Durch die starke Betonung der Freiheit, dem Nachspüren der Lebenssehnsucht des Einzelnen, wie sie sich im P.I. nahe legt und dem Primat der Selbsterziehung vor der Fremderziehung entstand in manchen pädagogischen und kirchlichen Kreisen der Eindruck, Kentenichs Ansatz sei einseitig individualistisch ausgerichtet. Entsprechende Kritik wurde immer wieder geäußert. Er ist jedoch komplementär angelegt: der stark idealpädagogische Zug wird ergänzt durch den Pol der so genannten Bündnispädagogik. Erst durch die Verbindung mit anderen Menschen, durch personale Beziehung, kann der Mensch seine Idealanlage verwirklichen. Im Mittelpunkt der Erziehung steht das P.I. des Edukanden bzw. des Klienten in der seelsorgerlichen Begleitung. Dieses kann er jedoch nicht allein aus sich heraus verwirklichen. Die Bindung zwischen Erzieher und Edukanden und die Einbindung in den Bindungsorganismus ist nötig, um das erkannte und reflektierte P.I. zunehmend umzusetzen und die Selbsterziehung vorzubereiten. Gleichzeitig bereitet ein gelungener pädagogischer Bezug den Boden für eine vertrauensvolle Gottesbeziehung. Natürliche Bindungen bereiten die übernatürlichen vor, sie geben Modelle, im Positiven wie im Negativen. Wegen der großen Bedeutung der Vorerfahrungen im natürlichen Bereich für die Persönlichkeitsentwicklung und die religiöse Bindungsfähigkeit schenkte Kentenich der Gestaltung der Beziehung zwischen Erzieher und Edukand und insbesondere der Haltung des Erziehers große Aufmerksamkeit. Aber auch die Gemeinschaft in sozialen Bezugsgruppen und die Gesellschaft leisten Erziehungsaufgaben. Von den Anfängen seiner erzieherischen Tätigkeit an formulierte Kentenich sein Ziel immer wieder als die Vision vom „neuen Menschen in einer neuen Gemeinschaft“ (Kentenich in Czarkowski 1973: 117), da der Mensch nicht nur ein religiöses, vernunftbegabtes und jenseitig ausgerichtetes Wesen, sondern ebenso ein soziales, vom Grund her auf Gemeinschaft angelegtes Geschöpf ist. Dies wiederum ist theologisch begründet in seiner Abbildhaftigkeit, denn der dreieinige Gott ist in sich selbst ebenfalls Beziehung und Liebe und gegenseitige Durchdringung der göttlichen Personen. Der Mensch kann ohne Beziehungen und ohne Bindungen nicht existieren, sie sind die Voraussetzung für die persönliche Entwicklung. Besonders die elementaren Bindungen wie die familiären formen und bilden den Menschen, ohne sie könnte er zu Beginn seines Lebens nicht bestehen. Die Gemeinschaft stellt den Einzelnen vor Entwicklungsaufgaben, sie legt ihm zu überwindende Hindernisse in den Weg, sie bietet Anreize, Antriebe und Vergleichsmöglichkeiten, sie schafft Interaktionen und Abhängigkeiten. Andere Menschen treten als Helfer, Verbündete, Freunde, oder aber als Gegner und Rivalen auf den Plan. Der Einzelne empfängt von der Gemeinschaft, aber er beschenkt sie auch.
