Schuld
Peter Locher
1. Moralische Schuld
2. Krankhaftes Schuldgefühl
3. Heilung von Schuld
4. Aszetisches Schuldgefühl
5. Schuldgefühl der Natur
Die Frage nach Schuld gehört zu den existentiellen Grundproblemen der Menschheit: Gibt es für den Menschen Schuld? Kann er schuldig werden? Wie wird er in seiner Schuld, von seiner Schuld gerechtfertigt? In der christlichen Tradition lautet die Frage: Wie weit ist die menschliche Natur korrupt (Konkupiszenz)? Was ist eigentlich Erlösung? Besonders im Anschluss an Martin Luthers Frage nach dem gnädigen Gott wurde die Unterscheidung zwischen Schuld und Schuldgefühl brisant. Auch in den Aussagen Pater Kentenichs, der sich und seine Bewegung vor allem pädagogisch verstand, spielt die Frage nach dem Zusammenhang von Schuld und Schuldgefühl eine wichtige Rolle.
1. Moralische Schuld
Dabei setzt er wie selbstverständlich bei Grundaussagen der christlichen Tradition an: Der Mensch, von Gott geschaffen, ist in eine innere Ordnung hineingestellt, die er vorfindet, der er verpflichtet ist, dessen Grundbausteine ihm im Dekalog geoffenbart wurden, und der gegenüber er sich schuldig macht, wenn er seine ihm geschenkte >>Freiheit durch Fehlverhalten missbraucht und sie dadurch auch verwirkt. Es gibt also das Gebot, ausgefaltet, spezifiziert, zeitgemäß angewandt in kirchlichen und gesellschaftlichen Gesetzen, dem gegenüber der Mensch – wenn auch in verschiedenem Grad – verpflichtet ist, bei dessen Verstoß er sich schuldig macht und dann die Konsequenzen, die Strafen auf sich nehmen muss. Diese Art von Schuld, die aus dem Verstoß eines Menschen gegen ein göttliches Gebot, die sittliche Ordnung oder ein rechtmäßiges und rechtsgültiges Gesetz aus persönlicher Verantwortung (Sünde) erwächst, nennt Pater Kentenich – entsprechend der christlichen Tradition – „moralische Schuld“.
2. Krankhaftes Schuldgefühl
Auch wenn grundsätzlich stimmt, dass der Mensch Ordnung und Geboten gegenüber persönlich verantwortlich ist, erhebt sich die Frage, wann und inwieweit er als Person in der Lage ist, diese Verantwortung zu übernehmen. Philosophische und psychologische Überlegungen bringen diese Fragestellung vielfältig zur Sprache: Ist der Mensch schuldig, wenn er aus Angst oder Zwang oder nicht mehr kontrollierbarer Aggression oder Fixierung das Böse tut? Umgekehrt: Handelt er sittlich und ist er frei von Schuld, wenn er nur aus Angst, aus moralischem oder gesellschaftlichem Druck das Böse nicht tut und vor lauter Angst, das Böse zu tun, gar nichts tut? Und was ist mit jenen Menschen, die sich für alles und jedes verantwortlich und dann auch schuldig fühlen, mit jenen, die nach den objektiven Kriterien der Moral nicht mehr unterscheiden können, wofür sie denn nun wirklich verantwortlich sind; die dann allerdings konsequenterweise entweder Schuld und Schuldgefühle zu verdrängen suchen, um das Leben erträglicher zu machen, oder die sich ständig als schuldig bekennen, ohne vom Schuldgefühl befreit zu werden?
