Joseph Kentenich wurde am 18.11. 1885 in Gymnich nahe Köln geboren. Der 44- jährige Vater wollte die 22- jährige Mutter Katharina Kentenich nicht heiraten, was in der damaligen Zeit eine große Schande für die Mutter und ein Makel für das Kind bedeutete. Die Mutter verdiente den Lebensunterhalt für sich und Joseph als Haushaltshilfe, während die Großeltern mütterlicherseits, die bereits ein armes Mädchen adoptiert hatten, für den Kleinen sorgten. Als er drei Jahre alt war starb sein Großvater und ab 1894 konnte die Großmutter aus Altersgründen nicht mehr für Joseph sorgen. Da die Mutter weiterhin arbeiten musste, entschloss sie sich schweren Herzens, ihren Sohn in das von ihrem Beichtvater empfohlene und auch von ihm gegründete Waisenhaus St. Vinzenz nach Oberhausen zu geben (vgl. Schlickmann 2001: 179).
In der Kapelle des Waisenhauses übergab die Mutter ihren Sohn in einem persönlichen Weiheakt dem Schutz, der Fürsorge und der Erziehung der Gottesmutter. Joseph, der nie einen Vater erlebt hatte, wurde jetzt auch noch von der leiblichen Mutter getrennt, an der er sehr hing. Dafür wurde er, wie er es später deutete, in besonderer Weise der himmlischen Mutter verbunden. Diese Erfahrung im Alter von neun Jahren prägte sich ihm tief ein. Mit elf Jahren wusste er, dass er Priester werden wollte. In der Schule erbrachte er gute Leistungen und fiel oftmals durch sehr originelle Lösungswege für gestellte Aufgaben auf.
1904, im Alter von 19 Jahren, trat er in die Ordensgemeinschaft der Pallotiner ein, die von den Anfängen ihrer Gründung im Jahre 1835 versuchte, Gottesliebe mit der caritativen Zuwendung zur Welt mit ihren Zeitaufgaben und Nöten zu verbinden. Daher erfolgte Kentenichs Ausbildung nicht nur in Theologie und Philosophie, sondern auch in Missionswissenschaften und Sozialwissenschaften. Auch im Studium waren seinen Leistungen sehr gut, allerdings fiel er auch hier durch seinen kritischen Geist auf.
Mit Beginn der Noviziatszeit geriet er in eine jahrelange schwere persönliche Krise. Um dauerhaft tiefer mit Gott verbunden zu werden meinte er, sein eigenes Ich ganz zurückstellen, sogar vernichten zu müssen. Später analysierte er die Krise folgendermaßen: „Wegen der Lösung meines Geistes und meiner Seele vom Erdhaften, vom echt Menschlichen, vom Diesseitigen (…) wurde der ganze Mensch von einem totalen Skeptizismus, von einem überspitzten Idealismus und von einem einseitigen Supranaturalismus innerlich zerquält und hin- und- hergeworfen“ (Kentenich in Feldmann 2005:32). Er ging seinen Weg sehr einsam, ohne tragende Freundschaften und ohne
einen geistlichen Begleiter. Zudem war er häufig krank und insgesamt von schwächlicher Konstitution. Er beschreibt seine innere Situation als „Kampf auf Leben und Tod um meine geistige Existenz“ (Kentenich in Feldmann 2005:32). Eine Wendung, der Beginn der inneren Genesung geschah durch eine erneute existentielle Hinwendung zu Maria, durch die Bindung an sie als Person.
