungen in Theologie und Spiritualität befasst und schließlich eine endogene[62] Begründung, welche nach Faktoren in der Praxis der Beichte selbst sucht.
Zunächst also einige soziologische Überlegungen: Immer wieder ist von einem „Enttraditionalisierungsschub“[63] im Blick auf Kirche und Glauben, aber auch im Blick auf Wertevermittlung allgemein die Rede. Dieser stellt sich durchaus als ambivalente Entwicklung heraus[64]: Einerseits ist das stützende Umfeld für die Glaubensweitergabe weitgehend weggebrochen, andererseits gab es auch einen Zugewinn an Freiheit, da viele auf Traditionen beruhende und sozial kontrollierte Verhaltensmuster[65], die vielfach als Einschränkung erlebt wurden, nicht mehr wirksam sind. Im Blick auf die Beichte, aber auch auf den Gottesdienstbesuch, wurde das besonders spürbar, da Motive wie „Tradition, Pflicht, Gewohnheit [und] Sozialkontrolle“[66] hier sehr prägend waren. Es lässt sich eine Wende von einer Gehorsamsmoral zur Verantwortungsethik feststellen.[67] Damit ist der Einzelne viel mehr zu bewussten Entscheidungen, auch im Blick auf seinen Glauben, herausgefordert. Was bisher von außen vorgegeben war, verlagert sich nun zunehmend in den Bereich der Subjektivität.[68] Auch der Vollzug der Buße wurde so in den Raum personaler Entscheidung verlegt.
Häufig wird als eine weitere Ursache der Beichtkrise ein veränderter Umgang mit Schuld erwähnt. Johannes Paul II. spricht von einer „Krise des Sündenbewusstseins“[69], andere Autoren beklagen ein „schwindende[s] Unrechtsbewusstsein“[70] oder einen „Wille[n] zur Unschuld“[71]. Die Nicht-Annahme von Schuld kann sich zeigen in Verdrängung oder indem andere zum „Sündenbock“ gemacht werden.[72] Hier mag die oft beklagte Kluft zwischen einer zunehmenden Intellektualisierung und Spezialisierung der Lebensbereiche auf der einen Seite und einer im Vergleich dazu unterentwickelten Persönlichkeitsbildung und moralischen Formung auf der anderen Seite eine gewisse Rolle spielen. Gerade für das Sakrament der Beichte wären letztere aber besonders wichtig, da es „eine zumindest keimhaft ausgeformte Persönlichkeit voraus[setzt]“[73]. Es fällt auch auf, dass die lange Zeit selbstverständliche Verbindung zwischen christlichem Glauben sowie sittlicher Überzeugung und Lebensführung schleichend aufgelöst wird.[74] Hier spielt die sog. „Segmentierung der Lebenswelten“[75] eine Rolle. Die Spannung zwischen z. T. widersprüchlichen Lebensbereichen wird für viele zunehmend zum Normalfall.
Wenn in den letzten Jahren immer wieder eine religiöse Sprachlosigkeit[76] beklagt wird, so mag dies für die Beichte von besonderer Bedeutung sein, da sie ja wesentlich auf sprachlichem Ausdruck basiert. Ursula Silber spricht von „Sprachunsicherheit und Sprachlosigkeit“[77], die u. a. damit zu tun hat, dass die herkömmliche Terminologie heute oft als inhaltsleer oder als nicht mehr adäquat erlebt wird, da sie „an ein Menschenbild gebunden [ist], das so nicht mehr akzeptiert wird“[78].
Eine zweite Kategorie bildet die empirische Argumentation, welche negative Erfahrungen mit der Beichte als einen Faktor für die Beichtkrise benennt. Häufig spielt dabei eine „rigorose Beichtpraxis mit ebenso rigorosen Beichtvätern in der Vergangenheit“[79] eine Rolle.
Beachtenswert scheint in diesem Zusammenhang vor allem die Studie von Ursula Silber, in der sie katholische Frauen anlässlich der Erstbeichte ihrer Kinder befragte.[80] Erfahrungen, die häufiger genannt werden, sind: negative Erinnerungen an das Beichten-Müssen als Kinder[81], schlechte Erfahrungen mit Beichtvätern[82], negative Gefühle wie Angst und Unsicherheit, die mit dem Beichten verbunden werden[83] und eine in der Vergangenheit oft starke Fixierung auf den Bereich der Sexualität, die nicht selten mit einem „Verletzen der Schamgrenze durch undezentes Nachfragen“[84] erfahren wurde.
Auch „dysfunktionale Erfahrungen“[85] spielen eine Rolle, d. h. der Eindruck, dass die Beichte im konkreten Leben nichts bewirkt, sondern immer wieder die gleichen Sünden gebeichtet werden oder auch dass man keinen Mangel spürt, wenn man nicht mehr zur Beichte geht.[86] Demmer sieht hier die Herausforderung an den Beichtvater, nicht nur auf der Ebene von Handlungen stehen zu bleiben, sondern tiefer zu blicken, um zu den dahinter liegenden Haltungen vorzustoßen.[87]
Eine dritte Kategorie von Faktoren bezieht sich auf Veränderungen innerhalb von Theologie und Kirche. An der Beichte lässt sich die von Michael N. Ebertz postulierte „Erosion der Gnadenanstalt“[88] besonders gut ablesen, denn sie war, wie er schreibt, bisher „ein Eckstein des katholischen Gefüges der ‚Gnadenanstalt’“[89]. Galt die Beichte traditionell als Voraussetzung für einen würdigen Eucharistieempfang und wurde sie zusammen mit der Taufe als heilsnotwendig angesehen, so fällt heute „die verbreitete Indifferenz auch und gerade der Mitglieder der Kirche gegenüber ihrer Anstaltsgnade, also auch das Desinteresse an ihr als Gnadenanstalt“[90] auf. Im Hintergrund lassen sich gravierende Veränderungen beim Gottesbild und in der Eschatologie erkennen.
