3 Das pädagogische Wirken von Pater Kentenich

3 Das pädagogische Wirken von Pater Kentenich

3.1 Das anthropologische Grundverständnis

Im Laufe seines Studiums hatte sich Kentenich umfassend theologisch und philosophisch gebildet. Durch das biblische Menschenbild, das den Menschen als Abbild des als personal erkannten Gottes darstellt, wird die Personalität des Menschen gleichsam geehrt. Dies ist für Kentenich ein wichtiger Zugang, durch den die Beziehung zwischen Gott und Mensch einen deutlich personalen Charakter gewinnt. Durch den Sündenfall mit seiner Dramatik und seinen Folgen wird es notwendig, die Schwierigkeiten und Abgründe im Menschen realistisch einzuschätzen und zu behandeln. Aufgrund der Vielschichtigkeit der Persönlichkeit mit ihren oft filigranen Verästelungen ist die Gefahr des Auseinanderstrebens der Einzelkräfte hoch. Erziehung soll die personale Seinsmitte stärken und eine Anbindung zentrifugaler Kräfte an den Persönlichkeitskern ermöglichen. Besondere Aufmerksamkeit widmete Kentenich dem Bereich der Triebe, die als Energie auf ein bestimmtes Ziel hin genutzt werden können, wenn ihre Anbindung an den Kern der Persönlichkeit gelingt. Eine Integrationsfigur für die verschiedenen Persönlichkeitszüge- und Strömungen stellt das Modell vom Persönlichen Ideal (P.I.) dar (s. Kap. 3.2).

Von philosophischer Seite wurde Kentenichs Persönlichkeitsbild von der Auseinandersetzung insbesondere mit Kant, Fichte, Hegel, Schleiermacher, Nietzsche, Schopenhauer geprägt, aber er beschäftigte sich auch mit psychologischen, soziologischen und politischen Ansätzen, zum Beispiel mit Karl Marx, und mit der Pädagogik Ludwig Gurlitts und Ellen Keys (vgl. Schlickmann 1995: 87 ff.).

Besonders intensiv setzte er sich mit Kant auseinander. Nach Kant ist der Mensch eine autonome Persönlichkeit, frei und unabhängig von den Mechanismen der Natur, fähig, sich selbst vernünftige Gesetze zu geben. Dabei ging er davon aus, dass der Mensch ein sittliches Wesen ist, das heißt, dass er in sich selbst ein Prinzip des Guten, des Sittengesetzes vorfindet, welches er mit der Vernunft erkennen und in Freiheit erfüllen kann. Damit nimmt er eine Sonderstellung in der Schöpfung ein, als einziges vernünftiges Wesen ist er „Zweck an sich selbst“ (Kant in Schlickmann 2001: 87).

Kentenich sprach demgegenüber aus der katholischen Tradition heraus von der „vom Glauben erleuchteten Vernunft“ (Kentenich in Schlickmann 2001: 90). Er betrachtete die religiöse Dimension die eigentlich erhellende. Daraus folgt, dass die Tiefe der Gottverbundenheit wesentlich mit darüber entscheidet, ob sittliche Ideale erkannt und verwirklicht werden können. Tiefe Gottverbundenheit ist jedoch nicht nur das Ergebnis stetiger menschlicher Bemühung, sie ist wesentlich eine Wirkung der göttlichen Gnade. Natur und Gnade stehen nach Kentenichs Auffassung in einer engen Beziehung. Die Gnade setzt die Natur voraus und baut auf ihr auf, sie spricht Menschen in einer ihnen gemäßen Weise an, sie bewirkt nichts, was mit der Natur des einzelnen Menschen inkompatibel ist. „Die Natur mit ihren Anlagen ist sogar die Norm für die Gnade. Sie bestimmt mit das Ziel des Menschen, die Art und Anregungen der Gnade“ (Kentenich in Hrsg. Joseph Kentenich Institut 1979: 121). Daher ist es überaus wichtig, der individuellen Natur, wie sie sich zum Beispiel in der „Seelenstimme“ äußert, Gehör zu schenken (vgl. Kap. 2.3 dieser Arbeit). Das Vollbild und Vorbild des begnadeten Menschen ist in der Gottesmutter Maria zu erkennen.

Für die Seelsorge und ebenso für die Erziehung von Kindern bedeutet dies, dass die vitalen Schichten des Menschen nicht als unspirituell betrachtet und entwertet werden, sondern gleichsam einen Ackerboden darstellen, aus dem der ganzheitliche, natürlich- übernatürliche Mensch seine Wachstumskräfte bezieht.