In jedem Stadium der Entwicklung braucht der Mensch Geborgenheit und Sicherheit, das Gefühl, getragen zu sein, für andere Bedeutung zu haben und geliebt zu werden. Wohl ändern sich im Laufe des Lebens die Schwerpunkte, zum Beispiel benötigt das Kind ungleich mehr Geborgenheit, als es selbst schenken kann, während der in sich gefestigte Erwachsene viel Geborgenheit geben kann. Aber immer ist der Einzelne auf die Gemeinschaft bezogen und auf sie verwiesen. Dies gilt sogar für den Einsiedler, der wegen einer anderen Gemeinschaft, nämlich der mit Gott die Menschengemeinschaft verlässt. Kentenich formulierte die Beziehung zwischen Individuum und Gemeinschaft folgendermaßen:
„Die Persönlichkeit drängt mit den tiefsten Wurzeln ihres Seins in die Gemeinschaft hinein und die Gemeinschaft ist als ein übergreifendes Drittes, als ein naturgesetzlich gegebenes Produkt des sozialen Charakters der menschlichen Natur kein Friedhof für Recht und Anspruch der einzelnen, sondern eine selbstlos dienende Mutter und Amme“ (Kentenich in Czarkowski 1973: 119). Hier wird auf die Aufgabe und die Verantwortung der Gemeinschaft hingewiesen. Während kollektivistisch orientierte Gemeinschaften und Gesellschaften, insbesondere totalitäre politische Systeme, ihre Mitglieder vereinnahmen, ihre persönliche Freiheit einschränken, sie oftmals für die eigenen Zwecke missbrauchen und kontrollieren, ist die neue Gemeinschaft im Sinne Kentenichs durch Ehrfurcht, Respekt und mütterliche Sorge in Bezug auf das Individuum gekennzeichnet. Dieses Gemeinschaftsverständnis schützt die Würde und die Berufung des einzelnen Menschen, der sich einerseits als individuelle und originelle Persönlichkeit in Freiheit entwickeln will, aber andererseits Teile dieser Freiheit opfern muss, um seine Bindungsbedürfnisse zu befriedigen. Wenn die Gemeinschaft von ihrer dienenden Funktion her verstanden wird, wird es für den einzelnen möglich, sich angstfrei und ohne Entwicklung von inneren Widerständen auf die Gemeinschaft einzulassen. Der Einzelne soll sich in Freiheit binden können. Nach Kentenichs Auffassung kann sich der moderne Mensch in kollektivistisch geprägten Gesellschaften weder in Freiheit entwickeln noch befriedigend binden. Dies zeigt sich im religiösen Bereich durch die Trennung des Menschen von seiner übernatürlichen Sehnsucht und Sendung durch Atheismus, religiöse Gleichgültigkeit und durch Beliebigkeit im Bereich der Werte. Im zwischenmenschlichen Bereich zeigt sich der Bindungsverlust darin, dass z.B. die Bereitschaft und die Fähigkeit zur Übernahme von Verantwortung nachlassen. Verantwortung wird zunehmend delegiert auf die Masse oder den Führer der Massen, der sich nicht durch Sachautorität qualifiziert, sondern als Kenner der unbewussten Bedürfnisse der Menschen diese nach seinem Belieben manipuliert. Dann ist der Einzelne nur noch ein Rädchen in einem großen, mechanischen Getriebe. Durch die fehlende Bindung an ein persönliches Du kommt es zu einer Art Leerlauf des Herzens, zu seelischer Ermüdung und zunehmender Entscheidungsunfähigkeit. Intrapsychisch führt der Bindungsverlust nach Kentenichs Erfahrung zu Desintegrationserscheinungen. Er nannte zum Beispiel die Verminderung der Aufnahmefähigkeit und ein Nachlassen der seelischen Spannkraft und die Entwicklung vielfältige Ängste. Kentenich fasste diese Entwicklung folgendermaßen zusammen: „Dem Verstande