Einleitung

Einleitung

Unsere Zeit ist in vielen Lebensbereichen durch die Auflösung tragender traditioneller Bindungen gekennzeichnet. Die Zahl der Ehescheidungen ist hoch, Familien gehen auseinander und finden sich evtl. in neuen Patchwork-Konstellationen wieder. Berufstätige erfahren den Verlust des Arbeitsplatzes oder sind zu Umzügen gezwungen, die sie aus ihrem vertrauten Lebensumfeld isolieren und bestehende Bindungen oftmals auf eine harte Probe stellen. Obwohl diese Phänomene in großer Zahl auftreten, ist die gesellschaftliche Solidarität oftmals gering, weil die Betroffenen z.B. durch Umzug aus dem eigenen Blickfeld verschwinden. Auch im Bereich der religiösen und weltanschaulichen Orientierung schwinden die traditionellen Bindungen. Die herkömmlichen Glaubensweisen innerhalb der Großkirchen werden von vielen Menschen als immer weniger bedeutsam für das persönliche Leben empfunden. Durch die Zusammenlegung von Pfarrgemeinden bei beiden großen christlichen Konfessionen geht zudem die traditionelle Infrastruktur und das Zugehörigkeitsgefühl zu einer Ortskirche vielfach verloren.

Dabei spüren viele Menschen in sich die tiefe Sehnsucht, in verlässlichen Bindungen leben zu können – sei es in einer Partnerschaft oder Ehe, in einer freundschaftlich miteinander verbundenen Gruppe oder in einer religiösen Gemeinschaft und so in ihrem Leben Sicherheit, Wertschätzung und Geborgenheit zu erfahren und eine Sinnorientierung zu finden.

In meinem sozialpädagogischen Arbeitsfeld mit jungen, sozial benachteiligten Schwangeren und Müttern mit kleinen Kindern, spielt die Frage nach dem Aufbau verlässlicher Bindungen eine zentrale Rolle. Fast alle Klientinnen haben in ihren Beziehungen traumatische Erfahrungen gemacht, z.B. durch sexuellen Missbrauch, durch frühe Trennungserfahrungen oder körperliche Gewalt.

Sie sind in Bezug auf die eigene Identität zutiefst verunsichert und zeigen häufig seelische Auffälligkeiten oder Störungen. Der Bindungsaufbau zu anderen Menschen und auch zum eigenen Kind ist hochgradig erschwert. Im Umgang mit Partnern oder Familienangehörigen verhalten sie sich oftmals sprunghaft, die Beziehung zu ihnen wird selten als gelungen erfahren. Ihre Erwartungen an die Sozialpädagoginnen und Erzieherinnen in Bezug auf Verlässlichkeit und Beständigkeit sind sehr hoch bei gleichzeitig geringer Fähigkeit, selbst beständig und verlässlich zu sein. Wegen der hohen Relevanz der Thematik habe ich nach einem pädagogisch und psychologisch schlüssigen Ansatz gesucht, der zu einem als gelingend empfundenen Beziehungs- und Bindungsverhalten hinführt. Dieser sollte drei Bedingungen erfüllen:

  • Zum einen sollte er in einen religiösen Sinnbezug eingebettet oder zumindest mit einem solchen zu vereinbaren sein, da ich der Überzeugung bin, dass zu einem als gelingend empfundenen Leben die Beantwortung der Sinnfrage unabdingbar dazu gehört.
  • Zum zweiten sollte der Ansatz mit den Erkenntnissen der modernen Psychologie, insbesondere der Bindungsforschung kompatibel sein (s. Kap. 5.2).
  • Zum dritten sollte der Ansatz heilsam sein, d.h. auch Menschen mit Traumatisierungen eine Perspektive eröffnen und einen Weg ermöglichen, Bindungen zunehmend als positiv zu erfahren. Die Klientinnen drücken in Gesprächen immer wieder eine tiefe Hoffnungs- und Hilflosigkeit aus. Weil die Vergangenheit oftmals sehr negativ empfunden wird, sind die jungen Frauen überzeugt, dass auch die Zukunft nichts Gutes bringen könne. Daher sollte der Ansatz Möglichkeiten der persönlichen seelischen Gesundung und Nachreifung aufzeigen.