Nach Schlickmann lässt sich Kentenichs Persönlichkeitsbegriff folgendermaßen strukturieren:

  1. „das Person-Sein des Menschen im Hinblick auf eine Seinsordnung, die vom Schöpfer gegeben ist und die Würde des Menschen konstituiert bzw. sichert
  2. die Persönlichkeit in ihrer individuellen Ausprägung des Charakters
  3. das Persönlichkeit- Werden als angestrebtes Ziel der Selbsterziehung, das über

die so genannte Ausstrahlung der Persönlichkeit eine Wirkung auf das soziale Umfeld garantiert“ (Schlickmann2001: 92).
Zur Frage, wie sich die Reifung der Persönlichkeit vollzieht, formulierte Kentenich vier so genannte Wachstumsgesetze:

  1. Organisches Wachstum ist langsam.
  2. Organisches Wachstum ist gleichzeitig, aber nicht gleichmäßig.
  3. Organisches Wachstum vollzieht sich von innen heraus, aus einer Ganzheit in eine andere Ganzheit.
  4. Stadiengesetz: Bei einem starken biographischen Bruch ist oftmals später zu erkennen, dass sich die Identität auch nach dieser Erschütterung durchgehalten hat.

Folgende Konsequenzen für die Begleitung oder Erziehung von Menschen ergeben sich meines Erachtens hieraus:
Der Zeitfaktor für einen Entwicklungsprozess sollte eher höher als zu niedrig angesetzt werden. Auch wenn es in der Entwicklung der Persönlichkeit große Sprünge nach vorne geben kann, zum Beispiel in der Selbsterkenntnis, kann es längere Zeit dauern, bis diese Erkenntnisse ins Handeln fließen, inkorporiert werden. Vorübergehende Rückfälle in alte Muster müssen einkalkuliert werden. Dies wird auch aus dem Bereich der Psychotherapie, insbesondere aus den Erfahrungen mit kognitiver Umstrukturierung zum Beispiel in der Depressionsbehandlung bestätigt.

Das zweite Wachstumsgesetz ist unmittelbar einsichtig im Bezug auf das körperliche Wachstum. So wachsen zum Beispiel zu Beginn der Pubertät die Extremitäten stärker als der Rumpf, was zu einer disharmonischen Proportionsverteilung führt, unter der der Jugendliche eventuell leidet. Aber zu einer späteren Zeit wächst der Rumpf nach, und das Gleichgewicht der Proportionen wird wieder hergestellt. Auch im seelischen Bereich lassen sich Ungleichzeitigkeiten des Wachstums beobachten. Kinder können sich zum Beispiel intensiv über Wochen mit einem Thema beschäftigen und andere Interessen darüber vernachlässigen. Später wird das ursprüngliche Thema fast vergessen, weil der Interessenfokus sich verlagert hat. Bei Erwachsenen lassen sich Ungleichzeitigkeiten im seelischen Wachstum besonders in therapeutischen oder seelsorgerlichen Prozessen beobachten. Von therapeutischer Seite kann es sogar angezeigt sein, eine gewisse Einseitigkeit nicht nur hinzunehmen, sondern für eine begrenzte Zeit zu fördern. Folgendes Beispiel soll dies verdeutlichen: bei einer Depression gibt es eine Leidenserfahrung sowohl auf der kognitiven, der emotionalen, der körperlichen wie auch der sozialen Ebene. Zu Beginn der Therapie kann es nötig sein, zunächst auf einer oder zwei Ebenen Entlastung zu schaffen, zum Beispiel schwere Schlafstörungen medikamentös zu behandeln und gleichzeitig im sozialen Bereich für Erfolgserlebnisse zu sorgen. Wenn sich dann das Befinden der Person im körperlichen und sozialen Bereich ausreichend verbessert hat, ist es möglich die Ebene der Kognitionen und der Emotionen anzusprechen. Bei einer anderen Person, zum Beispiel mit schweren Traumatisierungen in der frühen Bindungsgeschichte wird es evtl. nötig sein, eine sehr starke Bindung an den Begleiter zuzulassen und auf diese Weise eine Nachreifung der Bindungsfähigkeit zu ermöglichen. Unter Umständen ist erst danach mit einer Verbesserung des Selbstwertgefühls und einer eigenständigeren Lebensführung zu rechnen. Der Weg der Entwicklung oder der Heilung kann durchaus über vorübergehende Einseitigkeiten führen. Entscheidend für den Begleiter, den Pädagogen oder den Therapeuten ist es, die Person möglichst in ihrer Ganzheitlichkeit zu erfassen mit ihrem individuellen Zielhorizont, im kentenichschen Sinne mit ihrem P.I., um dann zu entscheiden, in welchem Maße Einseitigkeiten tolerabel sind.
Auch das dritte Wachstumsgesetz ist in Bezug auf die körperliche Entwicklung nachvollziehbar. Gemäß der Erbanlagen wird aus dem Embryo ein Baby, aus dem Baby ein Kleinkind, und so weiter bis zum erwachsenen Mann oder der Frau. Es ist möglich, jede Stufe als Ganzheit zu bezeichnen, wobei der Begriff Ganzheit meines Erachtens genauer definiert werden müsste. Im seelisch- geistigen Bereich gibt es Entsprechungen zu den körperlichen Stufen, die jedoch nicht immer unmittelbar zu beobachten und schwierig gegeneinander abzugrenzen sind. Wenn zum Beispiel die Pubertät als Stufe bezeichnet würde, wäre Ganzheit als Kennzeichnung dieser Stufe unangemessen, es sei denn, die Ganzheit der Pubertät sei gekennzeichnet z.B. durch die Erfahrung von Zerrissenheit. Daher verstehe ich das dritte Wachstumsgesetz weniger im Sinne einer exakten Entwicklungsbeschreibung als vielmehr im Sinne eines Postulats zur Wertschätzung der jeweiligen Entwicklungsstufe, also als ein pädagogisches Anliegen. Auch das Stadiengesetz verstehe ich primär aus dem Blickwinkel des pädagogischen oder therapeutischen Anliegens. Bei starken Traumatisierungen stellt sich immer die Frage nach der Anknüpfungsmöglichkeit an die Identität vor dem Trauma. In dieser Identität liegen die Ressourcen zur Bewältigung des Bruchs. Nach meiner Erfahrung ist eine Anknüpfung tatsächlich sehr oft möglich.