Nach seiner Priesterweihe im Jahr 1910 wirkte er zunächst als Lehrer für Latein und Deutsch. Bereits damals verstand er sich wesentlich als Erzieher. Erziehungsziele waren Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit, er förderte eigenständiges Denken und forschende Neugier. Ungewöhnlich waren seine pädagogischen Maßnahmen. So kam es zum Beispiel vor, dass er bei Klassenarbeiten nach Bekanntgabe der Aufgaben den Klassenraum verließ und die Schüler allein ließ. Da die Schüler die Situation nicht zum Abschreiben ausnutzten, war es Kentenich offensichtlich gelungen, ethische Werte, in diesem Falle den Wert von Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit, als glaubwürdig und erstrebenswert zu vermitteln. 1912 wurde er Spiritual für die Schüler am Gymnasium und Studienheim in Schönstatt/ Vallendar nahe Koblenz. Vom Unterrichten war er freigestellt, so dass er sich ausschließlich der religiösen Bildung und Begleitung der jungen Menschen widmen konnte. Die Hausregeln waren sehr streng, die Bewegungsfreiheit insbesondere der älteren Schüler altersunangemessen eng, körperliche Züchtigungen waren erlaubt. In dieser Situation setzte Kentenich auf einen neuen Geist. In seiner ersten geistlichen Instruktion sagte er zu den Schülern Worte, die im Jahr 1912 sehr ungewöhnlich waren: „Ich stelle mich euch hiermit vollständig zur Verfügung mit allem, was ich bin und habe: mein Wissen und Nichtwissen, mein Können und Nichtkönnen, vor allem aber mein Herz“ (Kentenich in Monnerjahn 1975:64). Auffällig an dieser Formulierung ist, dass auch Nichtwissen und Nichtkönnen benannt sind. Der Erzieher ist nicht der Besserwisser und Alleskönner, er ist menschlich begrenzt. Aus den Worten spricht das Vertrauen, dass vielleicht sogar das Defizitäre hilfreich sein kann. Gleichzeitig gab er den Jungen ein Modell für den Umgang mit eigenen Schwächen. Der Angelpunkt seiner Aussage ist die Bereitschaft, sein Herz zur Verfügung zu stellen, in Liebe für die Jungen da zu sein.
Am 18. Oktober 1914 schlossen Kentenich und einige seiner Schüler ein Bündnis mit der Gottesmutter Maria, das auf originelle Weise den neutestamentlichen Heilsbund Gottes mit seinem Volk aktualisierte. Dies war der unscheinbare Beginn der Schönstattbewegung, die sich über Jahre und Jahrzehnte zu einer weltweiten katholischen Bewegung mit vielen Verzweigungen entwickelte. Diese Entwicklung im einzelnen nachzuzeichnen würde den Rahmen einer Diplomarbeit weit übersteigen, hier sei nur darauf hingewiesen, dass es sich um einen pädagogisch- psychologisch durchgeführten Erneuerungsansatz für die christliche Lebensgestaltung sowohl des Einzelnen wie auch innerhalb kirchlicher Kreise handelt. Die Erneuerung der Welt sollte durch Erziehung und Selbsterziehung gefördert werden, nicht durch politische Einflussnahme. In den Jahren des ersten Weltkriegs und danach expandierte
Kentenich wirkte durch Einzelseelsorge, mündlich und brieflich, durch Predigten, Vorträge und Exerzitien. Charakteristisch für ihn war, dass er sich trotz der zunehmenden Größe der Bewegung immer auf das Individuum bezog und auch weite Wege nicht scheute, um Einzelne aufzusuchen.
Früh schon erkannte er die Gefahren, die vom Nationalsozialismus her drohten und benannte sie deutlich. Zwar sprach er zur Tarnung meist vom Bolschewismus, aber seine Zuhörer und auch die Spitzel der NSDAP verstanden, wer hier mitgemeint war. Im Herbst 1941 wurde er für ein halbes Jahr im Koblenzer Gefängnis in Gestapo- Haft genommen und kam danach von März 1942 bis April 1945 ins KZ Dachau. Eine von Bekannten in die Wege geleitete ärztliche Nachuntersuchung, die ihm die KZ- Unterbringung erspart hätte, lehnte er ab. „Der Weg heißt Liebe, verstanden in erster Linie als die Liebe, die Gott zu uns hat, als die Liebe, in der Gott uns in sein Herz hineingeschrieben hat und uns in seinem Herzen trägt, so dass alles, was er mit uns tut und an uns zulässt – auch gerade Kreuz und Leid – als Werk und Gabe seiner Liebe angenommen werden darf“ (Monnerjahn 1975:193). Bewusst nahm Kentenich den KZ- Aufenthalt als Prüfung der Ernsthaftigkeit und Tiefe seiner Hingabe und forderte auch seine Schönstattgemeinschaft zu einer vertieften Umgestaltung des Lebens in Gott. In Dachau wirkte er weiter, insbesondere widmete er sich der Seelenführung inhaftierter Priester, damit diese nach dem Zusammenbruch des dritten Reiches aus ihren schlimmen Erfahrungen heraus fruchtbar zu wirken imstande wären. „Wir Priester im Konzentrationslager Dachau wollen in primitivsten Verhältnissen nicht primitiv, sondern naiv reagieren und, wenn Gott es will, entweder als starke Priesterpersönlichkeiten heldenhaft im Lager sterben oder als gereifte Priester später einmal für das Gottesreich eifrig und fruchtbar weiterarbeiten“ (Kentenich in Monnerjahn 1975: 205). Auch gründete er neue Zweige seiner Bewegung, schrieb große Mengen schwarzer, d.h. heimlicher Post, teilte seine kärgliche Nahrung und überlebte Hunger, Seuchen und alle Grausamkeiten des Lagers. Am 6. April 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, wurde er gemeinsam mit zahlreichen anderen Geistlichen aus Dachau entlassen.