hat man die Wahrheit, dem Willen das Gute, dem Herzen Persönlichkeiten genommen, die es lieben kann“ (Kentenich in Czarkowski 1973: 130). Auf dem Hintergrund dieser Negativbeschreibung entwickelte Kentenich seine Darstellung von der neuen Gemeinschaft. Sie stellt ein Zielbild und ein Ideal dar. Um es den Menschen unserer Zeit leichter zu machen, Bindungen einzugehen, gab er den von ihm gegründeten Gemeinschaften nur ein Minimum an institutionellen Bindungen, z.B. in Form kündbarer Verträge statt auf Lebenszeit geleisteter Gelübde. Letztere können das Bindungsproblem des heutigen Menschen nicht lösen, sondern lediglich eine äußere Form konservieren. Seine Vorgabe lautete: „Bindung nur (aber auch)soweit als nötig, Freiheit soweit als möglich, Geistpflege auf der ganzen Linie in vollendeter und gesicherter Weise“ (Kentenich in King 2002: 73). Anstelle auf äußeren, formalen Bindungen zu bestehen, sollen innere, seelische Bindungen erstarken. Das einzelne Mitglied soll aus freier Entscheidung und Liebe in der Gemeinschaft verbleiben, nicht aus Gewissenszwang. Der Akzent liegt somit auf der verantworteten Entscheidung des Einzelnen. Wenn es in dieser Weise dem Einzelnen gelingt, sich in Freiheit und aus Liebe zu binden setzt er „an Stelle des selbstsüchtigen, atomisierenden Individualismus den innerlich bindenden und verbindenden Gemeinschaftsgeist, den Solidarismus“ (Kentenich in King 2002: 88). Den neuen Menschen in der neuen Gemeinschaft bezeichnete er als den radikal (wurzelhaft) alle gottgewollten Bindungen von innen heraus bejahenden Gemeinschaftsmenschen (vgl. King 2002: 219). Er ist fähig, die rechte Balance zwischen Freiheit und Bindung und den ihm angemessenen Rhythmus zwischen innerer Einkehr und Zuwendung zur Gemeinschaft zu finden Lebenslang bleibt die Aufgabe, dies immer wieder neu auszutarieren. Bindungen sollen möglichst alle Ebenen des Menschseins erfassen und auch die vitalen, emotionalen und spirituellen Bereiche erreichen. Die Vielzahl der Bindungen, ihr Netzwerk, bezeichnete Kentenich mit dem Wort Bindungsorganismus.
Mit dem Wort Bindungsorganismus bezeichnete Kentenich die Gesamtheit der Bindungen und der Bindungsstrukturen, die für ein seelisch gesundes Leben notwendig sind. Für das Wort Bindung nahm Kentenich keine ausdrückliche Begriffsklärung vor, vielmehr ging er von der Geschöpflichkeit des Menschen aus, der nie absolut frei ist, sondern immer in Relationen steht sowohl zu seinem Schöpfer als auch zu den Mitgeschöpfen und der geschaffenen Natur (vgl. Penners 1983: 103). Sein Denkmodell des Bindungsorganismus entwickelte er in der Auseinandersetzung mit der Erfahrung der vielfältigen Bindungslosigkeit des modernen Menschen.
In Kentenichs sogenannter Bündnispädagogik steht die personale Beziehung im Fokus der philosophischen, theologischen und soziologischen Betrachtung. Sie ergänzt die Idealpädagogik durch die soziale Dimension und zielt zum einen auf den Bindungswillen und die Bindungsfähigkeit des Menschen, zum anderen auf die Art und Bedeutung des Bindungsgeflechtes. Der Fokus der Bindungspädagogik im kentenichschen Sinne ist hingegen auf die psychologisch- pädagogische Reflexion des Bindungsprozesses und der Gebundenheit gerichtet