Kentenich spricht hier von einem biographischen Bruch. Möglicherweise hatte er die vielen jungen Menschen im Blick, die er im ersten Weltkrieg brieflich begleitete. Sie hatten überwiegend ein klares Identitätsempfinden und eine bewusste religiöse Einstellung in ihrer Sozialisation entwickeln können und waren in der Regel psychisch nicht auffällig. In Bezug auf meine Klientel ist zu sagen, dass oftmals nicht ein Bruch zu erkennen ist, sondern viele Brüche, von frühester Kindheit an mit oft gravierenden psychischen Auffälligkeiten. Gleichzeitig fehlt der bewusste religiöse Bezug. Bei ihnen kann sich keine konsistent erfahrene Identität entwickeln, eine solche muss vielmehr mühsam über Nachreifungsprozesse erarbeitet werden. Dies gelingt nicht immer. Aber auch bei Menschen, die ihre Identität als gebrochen erfahren, stellt sich die Frage nach Anknüpfungspunkten. Für die Klientinnen meines Arbeitsfeldes halte ich es für geeigneter, von Anfang an mehrere Bezugspersonen ins Spiel zu bringen, die in enger Abstimmung miteinander arbeiten, wie es in unserer Einrichtung auch geschieht. Kentenich fand in der persönlichen Begleitung auch für sehr schwierige Charaktere Wachstums – und Heilungsmöglichkeiten und gab niemanden auf. In solchen Fällen ließ er über lange Jahre eine starke persönliche Bindung an ihn zu. Dies entsprach seiner Persönlichkeit und seinem Charisma, ist aber in dieser Form wohl nur sehr selten übertragbar ins soziapädagogische Handlungsfeld, und zwar weil die Voraussetzungen für ein solches Vorgehen sowohl bei den Klienten wie bei den Begleitern nicht gegeben sind.

3.2 Werteempfinden und Wertegebundenheit im Persönlichen Ideal

Kentenichs idealpädagogischer Ansatz geht von der Tatsache aus, dass sich jeder Mensch ein erfülltes, gelingendes Leben wünscht und im Rahmen seiner oft sehr begrenzten Möglichkeiten auch versucht, dies zu verwirklichen. Der Pädagogik kommt die Aufgabe zu, den jungen Menschen zu unterstützen, seine persönlichen Werte, sein P.I. zu entdecken, zu formulieren und zu entwickeln. Dazu gehören auch das Kennen lernen der eigenen Begabungen, Schwächen und persönlichen Ressourcen sowie eine realistische Einschätzung derselben. So soll der junge Mensch seine ganz persönliche, originelle Identität entwickeln und lernen, seine Entscheidungen selbständig, frei und mit Verantwortungsgefühl in Bezug auf die Konsequenzen für sich und für andere zu treffen. Die Idee des P.I. entwickelte Kentenich, als er in seiner seelsorgerlichen Praxis, insbesondere mit Jugendlichen, und möglicherweise zuvor in seiner Eigenerfahrung die Aneinanderreihung von Idealen zur Seelenführung als wenig hilfreich erfuhr. Durch die Addition von erwünschten Tugenden und religiösen Verbindlichkeiten entsteht ein Idealschema, dem der Einzelne in der Regel nicht gerecht werden kann. Damit geht oftmals die Freude an einem religiös gestalteten Leben verloren, es besteht die Gefahr, die religiösen Ideale herunterzuschrauben, sie aufzugeben oder sich selbst zu belügen. Daher suchte er nach einem mehr am Individuum orientierten Weg.