Nach der Rückkehr aus dem KZ widmete er sich sofort der Wiederherstellung des unter der Nazi- Herrschaft teilweise zerstörten organisatorischen Zusammenhalts der Schönstattbewegung sowie der Stärkung des inneren Zusammenhaltes und der Verbundenheit untereinander. Sehr auffallend erscheint mir, dass er das dritte Reich und insbesondere seine Lagererfahrung nicht allein als Unglücksfall der Geschichte betrachtete, sondern viel eher als Präzedenzfall für künftige Lebensumstände in einer ihrer christlichen Werte verlustig gegangenen Zeit. Sein Ziel war eine konsequent gelebte Christusverbundenheit auch unter widrigsten äußeren Bedingungen.
In mehreren Auslandsreisen unterstützte er das Wachstum der inzwischen internationalen Bewegung. Die kirchliche Hierarchie betrachtete die neue Bewegung wegen mancher ungewohnter Denkansätze kritisch. Zudem fürchtete man einen Kult um seine charismatische Person und die Gefahr zu großer Abhängigkeit der Mitglieder vom Gründer. Andererseits war sie von der apostolischen Wirksamkeit der Schönstatt- Bewegung beeindruckt. Aber es wurde bemängelt, dass durch die starke Betonung der Einzelseelsorge die Bindung an klare kirchliche Normen zu kurz kommen könne und einem gefährlichen Subjektivismus Vorschub geleistet werde, und dass die psychologische Betrachtung des Menschen einen zu hohen Stellenwert habe. So musste Kentenich auf kirchliche Anordnung im Alter von 66 Jahren ins Exil nach Milwaukee /USA gehen. Er durfte keinerlei Einfluss mehr auf die von ihm gegründete Bewegung ausüben. Auf diese Weise wollte die Kirche prüfen, wie sich das Werk unabhängig von seinem Gründer weiter entwickeln würde. Kentenich schrieb später dazu: „Das Amt wittert, wenn in der Kirche sich etwas Neues meldet, zunächst den Ketzer. Das ist verständlich, wenn man an die Gefahren denkt, welche die Kirche in ihrer langen Geschichte zu überwinden hatte (…) Gerade weil er die Kirche liebt, lässt sich der wahre Prophet weder aus ihr herausdrängen noch sich verleiten, seinen Auftrag zu verleugnen“ (Kentenich in Monnerjahn 1975: 271). Vierzehn Jahre später, im Jahre 1965 wurde die Verbannung aufgehoben und Kentenich nach und nach vollständig rehabilitiert.
Am 15.9.1968 starb er in Schönstatt / Vallendar nach der Feier der heiligen Messe.
Von Beginn seiner Lehrertätigkeit an verstand sich Kentenich in hohem Maße als Erzieher. Pädagogik stellt nach seiner Auffassung eine konkrete Anwendung der Seinsordnung dar und ist daher eine religiöse Aufgabe. Der Erzieher steht als zweite Ursache subsidiär im Dienste Gottes, der ersten Ursache. „Erziehen heißt, selbstlos fremder Eigenart und fremder Originalität dienen. Selbstlos dem großen Gedanken, den Gott in jede Persönlichkeit hineingelegt hat, und damit selbstlos Gott dienen.“ (Kentenich in Schlickmann 2001:110). An diesem Zitat lässt sich Kentenichs Erziehungsverständnis und damit sein Selbstverständnis als Erziehender aufzeigen.
Er bevorzugte das Wort Erziehung gegenüber dem Wort Pädagogik, welches er als zu weich empfand. Nach seiner Auffassung ist es wichtig, die Schwierigkeiten und Abgründe in der menschlichen Natur realistisch zu sehen und zu behandeln. In Bezug auf das Individuum und die pädagogische Praxis orientierte er sich jedoch konsequent an dem, was er an positiven Ansätzen und Wachstumsressourcen wahrnahm, nicht an den so genannten Kinderfehlern wie es zu seiner Zeit oftmals geschah. Nach den Aussagen seiner Schüler war er ein Meister darin, die positiven Ansätze zu entdecken und zu fördern.