Scheule weist schließlich darauf hin, dass es nicht nur äußere (exogene) Ursachen für die Krise der Beichte gibt, die in gesellschaftlichen und kirchlichen Veränderungsprozessen zu suchen sind, sondern auch innere (endogene), die in der Praxis der Beichte selbst begründet liegen.[91] So ist zu fragen, ob das Nachlassen der Beichthäufigkeit nicht zunächst auch eine sinnvolle Reaktion auf eine überzogene Praxis war.[92]
Man wird auch zugeben müssen, dass es manche Fehlentwicklungen gegeben hat, die das Verständnis des Sakraments zunehmend schwerer gemacht haben. So werden z. B. häufiger Verkürzungen im Blick auf den Gemeinschaftsaspekt der Buße beklagt, da die Privatheit der Beichte über lange Zeit sehr stark betont wurde, während man ihre Einbindung in die Gemeinschaft der Kirche weitgehend vernachlässigte. Auch ein oft einseitig „juristisches“ Verständnis mag der Beichte geschadet haben. Hier mögen Gründe zu suchen sein, warum die kirchliche Bußpraxis als unzureichend erlebt wurde. Vielen fällt es schwer, sie als Ausdruck ihres Bemühens um Umkehr im alltäglichen Leben zu erfahren und zu verstehen.
Es ist schließlich zu fragen, ob in der Beichte nicht auch die Besinnung auf das Sakramentale oft zu kurz gekommen ist[93] und sie deshalb an Attraktivität eingebüßt hat, weil sie in ihrer Form kaum mehr als wirkliche Gottesbegegnung erfahren wird. Vielmehr stand sie lange Zeit unter dem Vorzeichen einer oft pflichtbetonten Askese. Von keiner der genannten Begründungen lässt sich sagen, dass sie für sich genommen die Krise der Beichte umfassend erklären kann. Es ist auch nicht immer ganz leicht zu sagen, wo die Grenze verläuft zwischen Ursachen und Symptomen. Jedoch sind mit den Überlegungen eine ganze Reihe von Faktoren genannt, um die Veränderungen in der Beichtpraxis besser verstehen und einordnen zu können. Für eine Erneuerung der Beichtpastoral wird vieles davon zu bedenken sein.
[54] Vgl. Baumgartner, Chance, 13.
[55] Vgl. ebd.
[56] Vgl. ebd.
[57] Vgl. Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Umkehr und Versöhnung, 39.
[58] Vgl. Statistik der Dt. Bischofskonferenz, Katholiken und Gottesdienstteilnehmer: http://www.dbk.de/imperia/md/content/kirchlichestatistik/katholiken_und_gottesdienstteilnehm er_1950_2005.pdf (30.07.2007).
[59] Als besonders sprechendes Beispiel kann etwa der Stephansdom in Wien angeführt werden mit einem fünfzehnstündigen Beichtangebot täglich. Vgl. http://www.stephanskirche.at/index.jsp?menuekeyvalue=15&langid=1 (03.11.2007). In München wäre die St. Michaels-Kirche im Zentrum zu nennen. Vgl. Mittermeier, Feier der Versöhnung, 530.
[60] Vgl. Baumgartner, Chance, 14.
[61] Vgl. Wollbold, Gemeindepastoral, 360.
[62] Vgl. Scheule, Beichten, 39.
[63] Ebd., 37.
[64] Vgl. Ragaisis, Umkehr, 9.
[65] Vgl. Silber, Buße und Beichte, 121.
[66] Baumgartner, Chance, 13.
[67] Vgl. Baumgartner, Bußsakrament, 855.
[68] Vgl. Ragaisis, Umkehr, 11.
[69] MD, 4.
[70] Witti, Sakrament, 24.
[71] Sievernich, Versöhnung, 2.
[72] Vgl. Sekretariat der Dt. Bischofskonferenz, Umkehr und Versöhnung, 19.
[73] Demmer, Sakrament, 16.
[74] Ebd., 9.
[75] Ebd., 11.
[76] Vgl. Baumann / Jaspert, Glaubenswelten, 105.
[77] Silber, Buße und Beichte, 126.
[78] Ebd.
[79] Vgl. Witti, Sakrament, 24.
[80] Vgl. Silber, Zwiespalt und Zugzwang.
[81] Vgl. Silber, Buße und Beichte, 121.
[82] Vgl. ebd.
[83] Vgl. Baumgartner, Chance, 13.
[84] Wollbold, Gemeindepastoral, 364.
[85] Ebd.
[86] Vgl. ebd.
[87] Vgl. Demmer, Sakrament, 25.
[88] Ebertz, Erosion der Gnadenanstalt.
[89] Ebd., 195.
[90] Ebd.
[91] Vgl. Scheule, Beichten, 39.
[92] Vgl. Windisch, Umkehr, 151.
[93] vgl. Schneider, Beichte, 188.