Kentenich gebrauchte den Begriff systematisch ab 1917, zuvor tauchte er sporadisch auf. Die christliche Persönlichkeit entwickelt sich in zwei Spannungsfeldern: einerseits den als allgemeingültig anerkannten Werten, zum Beispiel den Werten der Gottes-, Nächsten- und Selbstliebe, der Barmherzigkeit, Hilfsbereitschaft, Liebe zur Freiheit, Treue usw. und andererseits den persönlichen Neigungen, Anlagen und Vorlieben. Das zweite Spannungsfeld wird konstelliert durch die Individualitätsentwicklung einerseits und die Entwicklung der Beziehungsfähigkeit auf der anderen Seite. Das P.I. stellt eine strukturierende Mitte dar, es bündelt die zentralen Werte einer Person, es ist ein religiös motiviertes Selbstkonzept. „Das Persönliche Ideal als individuelle Zielgestalt sichert den Kern der Persönlichkeit, ihre Einheit und innere Geschlossenheit, kurz, ihre seelische Grundhaltung“ (Czarkowski 1973:76). Weil es um Werte geht, die die Person in einem längeren Entwicklungsprozess im Kontakt mit ihren Tiefenschichten bewusst wählt und in ihrem Leben zum Ausdruck bringen möchte, liegt im P.I. eine starke, intrinsisch motivierende Energie. Nach Penners liegt die religionspädagogische Bedeutung des P.I. darin, dass es auf seelische Grundbedürfnisse des Menschen antwortet (vgl.: Penners 1983: 98).

–  dem Bedürfnis nach Geschlossenheit und Harmonie
–  dem Bedürfnis nach gesunder organischer Entwicklung
–  dem Bedürfnis nach Wahrung und Gestaltung der eigenen Individualität

Im P.I. gibt sich der Mensch einen Zielhorizont, der die gegenwärtigen Bedürfnisse überschreitet und damit ich- erweiternd und selbst- steigernd wirkt. Es gibt der Lebenssehnsucht des Individuums einen Namen und eine Fassung. Weil es sich erst in einem längeren Prozess klärt, ist es prinzipiell offen für Anreicherungen und Veränderungen. Auch kann es kann einen symbolischen oder sprachlichen Ausdruck finden. In einer konträr denkenden und lebenden Umwelt stärkt das P.I. den Einzelnen durch die Rückbindung an seine eigene Wertwelt. Somit sichert es seine innere Freiheit auch in Situationen äußerer Freiheitsbeschränkungen. Dies ist Voraussetzung für ein seelisches Überleben in totalitären Systemen oder in totalen Institutionen. Das P.I. dient der Selbstfindung, Selbstverwirklichung und der Selbstvergewisserung unter Berücksichtigung der eigenen Grenzen. Es klärt sich auch, was im Leben des Einzelnen keine Priorität hat. Im Entscheidungsprozeß kann das P.I. richtungweisend sein, da in ihm Grundeinstellungen sichtbar sind bzw. Grundentscheidungen getroffen sind, an denen im Fall der Einzelentscheidung Maß genommen werden kann.

Die theoretische Beschreibung des P.I. erfolgt auf drei Ebenen:

  1. philosophisch als „idea exemplaris in mente divina praeexistens“ (vgl. Czarkowski 1973: 58- 86). Das bedeutet, dass jeder Mensch von Gott erdacht, gewollt und bejaht ist und eine einmalige geistige Gestalt in Gottes Geist schon vor seiner leiblichen Erschaffung war.
    Gott erschafft nicht nur Ideen oder allgemeine Wesenheiten, sondern konkrete, individuelle Personen. Ein Mensch, der darauf vertraut, hat eine große Sicherheit und Geborgenheit in der göttlichen Vorsehung.
  2. theologisch als „originelle Teilhabe an der göttlichen und gottmenschlichen Vollkommenheit“ (Penners 1983: 96). Dies ist eine Aussage über die Zielrichtung der Persönlichkeitsentwicklung. Originell meint, dass jeder Mensch in der ihm gemäßen Weise teilhaben soll an der Fülle Gottes.
  3. psychologisch als den „gottgewollten Grundzug oder die Grundstimmung der begnadeten Seele, die getreulich festgehalten, in organischer, gnadenvoller Entwicklung sich ausreift zur vollkommenen Freiheit der Kinder Gottes“ (Penners 1983:96). Diese Erklärung umfasst natürliche und gnadenhafte Prozesse, bewusstes und unbewusstes Seelenleben, sie bezeichnet sowohl eine Zuständlichkeit als auch eine Entwicklungsdynamik. Natürliche und gnadenhafte Prozesse müssen identifiziert und unterschieden werden, um Selbsttäuschungen zu vermeiden und um die Entwicklung der Seele realistisch einschätzen und pädagogisch sinnvoll intervenieren zu können.