Wenn Kentenich von den gottgewollten Bindungen sprach, impliziert das zweierlei: zum ersten, dass Gott die Bindung des Menschen an ihn als den Schöpfer und an die anderen Geschöpfe will. Dies ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass Gott die Liebe ist und zum anderen aus der Zweitursachenlehre. Zweitens ist zu bedenken, dass es Bindungen geben kann, die nicht gottgewollt sind, nämlich solche, die nicht in die innere Freiheit führen, sondern in die Abhängigkeit oder sogar in die Sucht. Dann wird die Bindung zur Fessel, und der Mensch hat das Recht und die Pflicht, sich dagegen zu wehren. Kentenich sprach bewusst von einem Bindungsorganismus. Mehr als in den Worten Bindungsstruktur oder Bindungsnetz kommt darin eine lebendige, in Entwicklung befindliche Ganzheit zum Ausdruck, die auf eine Gesamtgestalt hin tendiert. Zum Bindungsorganismus gehören wesentlich auch die ganz vitalen Bindungen, die ihren Wert und ihre Auswirkungen auch im religiös gestalteten Leben haben, zum Beispiel die Bindung von Eltern zu Kindern oder die Bindung von Ehepartnern. In den alten, asketisch orientierten Denk- und- Entwicklungsmodellen wurde die Bindung an Geschöpfe mehr von einem kritischen Blickwinkel aus gesehen, als Hinderungsgrund für die ausschließlich angestrebte Bindung an Gott. Das Neue an Kentenichs Denkweise formuliert King folgendermaßen: „Dass der nach Heiligkeit strebende Mensch sich nicht von seinen authentischen Gefühlen abkoppeln und sich nicht aus der Schöpfung heraus- binden muss, sondern im Gegenteil sich bindet, seelisch, eigeninteressiert sich bindet, ist, jedenfalls der ausdrücklichen Formulierung nach, neu in der Spiritualitätsgeschichte“ (King 2002: 223). Kentenichs hohe Wertschätzung der geschöpflichen Welt, die Gott so sehr liebt, dass er in ihr Mensch wird und sich in ihr bindet, kommt hier zum Ausdruck. Der Bindungsorganismus umfasst natürliche und übernatürliche Bindungen, das heißt Bindungen an Menschen und die Bindung an Gott, aber auch an Maria und an Heilige. Beide Bindungsarten sind zu einer gesunden seelischen Entwicklung nötig. Sie ergänzen und durchdringen sich, wenn zum Beispiel in der Liebe zu einem Menschen im anderen Gott erkannt wird. Sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Bindungen sollen möglichst alle Schichten der Persönlichkeit umfassen, je ganzheitlicher sie sind, desto gesünder und widerstandsfähiger ist der Mensch.
In der natürlichen Schöpfungsordnung sind Vater und Mutter die ersten Bindungspersonen. Die Qualität der Bindungen zu ihnen ist für das ganze folgende Leben von Bedeutung, sie ist nicht nur Modell für die weiteren Beziehungen, sondern prägen den Menschen bis in die tiefsten Verästelungen seines Wesens. Kentenich konnte noch nicht wissen, dass frühe Bindungserfahrungen sogar die neuronalen Strukturen im Gehirn beeinflussen, es hätte ihn aber vermutlich nicht überrascht, sondern sein organisch- ganzheitliches Denken bestätigt.
Väterlichkeit und Mütterlichkeit sollen nicht nur die Haltung der Eltern, sondern auch die Haltung des Erziehers und des Seelsorgers prägen. Oftmals sprach Kentenich von priesterlicher Mütterlichkeit bzw. Väterlichkeit. Damit meinte er eine feste Verankerung des Erziehers im übernatürlichen Bindungsorganismus als Vorbedingung für eine von innen her getragene Autorität und einer Wirksamkeit, die das Gegenüber in seiner Tiefe erreicht. Ein weiteres Kriterium für die Echtheit dieser Haltung ist die Selbstlosigkeit, in welcher der individuellen Entwicklung des anderen gedient wird.