Als Ordensschwester in einer stationären Mutter- Kind– Einrichtung in kirchlicher Trägerschaft erlebe ich das Spannungsfeld zwischen christlicher Werteorientierung und der katholischen Kirche auf der einen Seite und der säkularisierten Lebensweltwelt der Klientinnen mit ihren oben beschriebenen Problemlagen andererseits. Christliche Sinnbezüge und eine christliche Werteorientierung sollen im Kontext sozialpädagogischer Hilfen zur Erziehung mit dem Ziel der gesellschaftlichen Integration in einer zunehmend säkularisierten Welt vermittelt werden. Ebenso soll in den konkreten Hilfen in der pädagogischen Intervention und in der Milieugestaltung die christliche Grundhaltung zum tragen kommen. Gleichzeitig muss eine Manipulation der Klientinnen durch ein falsch verstandenes christliches Engagement vermieden werden und die Freiheit ihrer Entscheidungen geschützt und gesichert sein.

Meine eigene christliche Gebundenheit und Ordenszugehörigkeit bilden den Hintergrund, auf dem ich die Bindungsnöte der jungen Frauen und ihrer Kinder und die Frage der Wertevermittlung erlebe. Ich spüre den Wunsch und die Notwendigkeit, in meiner Person eine professionelle Antwort zu geben auf die Anforderungen meines Arbeitsfeldes. In der Erarbeitung und Einübung einer professionellen Haltung geht es immer wieder auch um die Reflexion der Konsequenzen der christlichen Gebundenheit für die konkrete Arbeit.

Mit diesem umfangreichen Fragenkomplex beschäftigte sich im letzten Jahrhundert der katholische Ordenspriester und Begründer der internationalen Schönstatt- Bewegung, Pater Joseph Kentenich sehr intensiv. Seine Vorgehensweise orientierte sich zum einen an der Idealfindung- und Verwirklichung des Einzelnen, zum anderen an der sozialen Grundausrichtung und Gemeinschaftsbedürftigkeit des Menschen. Er erkannte schon in den Zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Bedeutung der Bindungsthematik als ein Kernproblem der gegenwärtigen Zeit, das sich für ihn z. B. in der erhöhten Anfälligkeit entwurzelter Menschen für die Heilsversprechen totalitärer Systeme zeigte. Von Beginn seines Weges als Priester an war er pädagogisch und seelsorgerlich tätig. Sein Vorgehen war intuitiv und für seine Zeit stark an psychologischen Beobachtungen orientiert, was später zu Konflikten mit der Amtskirche führte. Er entwickelte keine strenge psychologische Systematik und rechnete sich keiner Schule zu, verglich aber seine Einsichten und Ergebnisse immer wieder mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit. Seine Weltsicht resultierte aus einer umfassenden theologischen und philosophischen Bildung, einer klaren Fundierung in der christlichen Tradition und bezog psychologisch- pädagogische Aspekte in großer Breite ein. Die drei oben an einen pädagogischen und psychologischen Ansatz gestellten Bedingungen sehe ich bei Kentenich erfüllt, der Bezug auf die einzelnen Punkte ergibt sich im Lauf der Arbeit.

Von Seiten der Schönstatt- Bewegung wurde das von Kentenich vorliegende schriftliche Material, insbesondere Vortrags- und Predigtmitschriften, Exerzitienvorträge, die reiche Korrespondenz, Aufsätze, Entwürfe, Selbstbeobachtungen und Selbstzeugnisse gesichtet und verschiedentlich wissenschaftlich ausgewertet, jedoch noch nicht im besonderen Blick auf die Bindungsthematik.

In dieser Diplomarbeit setze ich mich mit dem werteorientierten und wertevermittelnden pädagogischen Denken Kentenichs unter besonderer Berücksichtigung der Bindungsthematik auseinander. Dabei bin ich mir meiner eigenen christlichen Gebundenheit bewusst.

Der erste Teil wird das Leben und Wirken Kentenichs unter besonderer Bezugnahme auf Gesichtspunkte, die für sein Bindungsverständnis relevant sind, zum Inhalt haben. Die in Kap. 2 folgenden Grundlagen seines Weltverständnisses bilden die Voraussetzung für seine pädagogische Vorgehensweise und Reflexion, welcher sich dann das dritte Kapitel widmet. Im vierten Kapitel werden die verschiedenen Gesichtspunkten und Inhalte des kentenichschen Bindungsverständnisses beschrieben. Daran anschließend wird sein Ansatz auf die Übertragbarkeit in unsere Zeit und die Vereinbarkeit mit Erkenntnissen aus der Bindungsforschung geprüft, sowie Möglichkeiten der Umsetzung ins sozialpädagogische Handlungsfeld bedacht. Im Resümee wird bedacht, welche Erkenntnisse für die theoretische Orientierung, das berufliche Selbstverständnis und praktische Handeln aus dieser Arbeit erwachsen sind.

In dieser Arbeit verwende ich aus Gründen der besseren Lesbarkeit zur Bezeichnung von Personengruppen jeweils die maskuline Form. Selbstverständlich sind die Frauen ebenso gemeint.