3.3 Die Bedeutung der Freiheit

Schon in den frühesten schriftlichen Zeugnissen, die über Kentenichs erzieherische Tätigkeit Auskunft geben, ist der Freiheit ein hoher Stellenwert eingeräumt. So sagte er in seinem Einführungsvortrag als Spiritual im Jahre 1912: „Wir wollen lernen, uns unter dem Schutze Mariens selbst zu erziehen zu festen, freien priesterlichen Charakteren“ (Kentenich in Monnerjahn 1975: 63). Seine Hochschätzung der Freiheit ist auffällig in der wilhelminischen Zeit, die geprägt war von einem autoritären Denken, in dem das Freiheitsstreben des Menschen mit Misstrauen betrachtet wurde und Gehorsam und die Fähigkeit zur Unterordnung hohe Tugenden waren. In der Erziehung waren das rechtzeitige Beschneiden der Triebe und das Brechen des Eigenwillens wichtige Teilziele, körperliche Strafen waren, außer in der Reformpädagogik, weitgehend gesellschaftlich akzeptiert. In seiner eigenen Jugend erlebte Kentenich über Jahre im Waisenhaus strenge Reglementierungen und Einschränkungen seiner Freiheit. Schon damals beschloss er, es einmal anders zu machen als seine Erzieher und Lehrer.

Theologisch begründet er das Freiheitsstreben des Menschen mit dessen Abbildlichkeit: „Der ewige Gott ist frei, er ist ein persönlicher Gott, kein unbestimmtes Etwas, kein Fatum; also ist auch sein Abbild als freie Persönlichkeit von seinem Urbild gedacht und geschaffen“ (Kentenich in Schlickmann 2001:257). Im Galaterbrief heißt es: „Für die Freiheit hat uns Christus frei gemacht; darum steht fest und lasset euch nicht wieder unter ein Joch der Knechtschaft bringen“ (NT, Gal. 5,1). Freiheit hat Gott für den Menschen erdacht, darum ist sie ein Zielbild menschlicher Entwicklung und menschlicher Erziehung. Vollendete Freiheit ist Teilhabe am göttlichen Leben.

Freiheit ist dem Menschen nicht a priori gegeben. Sonst hätte Christus sie nicht bringen müssen, sonst müsste sie sich der Mensch nicht je neu erringen.
Kentenich setzte nicht an bei äußeren Veränderungen, sondern, entsprechend seiner eigenen biographischen Erfahrungen, bei inneren Prozessen. Freiheit meint mehr als Freiraum, sie ist ein Qualitätsmerkmal menschlichen Lebens. Daher ging es ihm im Gegensatz zu manchen reformpädagogischen Strömungen nicht darum, pädagogische Oasen zu schaffen, in welchen andere Gesetze gelten als in der Umgebung. Freiheit beschrieb er als Entscheidung- und Durchsetzungsfähigkeit. Die Entscheidungsfähigkeit ist die zentrale Kompetenz, die erarbeitet werden muss. Durchsetzungsfähigkeit hängt hingegen nicht allein vom Individuum ab, sondern ist wesentlich mitbestimmt vom Umfeld. Individuell ist sie ein Ergebnis von Handlungssicherheit, gewonnen durch innere Beständigkeit. Freiheit kann ohne Perspektive, ohne ein wozu nicht gelebt werden.

Entscheidungen werden immer in einer sozialen Umwelt getroffen, sie haben meist Konsequenzen für andere Menschen, müssen hi nen gegenüber verantwortet werden. Daher steht Freiheit in engstem Zusammenhang mit den Werten der Person, wie sie zum Beispiel im P.I. ihren Ausdruck finden. Wofür will ich leben? Diese Frage drückt die Möglichkeit einer Entscheidung im Horizont des eigenen Werteempfindens aus. Höchstes Ziel der Freiheit ist für Kentenich, der christlichen Tradition folgend, die Liebe. Die enge Verbindung von Freiheit und Liebe zeigt sich auch in der inneren Verbindung der Worte. Ein Freier ist ursprünglich ein Liebender, der um die Hand der Geliebten anhält (vgl. Schlickmann 2001: 266).