Vater- und Muttersein impliziert ein Autoritätsgefälle. Kentenich verstand Autorität vom ursprünglichen Wortsinn her: das lateinische Wort auctor bedeutet Urheber, Begründer, Förderer, aber auch Vorbild, Vertreter, Ratgeber. Da der leibliche oder geistliche Vater (gleiches gilt für die Mutter) im Sinne der Zweitursachenlehre teilnimmt an der Vaterschaft bzw. Mutterschaft Gottes, ist er in origineller Weise Lebensspender und Lebenserhalter. Seine Eigenschaften sind es, „Leben zu spenden, wecken, mehren und fördern“ (Kentenich in Awi Mello 2003: 113). Autorität ist niemals Selbstzweck, sondern wird von ihrer Aufgabe und Funktion her gesehen und auch daran gemessen. Kentenich grenzte Väterlichkeit und Mütterlichkeit ab gegen eine freundschaftliche Haltung. Vater, Mutter, Erzieher oder geistlicher Begleiter zeichnen sich durch ein Mehr an Lebenserfahrung und Wissen aus. Wird der Erzieher oder der geistliche Begleiter aufgesucht, so geschieht das meist, um dessen Wissens- und Erfahrungsvorsprung zu nutzen. Kentenich beschrieb den Stellenwert des Freundschaftlichen folgendermaßen: „Das schließt ja nicht aus, dass ich mich erwachsenen geistlichen Kindern gegenüber entweder als väterlicher Freund oder als mütterliche Freundin geben kann. Aber der Ton liegt dann wesentlich auf väterlich und mütterlich“ (Kentenich in Awi Mello 2003: 114).
Zu den väterlich- mütterlichen Aufgaben gehört wesentlich, dem sich entwickelnden Menschen Geborgenheit, existentielle Beheimatung und Standfestigkeit zu vermitteln, also die Resilienzfaktoren zu stärken.
Dem Vater- bzw. Muttersein im Bindungsorganismus entspricht komplementär das Kindsein. Auch das Kindsein ist nicht nur aus dem natürlichen Bindungsorganismus heraus zu verstehen.
Kindsein vor Gott, Kindlichkeit, ist eine angemessene christliche Haltung vor dem absoluten und personalen Gott. Dies meint nicht, dass der Erwachsene zu einer infantilen Haltung regredieren und auch nicht, dass der kindliche Glaube konserviert werden solle. Vielmehr trägt der Mensch aufgrund seiner Abhängigkeit als Geschöpf und seiner Unsicherheit und Ungesichertheit in Bezug auf sich selbst in seinem Wesen ein Streben nach dem Sicherheit vermittelnden Urgrund des Seins . Christus, Gott, der ein Menschenkind wurde, spricht den Schöpfer mit Abba, das heißt lieber Vater an und ist den Christen Vorbild in der Verwirklichung der Kindlichkeit (vgl. Penners 1983: 371- 386). Es gehört zur natürlichen Bewusstseinsentwicklung, dass der Kinderglaube verloren geht. Kentenich erlebte dies selbst in seiner Jugendkrise und versuchte vergeblich, durch intellektuelles Bemühen existentiell zu einer neuen Sicherheit durchzustoßen. Die Wendung erfolgte für ihn durch einen nicht intellektuell zu begründenden und zu rechtfertigenden Akt der Hingabe an Maria. Kentenich bezeichnete dies wiederholt als „Todessprung des Verstandes“ (Kentenich in Feldmann 2005:40). Der Konflikt fand auf einer anderen Ebene seine Lösung. Dies war nur möglich im Wagnis des Vertrauens auf die Vorsehung Gottes.
Kindlichkeit als Haltung bedeutet für den erwachsenen Menschen ein Wagnis: er bejaht die Abhängigkeit als Geschöpf im Vertrauen auf einen väterlichen und mütterlichen Gott, dem er erzieherische Vollmacht einräumt. „Im Ansatz „wagemutiger“ Kindlichkeit geht es Kentenich darum, sowohl die Haltung prometheischer Überheblichkeit wie resignativer Verzweiflung als falschem Bewusstsein von Endlichkeit zu korrigieren“ (Penners 1983: 382). Dies führt zu einer Unbekümmertheit, die scheinbar naiv ist, aber eine andere Entwicklungsstufe darstellt als die ursprüngliche, kindliche Naivität.