Dreimal erscheint im obigen Zitat das Wort selbstlos. Dies ist eine Absage an die Versuchung, in der jeder Pädagoge steht, dem Edukanden eigene Lebensentwürfe oder Wertvorstellungen bewusst oder unbewusst aufzudrängen und ihn nach dem eigenen Bilde gestalten zu wollen. Nach Kentenichs Auffassung hegt der menschliche Erzieher eine doppelte Liebe und ist ein Dienender in zweifacher Hinsicht. Indem er dem Menschen dient, steht er gleichzeitig im Dienste des heiligen Geistes, der der eigentliche Erzieher und Bildner der menschlichen Seele ist. So ist es dem Erziehenden aufgetragen, immer wieder nachzuspüren, welche Anregungen der Heilige Geist einem Menschen schenkt. Dadurch dient er fremder Eigenart, fremder Originalität, also der gottgewollten Entelechie der Seele. Selbst soll er eine originelle Persönlichkeit sein, sich selbst erziehen gemäß des Ideals, das für ihn persönlich erstrebenswert, verpflichtend und erreichbar ist. Die Originalität des Erziehers regt die Originalität des Edukanden an durch Vermittlung von Haltungen. Konkrete Wertinhalte soll der Erzieher nur zurückhaltend anbieten und die Reaktion des Edukanden sorgfältig beobachten, um damit die persönliche Freiheit des ihm anvertrauten Menschen zu schützen.
Erziehung ist daher im Tiefsten ein Gottes- Dienst, geprägt von Ehrfurcht und Liebe. Letztere bestimmen im konkreten pädagogischen Alltag die Frage von Distanz und Nähe. Was für Kentenichs Erziehungsverständnis gilt, ist ohne weiteres übertragbar auf seinen seelsorgerlichen Ansatz. „ Der Seelenführer ist ein Priester, der von Gott bestimmt ist, einer bestimmten Seele eine Zeit lang in väterlicher Gesinnung tatkräftig mitzuhelfen, selbsttätig und selbstständig, schnell und sicher ihr persönliches Ideal zu erkennen und zu verwirklichen“ (Kentenich in Awi Mello 2003: 17). Hier wird ausgesagt, dass der Bezug zwischen Seelenführer und dem von ihm begleiteten Menschen von Gott gewollt ist, dass er zeitlich begrenzt ist und ein klares Ziel hat: die Erkenntnis und Verwirklichung des so genannten „Persönlichen Ideals“, also der psychologisch verstandenen Identität und der religiösen Berufung. Der Begriff des Persönlichen Ideals ist so zentral in Kentenichs Denken, dass ihm an späterer Stelle ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Die Worte väterlich bzw. mütterlich, wenn er z. B. vor Lehrerinnen sprach, bezeichnen die Haltung, wachsendes seelisch- geistiges Leben zu nähren, zu schützen und zu erziehen.
Väterlichkeit und Mütterlichkeit sind Urformen der Erziehung. Der Terminus der tatkräftigen Mithilfe zeigt, dass es um ein Begleiten des Prozesses geht, nicht um ein Führen in dem Sinne, dass ein bestimmter Weg vorgegeben wird. Ebenso setzen die Begriffe Selbstständigkeit und Selbsttätigkeit den personalen Selbststand des Begleiteten voraus. Wenn Kentenich den Seelenführer als Priester bezeichnete, orientierte er sich an den Gepflogenheiten der damaligen Zeit. Jedoch wird schon aus der Tatsache, dass er zu Frauen über geistliche Mutterschaft sprach, deutlich, dass er Seelenführung und Amtspriestertum nicht zwingend verknüpfte. Das Wort priesterlich verstand er im Zusammenhang mit Väterlich- bzw. Mütterlichkeit nicht in einem konfessionell geprägten Sinne, sondern in einem übergeordneten Zusammenhang. Der wahre Erzieher muss nach Kentenich in der jenseitigen Welt unerschütterlich verwurzelt sein, ein priesterlicher Mensch sein (vgl.: Awi Mello 2003: 118).