Eine Voraussetzung, um zur inneren Freiheit zu gelangen, ist die Selbsterkenntnis und deren Anwendung in der Selbsterziehung. Für die Selbsterkenntnis gebrauchte Kentenich die Umschreibung: „Forschungsreise in unser Inneres“ (Kentenich in Schlickmann 2001: 136). Den pubertierenden Jungen, zu denen er in dieser Weise sprach, gab er durch den Vergleich mit einer Forschungsreise die Gelegenheit, sich von ihren Problemen zu distanzieren, sie unbefangen zu beobachten und zu beschreiben anstelle sie sofort zu bewerten. Es geht um einen bewussten Umgang mit Willenskräften, Phantasien, Triebregungen und gleichzeitig um die Entwicklung eines objektiven und subjektiven Wertebewussts eins. Die integrierende Figur und gleichzeitig der Zielhorizont der Entwicklung ist das P.I. Durch die Harmonisierung der Kräfte und der Zentrierung in ihm gewinnt der Mensch zunehmend Entscheidungsfreiheit, er wird wirklichkeitsmächtig. Über die Bedeutung des frei Gewollten sagte Kentenich: „Denn nur das Freigewollte ist bodenständiges Gewächs im Menschen; und nur das, was starke Wurzeln hat, kann wider die Unbilden der Witterung standhalten. Alles andere schält sich los wie eine aufgeklebte Etikette“ (Kentenich in Schlickmann 2001: 140).

Eine weitere wichtige Voraussetzung der inneren Freiheit ist ein gut entwickeltes Selbstwertgefühl. Die Forschungsreise ins Innere bringt oftmals Erkenntnisse oder auch Emotionen hervor, die nicht ohne weiteres in die Persönlichkeit integrierbar sind. Geduld, wohlwollende Offenheit sich selbst gegenüber oder das Eingeständnis von Schwächen und Fehlern sind ohne ein ausreichendes Maß an Selbstachtung nur sehr schwer aufzubringen. Selbstwertgefühl entsteht wesentlich durch die Erfahrung, von anderen, insbesondere den frühen Bindungspersonen, wertgeschätzt zu werden. Aber auch das christliche Menschenbild, bei dem jeder Mensch von Anfang an gottgewollt und gottgeliebt ist, ist eine Quelle der Selbstachtung. Diese Quelle kann nach meinem Dafürhalten zum wichtigen Anknüpfungspunkt und zur entscheidenden Ressource im Heilungsprozess schwer traumatisierter Menschen werden.

Um innerer Freiheit zu erlangen ist die subjektive Erfahrung seelischen Befreitseins eine große Hilfe, die Erfahrung, dass Schuld und Sünde vergeben werden und immer wieder ein Neuanfang möglich wird.
Beeinträchtigt wird die innere Freiheit durch Vorurteile und Verklemmtheit, die unter Umständen zur Skrupelhaftigkeit wird, durch die Unberechenbarkeit der Triebe, durch Negativerfahrungen im Sinne von Traumatisierungen sowie durch eine unzureichend entwickelte Urteilsfähigkeit mit der Gefahr, von anderen Menschen dominiert zu werden. Auch uneingestandene Schuld macht unfrei.

Kentenich ermutigte seine Schützlinge, sich abzugrenzen von der Beurteilung durch andere und sich auf eigene Werte zu beziehen. Im Umgang mit der eigenen Vergangenheit riet er, diese zielgerichtet im Blick auf das P.I. zu reflektieren und Leid- und Krisenerfahrungen als Wachstumschancen, also ressourcenorientiert zu sehen. Selbst erfahrenes Leid kann dazu helfen, andere Menschen mit ähnlichen Erfahrungen gut zu verstehen. Religiös ausgedrückt bedeutet dies, Leiderfahrungen und Traumata im Hinblick auf die persönliche Berufung zu verstehen.

Aus seiner eigenen Bildungsgeschichte heraus riet er, nach Möglichkeit den eigenen Bildungsweg selbst zu gestalten im Blick auf die eigene Lebensaufgabe.

3.4 KentenichspädagogischePraxis

Kentenichs pädagogische Praxis ist geprägt von der Überzeugung, dass diese eine konkrete Anwendung der Seinsordnung sein müsse. Christliche Pädagogik in diesem Sinne heißt, den Heilswillen Gottes in die konkrete pädagogische Situation zu übersetzen und umgekehrt konkretes pädagogisches Handeln rückzubinden an die allgemeinen Weltgesetze. Gleiches gilt für die seelsorgerliche Praxis.