In der heutigen Zeit, mehr als vierzig Jahre nach dem Tod Kentenichs, ist dies für viele Menschen noch schwieriger nachzuvollziehen als zu seinen Lebzeiten. Kindlichkeit als in die Vorsehung vertrauende Grundhaltung ist nur möglich, wenn Väterlichkeit bzw. Mütterlichkeit in der Biographie zumindest ansatzweise erlebt wurden, so dass der erforderliche „Todessprung des Verstandes“ (Kentenich in Feldmann 2005:40), das Wagnis des Glaubens, durch eine reale positive Erfahrung gedeckt ist und nicht aus einer Leere heraus erfolgt. Erziehern und Seelsorgern kommt immer mehr die Aufgabe zu, sich bewusst als Bindungspersonen zur Verfügung zu stellen, um den sich entwickelnden Menschen eine Nachreifungsmöglichkeit zu geben.
Aus der Anwendung der Zweitursachenlehre wird deutlich, wie sehr die Bindung an die Eltern, den Erzieher oder den Seelsorger im Dienste der Bindung an Gott stehen. So stellt sich die Frage, wie der Vorgang der Weiterleitung erfolgt. Kentenich sprach nicht nur vom Gesetz der Übertragung, in dem zum Beispiel das Geborgenheitsbedürfnis von den realen Eltern auf Gott übertragen wird, sondern auch vom Gesetz der Loslösung. Dies meint die Lockerung und Weiterleitung der Bindung. Kentenich beschrieb diesen Vorgang folgendermaßen: „Wenn die feinsten Fäserchen der Seele mit einer Persönlichkeit verbunden sind, dann wird in der gesunden, normalen Entwicklung des Zöglings das Gesetz der Loslösung von selber Wirklichkeit werden, das heißt…zugunsten Gottes; zugunsten des persönlichen und des Gemeinschaftsideals…“(Kentenich in Hrsg. Josef- Kentenich- Institut 1979:43). Er warnte jedoch nachdrücklich davor, als Erzieher diesen Prozess zu forcieren und empfahl äußerste Zurückhaltung, da letztlich nicht mit Sicherheit über den Zeitraum der Loslösung entschieden werden kann. Bildlich gesprochen kann durch das zu frühe Herausreißen der Fäserchen die Seele tief und unter Umständen lebenslang verletzt werden. Im Falle einer überstarken Bindung an den Erzieher oder Seelsorger im Sinne eines unfrei machenden Abhängigkeitsverhältnisses empfahl er, andere Bindungen des heranreifenden Menschen zu stärken, nicht nur die Bindungen an andere Menschen, sondern besonders die Bindungen an Ideen und Ideale.
Zum Bindungsorganismus gehört, wie schon wiederholt gesagt, auch die Bindung an Ideen und an Orte.
Bindung an Ideen, von Kentenich oft auch als Idealgebundenheit bezeichnet, meint die Bejahung von geistigen Erkenntnissen und Wahrheiten, die sich ein Mensch angeeignet hat und die ihm in der Tiefe seines Wesens Sicherheit geben (vgl. Czarkowski 1973:158). Für den Einzelnen ist dies die Bindung an sein klar erkanntes P.I, für Gemeinschaften sind es die für Mitglieder verbindliche Ideale, leitende Ideen. Damit eine Gemeinschaft ihren Zweck erfüllt und wirkkräftig wird, braucht sie ein klares Leitbild, das sie zu verkörpern sucht, das sie von anderen Gemeinschaften unterscheidet, also identitätsbildend wirkt und das verhindert, dass Einzelne durch Verstrickungen in persönliche Konflikte die Gemeinschaft als Ganzes stagnieren lassen. Die Orientierung einer Organisation an einem Leitbild findet heute durch die Erkenntnisse der Soziologie und der Sozialpsychologie breite Anwendung. Auch die Bindung an eine Aufgabe gehört zum Bereich der Idealgebundenheit.