Für sein eigenes Selbstverständnis als Pädagoge und Seelsorger ist sein Priestertum als geweihter Priester jedoch nicht wegzudenken. Die Feier der heiligen Messe war für ihn Mittelpunkt und Kraftquelle des Tages und es war ihm schwer, wenn er längere Zeit nicht zelebrieren konnte, wie in seiner Gefangenschaft. Die Möglichkeit, die Beichte zu hören gab ihm reichlich Gelegenheit, Menschen ganzheitlich zu führen und insbesondere jungen Menschen bei der Bewältigung von Wachstums- und Pubertätsnöten beizustehen. Kentenich hatte ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Pädagogische und marianische Sendung bilden einander ergänzende Pole, die in der Deutung seiner Biographie, ein von Maria erzogener Mensch zu sein ihren erfahrungsbezogenen Grund haben. Er verstand sich als Werkzeug Gottes und der Gottesmutter Maria, um Menschen bis in ihre unbewussten Tiefenschichten für Gott aufzuschließen und mit ihm zu verbinden. Seine eigene Sendung sah er mit der Sendung und Gründung der Schönstatt- Bewegung als Erzieher-, Erziehungs- und Apostolatsbewegung untrennbar verbunden. Als Aufgabe der Bewegung bezeichnete Kentenich eine Erneuerung des Christentums von seinen Wurzeln her, in welcher die vielfach zu rationalistische Einstellung zum Christentum korrigiert werden sollte. Auch sollte seine Bewegung wesentlich mitwirken am Aufbau eines an der Uridee Gottes erneuerten Menschen- und- Gemeinschaftsbildes.
Kentenich stand in einem weiträumigen Kommunikationsfeld. Er reflektierte eigene Beobachtungen, Erkenntnisse und pädagogisches Handeln an geistesgeschichtlichen Zusammenhängen und den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit, über politische Entwicklungen war er gut informiert. Ungewöhnlich für einen Theologen der damaligen Zeit war die grundsätzliche Einbeziehung psychologischer Gesichtspunkte in die Seelsorge. Trotz mancherlei Übereinstimmungen von Eigenbeobachtungen zum Beispiel mit der Tiefenpsychologie, schloss er sich keiner psychologischen Schule oder pädagogischen Richtung an. Über seine Vorgehensweise berichtete er, er habe viel
gelesen, allerdings viel mehr in den Seelen der Menschen als in Büchern. Mit Hilfe der Psychologie konnte Kentenich in der Glaubenserziehung sein Gegenüber besser verstehen und zum anderen die Welt des Glaubens besser zu vermitteln. Die Psychologie betrachtete er als Werkzeug, sie war ihm kein Selbstzweck. „Wer Führer sein will in der Welt der Erlösung muss auch Psychologe sein, wenn er bloß Theologe ist, kommt er nicht durch. Er müsste, wenn ich mich so ausdrücken darf, Verbindungsoffizier sein zwischen Theologie und Leben“ (Kentenich in Czarkowski 1973:55).
Seine eigene Biographie deutete er stets im Blick auf seine Berufung. Die selbst erfahrene Vaterlosigkeit, der Abbruch der wichtigsten sozialen Bindungen durch den Aufenthalt im Kinderheim, die Gefahr, in einer gleichgeschalteten Menge unterzugehen, seine jahrelange Unfähigkeit, neue Beziehungen einzugehen, seine Kontaktnot, schließlich die Heilung seiner seelischen Krise durch personale Begegnung und Bindung – all dies erschien ihm exemplarisch für die Krise des modernen Menschen. So wurde ihm die eigene Lebensgeschichte, gerade in ihren schwierigsten und traumatisierenden Phasen, die wichtigste Ressource, um sich in andere einzufühlen und ihnen glaubwürdig zu vermitteln, wie persönliche tiefe Nöte zum inneren Wachstum genutzt werden können. Er sprach wenig über sich, in der Regel nur, um andere zu ermutigen oder um Zeitbezüge aufzuzeigen.
Aus allem, was ich von und über Kentenich gelesen habe ergibt sich eine durchgängige Linie seines Wollens und Strebens, ein Ziel, dass sein Denken immer wieder umkreist und für das er sich mit seiner ganzen Emotionalität einsetzt. „Das Wort ist Fleisch geworden“ (Joh. 1,14) und soll immer wieder von neuem Fleisch annehmen. Der Heilswille Gottes für den einzelnen Menschen und für die Menschheit insgesamt soll konkret werden, Gestalt gewinnen. Die Inkarnation des Gotteswillens geschieht jeweils in einer konkreten Zeitsituation an einem konkreten Ort und umfasst nicht nur ein innerseelisches Geschehen, das dem einzelnen größere Handlungsfähigkeit in der Welt ermöglicht, es hat auch eine gemeinschaftsbildende und umformende Kraft. Kentenich sprach von einem neuen Menschen in einer neuen Gemeinschaft. Mit seinem pädagogischen Ansatz wollte Kentenich den Einzelnen und auch Gemeinschaften befähigen, in den verschiedensten Handlungs- und Spannungsfeldern schöpferisch und originell zu handeln, sodass die Gestalt, die der Mensch im Laufe seines Lebens gewinnt, ein getreuer Ausdruck des übernatürlichen Wollens ist.