Kentenich lehnte eine Pädagogik ab, die sich reaktiv auf Verhaltensweisen der Edukanden bezieht, Anpassung fordert und vor allem Rollenerwartungen vermittelt. Dieser Aktpädagogik (Kentenich in Schlickmann 2001: 111) stellte er die
Gesinnungspädagogik gegenüber, die die Entwicklung wertegetragener Haltungen fördert.
Dies ist möglich in einem dialogischen Prozess, in gegenseitiger Zuwendung im Dienste der Idealfindung des Edukanden. Von Seiten des Erziehers prägen die Haltung von Liebe und Ehrfurcht. Die Liebe ermöglicht und bejaht gegenseitige Bindung, die Ehrfurcht sorgt für die angemessene Distanz und bejaht und betont die Freiheit des Edukanden. Ehrfurcht und Liebe bilden eine organische Einheit, wobei in spezifischen pädagogischen Situationen einer der Pole zeitweilig stärker betont sein kann in „organischer Einseitigkeit“ (Kentenich in Awi Mello 2003: 75). Grundsätzlich sollen aber jeweils beide Haltungen vorhanden sein, egal wie alt der Edukand ist, damit dieser ein gesundes Selbstgefühl und Selbstwertempfinden entwickeln kann. Ehrfurcht äußert sich zunächst in einer bedingungslosen Wertschätzung des Gegenübers. Diese hat ihren Grund darin, dass jeder Mensch ein geliebtes Gotteskind ist, von Gott gewollt und bejaht, auch in allen Verirrungen und Verstrickungen. Das bedeutet jedoch nicht, auch das Verhalten des Edukanden immer gut zu heißen. Im Gegenteil, die Ehrfurcht vor dem anderen gebietet es, ihm auch unangenehme Wahrheiten zu spiegeln und ihn gegebenenfalls vor bestimmten Handlungen zu warnen.

Ehrfurcht beinhaltet auch Geduld und die Vermeidung schablonenhaften Verhaltens. „Schablone kann verschieden sein. Oft ist es eine Person, oft die eigene. Es kann aber auch eine Lieblingsmeinung sein. Wie viele Schablonen! Hier sitze ich und bilde Menschen nach meinem Bilde!“(Kentenich in Awi Mello 2003: 73). Der Begriff Ehrfurcht bei Kentenich erinnert an die von Rogers Wertschätzung genannte Haltung. Allerdings geht Ehrfurcht über die Wertschätzung hinaus, sie beinhaltet die Anerkennung des anderen als Ebenbild Gottes. Die Ehrfurcht vor Gott begründet die Ehrfurcht vor dem Menschen.

Liebe soll nach dem Gesetz der organischen Übertragung und Weiterleitung gelebt werden, als Anwendung der Zweitursachenlehre. Sie ist nicht nur rein geistig zu verstehen, sondern soll auch die affektiv- sinnenhafte Ebene einbinden. Da die Gnade auf der Natur aufbaut und sie vervollkommnet, ist in besonderer Weise die natürlich- vitale Ebene des Menschseins in ihren Gesetzmäßigkeiten zu beachten.

Aus der Liebe erwächst die Einfühlung und das „emporbildende Verstehen“ (vgl.: Awi Mello 2003:86). Diesen Begriff übernahm Kentenich von Eduard Spranger. Er meinte damit das innere In-Fühlung bleiben mit dem Edukanden, das Erspüren seiner Wertwelt, das Herausspüren des Guten und Lebensfördernden sowie das genaue und aktive Zuhören und das Heraushören des nicht Ausgesprochenen. „Ein solches Verstehen bildet bei allen Schwächen und Schwierigkeiten empor. Es kennt den Glauben an das Gute im Zögling, an seine Art und seine Sendung“ (Kentenich in Awi Mello 2003:86). Carl Rogers bezeichnete diese Gesprächshaltung als Empathie.
Liebe und Ehrfurcht bewirken beim Begleiter eine offene Suchhaltung, auch soll er das Gehörte nicht rein verstandesmäßig aufnehmen, sondern es durch Herz und Hirn gehen lassen.

Über die Haltung der Selbstlosigkeit wurde bereits gesprochen. In engem Zusammenhang damit steht der Begriff Unberührtheit, psychologisch gesprochen der Abstinenz. Über die Bedeutung, den Edukanden nicht für eigene Zwecke zu vereinnahmen hinaus, ist darin ein sehr positiver Wert enthalten: das Wissen, als Erzieher ganz Gott zu gehören und den begleiteten Menschen ebenfalls innerlich ganz Gott anzuvertrauen. Der Beziehungsstrom zwischen Erzieher und Edukanden soll ungehindert zu Gott weiterfluten.

Weiter stellte Kentenich an den Erzieher die Forderung, sich möglichst authentisch zu verhalten. Wenn Erziehung nicht aus dem Herzen des Erziehers kommt, sondern künstlich oder gar erzwungen wirkt, wird sie die beabsichtigte Wirkung verfehlen. Dies entspricht der von Rogers postulierten therapeutischen Haltung der Echtheit oder Authentizität.