Lokale Bindungen entstehen durch die Verknüpfung von Orten mit seelisch tiefer gehenden Erlebnissen, der Ort wird somit zum Symbol für eine spezifische Erlebnisqualität. Diese kann sich wiederum in bestimmten Traditionen oder im Brauchtum ausdrücken. Auf diese Weise können Orte zur Heimat werden und Geborgenheit, Sicherheit und Schutz vermitteln, aber auch geistige Enge. Heimat wird durch Menschen vermittelt, sie ist geprägt von charakteristischen Werten, sie hat also auch personale und ideelle Anteile. Sie ist eine Schnittstelle von Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit. „Heimat ist der Ort, an den der liebe Gott uns aus der Ewigkeit in diese Zeitlichkeit entlassen; ist aber auch der Ort, von dem aus wir aus dieser Zeitlichkeit geistig in die Ewigkeit zurückkehren“ (Kentenich in King 2002: 304), so formulierte Kentenich sein positives Heimatverständnis. Auch die ideenmäßige und die lokale Bindung können unter den Aspekten natürlich- übernatürlich betrachtet werden. Für die Idealgebundenheit ist der Bezug zu beiden Aspekten ohne weiteres einsichtig. Für die lokale Bindung soll ein Beispiel den Bezug verdeutlichen: So können sich für einen Gläubigen bei einem Wallfahrtsort eine übernatürliche Atmosphäre mit einer anziehenden Landschaft verbinden. Beides – die Anwesenheit von etwas Heiligem und der als schön empfundene Ort – trägt zur inneren Beheimatung bei.
Kentenich betrachtete die Entwurzelung und Heimatlosigkeit des modernen Menschen als ein zentrales Kulturproblem. Die Industrialisierung mit der daraus folgenden Landflucht, die Vertreibung und Verschleppung vieler Menschen im Zuge der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, die beiden Weltkriege mit ihren Folgen, heute die wachsende Globalisierung und die geforderte Mobilität durch Mangel an Arbeitsplätzen mögen dafür als Beispiel dienen. Heimatlosigkeit macht ungeborgen, erzeugt Angst und ein seelisches Vagabundentum. Vollendete Heimatlosigkeit, in fehlender lokaler Bindung und seelischen Gegeneinander von Gott und Mensch und Mensch und Mensch bezeichnete er als eine Art Hölle.
Für Heimat und Beheimatung in einem alle Ebenen umfassenden Bindungsorganismus zu sorgen ist wesentliche Aufgabe von Erziehung. Erst wenn im irdischen Bereich eine Beheimatung gefunden ist, kann eine auch eine die vitalen Kräfte einbeziehende Beheimatung im Übernatürlichen stattfinden. „Heimat, Beheimatung unmittelbar in Gott allein zu suchen, öl st dieses Problem (der Heimatlosigkeit des modernen Menschen, Anm. d. Verf.) nicht. Wir müssen den Menschen im Menschen am irdischen Ort eine Heimat bereiten. Dann wird das übernatürliche Heimaterlebnis gesund; dann greift es ins Gemüt. Was nicht ins Gemüt greift, das ist nicht gesichert. Das gibt nicht genügend Geborgenheit und Festigkeit. Merken Sie, nach welcher Richtung wir uns heute pädagogisch einstellen müssen? Was uns interessiert, ist wohl beides: die Schaffung einer natürlichen und einer übernatürlichen Heimat“ (Kentenich in King 2002: 303).
Auch im Umgang mit Bindungen zeigt sich das Bemühen Kentenichs, den ewig gültigen transzendenten Werten auf den verschiedenen Ebenen menschlichen Lebens einen konkreten Ausdruck zu verleihen.
Das Bündnis im Sinne Kentenichs bezeichnet eine bewusst gewählte, eingegangene und gestaltete personale Bindung. Bindungen entstehen oftmals ohne dass sie bewusst intendiert worden wären, sie wachsen, können sich wieder lösen, sie können zu verschiedenen Zeiten verschiedene Intensitäten haben und verschiedene Verbindlichkeiten beinhalten. Das Bündnis ist eine mögliche Konsequenz der Bindung, es bedarf einer Entscheidung. Es hat einen klaren Anfang und eine spezifische Form oder einen Ausdruck. Der Bund oder das Bündnis stellt somit ein Strukturelement von Bindungen dar. In unserer Gesellschaft ist z.B. die Ehe ein solches Bündnis, oder auch die Bindung an eine religiöse Gemeinschaft in Form eines Vertrages oder in Form von Gelübden.