Schuldgefühle dieser Art sind krankhaft. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie disproportionert sind, nicht mehr im Verhältnis stehen zu den Vorgängen, die ein solches Schuldgefühl hervorbringen, wenn es überhaupt noch konkrete Anlässe gibt. Mit einem solchen Schuldgefühl sind innere Sperren verbunden, die es rationaler Argumentation unzugänglich machen, die die eigentlichen Ursachen des Schuldgefühles verbergen und die deswegen ganze seelische Bereiche dem inneren Zugang entziehen (C.G. Jung: „autonome Teilpsyche“). Weil für einen so betroffenen Menschen die Wahrheit über die eigentlichen Ursachen des Schuldgefühles noch viel schlimmer erscheinen (siehe A. Adler) zieht er es vor, in einer Art von „Sündenbock-Syndrom“ mit dem Schuldgefühl zu leben. Er will gar nicht befreit, erlöst werden.
Ein derart krankhaftes Schuldgefühl wirkt zerstörerisch. Es lähmt den seelischen Energiefluss, blockiert Emotionen, erzeugt Minderwertigkeitsgefühl. Dadurch werden auch die Beziehungen zu anderen Menschen gestört, denen gegenüber man sich ständig minderwertig und verpflichtet erlebt. Letztlich wird Gott, vor dem man schuldig bleibt, als unbarmherzig und strafend erlebt.
3. Heilung von Schuld
Schuldgefühle dieser Art bedürfen der Heilung. Während Psychotherapeuten der ersten Zeit die Tendenz hatten, jegliches Schuldgefühl zu beseitigen, verstehen neuere Richtungen der so genannten anthropologischen Psychotherapie Schuld und Schuldgefühle als wesentlichen Bestandteil der menschlichen Verfasstheit, als Alarmsystem für das menschliche Verhalten, als Fieberphänomen für seelische Krankheit oder als Hilfsmittel für seelische Heilung.
Solchen Auffassungen entsprechen das Denken und die Lehre Pater Kentenichs. Sein Leitbild des >>“neuen Menschen“ zielt persönliche Identität und Echtheit bis in die „feinsten Verästelungen der Seele“ an. Zu erreichen ist das nur, wenn nichts verdrängt wird, sondern wenn alles im menschlichen Leben auf einen positiven göttlichen Plan hin durchsichtig gemacht (>>Vorsehungsglaube) und von der Liebe (>>Liebesbündnis) durchdrungen wird.
Die Realität von Verantwortung und Schuld ist deshalb der eigentlichen Bestimmung des Menschen zuzuordnen. Gott hat ihn erschaffen aus Liebe. Er hat ihn „zuerst geliebt“ (1 Joh 4,10; Röm 5,8), bedingungslos und hochherzig. Er hat den Menschen zur Gegenliebe befähigt und ihm „immer wieder einen Bund angeboten“ (Viertes eucharistisches Hochgebet). Der Mensch ist also befähigt, aus Liebe zu antworten. Aus Liebe soll und kann er sich ver-antworten. Gott hat den Menschen in seinem Sohn erlöst, dadurch seine bedingungslose Liebe geoffenbart, „während wir noch Sünder waren“ (Röm 5,8), und dadurch deutlich gemacht, dass alle Schuld, ganz gleich welcher Art und welchen Grades, immer schon vergeben ist.
Für den Menschen ergibt sich daraus, dass es nicht darauf ankommt, sich die Vergebung Gottes zu verdienen; vielmehr nur darauf, die ihm offen stehende Vergebung anzunehmen, sie in persönlichem Glauben und Leben einzuholen und im Lebensvollzug zu entfalten. Die Frage nach dem richtigen Verständnis von Schuld und dem Umgang damit löst sich in der Einbindung in einen Bund der Liebe. Schuld hört damit auf, Hindernis für Selbstbesitz und Gottbezug zu sein. Ganz im Sinne des Exsultet der Osternacht – „o glückliche Schuld, die uns einen solchen Erlöser gebracht hat“ – führt sie zu einer Beschleunigung und Intensivierung aller Beziehungen, zu wirklicher Demut, die sich der Wahrheit öffnet und sich in richtiger Proportion anderen und Gott zuordnet (>>Demut).