Um seine pädagogischen Gedanken konkret umzusetzen beschritt Kentenich verschiedene Wege. Für die Jungen im Studienheim hielt er Vorträge über menschenkundliche Fragen, um ihnen grundlegende Informationen zu geben, gerade auch über heikle Themen wie das Verhältnis des Leibes zur Seele oder den sittlichen Wert der Leidenschaften (vgl.: Schlickmann 2001:94). Er wollte den Jungen einen unvoreingenommenen Blick auf sich selbst und auf ihre vitalen Regungen ermöglichen, besonders auf die Sexualität, die zur gottgewollten Grundausstattung des Menschen gehört. Auch las er gemeinsam mit ihnen Bücher, die altersentsprechende Themen aufgriffen und förderte die freie Aussprache darüber. Für die Jungen war es zunächst bedeutend leichter, anhand von fiktiven Personen Stellung zu beziehen zu Fragen, die sie selbst betrafen, als direkt über sich zu sprechen. Innere Schwierigkeiten wurden auf ihr Lernpotential hin untersucht und als zu meisternde Aufgaben betrachtet. In der Gruppe förderte er kontroverse Stellungnahmen, um ein breites Meinungsbild und damit fundierte Entscheidungen zu ermöglichen. An sich selbst stellte er den Anspruch, keine Lieblinge zu haben, exakt im Wissen zu sein, klar im Vortrag, konsequent in seinen Forderungen. Körperliche Bestrafungen lehnte er ab. Auf das Hervorkehren äußerer Autorität verzichtete er. Viele Schüler waren zu seiner Zeit als Spiritual in Einzelbegleitung bei ihm. Wo es organisatorisch möglich war, schuf er auch äußere Freiräume, die die Jungen gestalten konnten, was bei den Lehrerkollegen zum Teil auf Unverständnis stieß (vgl. Schlickmann 2001: 291- 305).
Auch in späterer Zeit wirkte er wesentlich in der Einzelseelsorge, weiter durch Vorträge, Predigttätigkeit, Exerzitien und durch eine reiche Korrespondenz.
Kentenich versuchte, sein Gegenüber zur Selbsterziehung anzuregen. Das Ziel des christlichen Lebens, die Freiheit der Kinder Gottes und die Heiligkeit, erfordern ein andauerndes tiefes Streben und konkretes Bemühen. Aber auch soziale Gründe sprechen für die Selbsterziehung: der Wunsch, dass andere nicht unter den eigenen Fehlern leiden müssen, insbesondere Edukanden nicht unter den Fehlern ihrer Lehrer. Auch können Fehlentwicklungen, die in der Fremderziehung grundgelegt sind, durch Selbsterziehung positiv beeinflusst werden. Fremdsteuerung soll zunehmend durch Selbststeuerung ersetzt werden.

Selbsterziehung beginnt mit Selbstreflexion und Selbsterkenntnis und vollzieht sich in der Orientierung am P.I. Sie betrifft alle zugänglichen Bereiche der Person, wobei das Augenmerk besonders auf die Willenskräfte, die Phantasie und das Gedächtnis gerichtet wird. Vorsätze können Hilfsmittel sein, vorausgesetzt, es handelt sich um wenige, eventuell nur einen, positiv formulierten und möglichst konsequent durchgeführten. Die Schritte dürfen klein sein, wichtig ist die Regelmäßigkeit. Kentenich empfahl, sich selbst eine „geistliche Tagesordnung“ (GTO) zu geben. Sie ist eine Konkretisierung dessen, was ein Mensch im Hinblick auf sein P.I. im Tagesablauf unbedingt gesichert haben möchte. Wichtig ist, dass die GTO etwas enthält, was der Person Freude macht und sie möglichst ganzheitlich anspricht. Zum Beispiel könnte die GTO für eine Person, die täglich den Rosenkranz beten möchte und sich gerne in der Natur bewegt einen auf einem täglichen Spaziergang gebeteten Rosenkranz bedeuten. Auch Verzichten- Können gehört zu einer reifen Liebe, daher sollten auch Schritte des Verzichtes geübt werden, zum Beispiel indem sich die Person hin und wieder etwas Erlaubtes versagt. Aber sinnvoll ist nur der Verzicht, der im Horizont der Liebe erfolgt, nicht der krampfhaft erzwungene.

Insgesamt ist Kentenichs pädagogische Praxis durch ein ausgewogenes Maßhalten gekennzeichnet. Es werden zwar die höchstmöglichen Ziele angestrebt, aber bei den Wegen und Mitteln orientierte sich Kentenich an den Möglichkeiten des Zöglings und an seinem P.I. Auch war sein Vorgehen immer ganzheitlich, dass heißt, auch die vitalen Energien und Bedürfnisse wurden in den Entwicklungsweg eingebunden.