4. Aszetisches Schuldgefühl
Mit diesem Begriff ist von Pater Kentenich ein Schuldbereich angesprochen, den die Psychologie auch „existentielles Schuldbewusstsein“ nennt. Menschen, die lieben möchten und sich von Gott berufen wissen, die sich einer Aufgabe von innen her gestellt haben und aus ihrer Personmitte leben, mögen sich die Frage stellen, ob sie alles recht machen oder recht gemacht haben. Im Rahmen dieser Fragestellung kann sich ein Schuldgefühl melden. Dies ist allerdings von der Art, dass es nicht nur bedrückt und zur Flucht vor dem Richter verführt, sondern auch eine positive Tendenz hat und zu Offenbarung und Mitteilung drängt. Ein solches Schuldgefühl misst sich nicht an den negativ abgrenzenden Normen der Verbote. Es misst sich vielmehr an den Idealen. Es ist geprägt von der Sehnsucht, die Dinge richtig und noch besser zu machen, gut und noch besser zu sein, zu lieben und noch mehr zu lieben. Ein solches Schuldgefühl nennt Pater Kentenich „aszetisches Schuldgefühl“. Im Gegensatz zu krankhaftem Schuldgefühl ist es nicht zu überwinden, sondern es ist – vorausgesetzt, dass die Bedingungen stimmen – gerade zur Beschleunigung von Reifung und Hingabe zu pflegen.
5. Schuldgefühl der Natur
Manche Menschen fühlen sich verantwortlich auch für Dinge, die sie selbst nicht getan haben. So kann sich z.B. ein Kind mitschuldig fühlen für den Ehestreit der Eltern. Ein Bürger, ein Vereinsmitglied, ein Firmenangehöriger mag sich – je nach Grad seiner Identifikation – schämen für das, was die Führung tut, ohne dass er selbst auf solche Handlungen Einfluss hatte. Es meldet sich hier ein Schuldgefühl, das reagiert, weil irgend etwas im gesellschaftlichen Gefüge nicht in der Ordnung ist. Dasselbe Schuldgefühl meldet sich mitunter bei körperlicher Behinderung (wer ist schuldig am Leid des Blindgeborenen: er oder seine Eltern? Vgl. Joh 9,2). Schuldfragen tauchen sogar auf im Kontext von Naturkatastrophen.
Solch ein Schuldgefühl ist nicht bezogen auf Handlungen, die persönlich zu verantworten wären. Vielmehr reagiert es auf das, was nicht in der Ordnung ist. Im Grunde offenbart es das in den Menschen eingebaute Gespür für die innere Ordnung des Seins, ist sein „Erinnerungsorgan“ an das verlorene Paradies.
Dieses Schuldgefühl nennt Pater Kentenich „Schuldgefühl der Natur“ oder wiederum „aszetisches Schuldgefühl“; letzteres, weil dieses Schuldgefühl uns motivieren soll, uns der inneren Ordnung der Schöpfung soweit wie möglich anzunähern.
Dieses „Schuldgefühl der Natur“ soll nicht abgeschafft, sondern gepflegt werden.
So ist der Sinn aller Schuld und Schuldgefühle, sich beschleunigt auf den barmherzigen und erlösenden Gott hin loszulassen, um im Bund mit ihm letzte Ganzheit, Freiheit und Erfüllung zu finden.
>Aszese, >>Demut, >>Erziehung, >>Gottesbild, >>Kindlichkeit
Literatur:
- J. Kentenich, Marianisch-priesterliche Lebensweisheit. Priester Exerzitien 1933/1934, verv.W, A 5 quer, 185 S., 142-153
- M. A. Nailis, Werktagsheiligkeit. Ein Beitrag zur religiösen Formung des Alltags, Limburg 1937 (1964) – Vallendar-Schönstatt 1974, 90
- J. Kentenich, Desiderio desideravi. Milwaukee-Terziat (1962-1963), verv., A 5, elf Bände VI
- Aszetisches Schuldgefühl, Regnum 26 (1992) 14 ff.
- P. Locher, Pädagogischer Umgang mit Schulderleben, Regnum 26 (1992) 3-13.
Schönstatt-Lexikon:
Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)
Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de
Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de