Sinn des Bündnisses ist die Sicherung des inneren Bündnissinnes oder Bündniszweckes. Gott ist die Liebe, und ihre Mitteilung, die Selbstmitteilung Gottes und die Teilnahme an seinem Leben ist der tiefste Sinn des Bündnisses. Daher sprach Kentenich auch vom Liebesbündnis. „Der Gottesbund, das Liebesbündnis zwischen Gott und Volk, ist Grundsinn und Grundform, Grundkraft und Grundnorm der ganzen Heilsgeschichte (…)“ (Kentenich in King 2002:526). Das Bündnis ist ein gestaltetes Miteinander von Gott und Mensch oder Mensch und Mensch.
Mit anderen Worten: das Bündnis ist Ausdruck, Mittel und Schutz für die Liebe. Ausdruck im Sinne der äußeren Ausprägung innerer Verfasstheit und Entscheidung, Mittel im Sinne von Medium, den Bündnissinn einzuüben und zu gestalten und Schutz im Sinne von Schutz vor Verflüchtigung des geistigen Inhalts in Schwärmerei. Ein Bündnis kann durch bestimmte Handlungen wieder ins Bewusstsein gerufen werden, z.B. durch das Feiern von Gedenktagen. Die Intention solcher Feiern liegt darin, den ursprünglichen Bündnissinn aufzufrischen, zu aktualisieren.
Bündnisse sind möglich zwischen Individuen, zwischen einem Einzelnen und einer Gemeinschaft, zwischen verschiedenen Gemeinschaften und zwischen Gott und Mensch. Kentenichs bündnispädagogischer Ansatz gründet in der Tradition und Bedeutung des Bündnisses in der christlichen und jüdischen Tradition. Gott schließt seinen Bund mit den Menschen, er will sich selbst in Liebe an den Menschen binden. Die alttestamentlichen Erzählungen von Adam und Eva, Noah, Abraham und Moses stehen vorbildlich für die Bündniserfahrungen des Volkes Israel, und Christen bekennen den neuen Bund, den Christus mit seinem Volk geschlossen hat. Da der Mensch diesen Bund immer wieder verletzt, macht Gott in seiner Treue je neue Bundesangebote. Der Bündnisansatz ist eine Antwort einerseits auf die Vereinzelung und Wurzellosigkeit vieler Menschen und andererseits Antwort auf das Gefühl der Gottverlorenheit. Viele Menschen glauben zwar an einen Gott, der die Welt erschaffen hat, aber sie meinen, dass er sich nicht für die Geschicke des Einzelnen in dieser Welt interessiere. Gegen diese Meinung steht Kentenichs pointierter Bündnisansatz eines persönlich am Menschen interessierten und ihn durch das Leben begleitenden Gottes. Hierin wird die enge Verbindung zwischen Vorsehungsglauben und Bündnisansatz deutlich.
Kentenich beschrieb die Eigenschaften, die Bündnispartner auszeichnen (vgl. Kentenich in King 2005: 528).
Wenn Kentenich im Blick auf die Erziehungstätigkeit von Bündnis sprach, hatte er in erster Linie die Persönlichkeit des Erziehers im Blick. Auf seine Ausbildung und Selbsterziehung legte er größten Wert. Da der Sinn der Erziehung sich nicht in der Vermittlung von Lebensgewandtheit und Alltagspraktiken erschöpft, sondern eine Hinführung zu bewusster Gotteskindschaft sein soll, muss der Erzieher ein zutiefst gottgebundener Mensch sein. Dazu gehört, dass er ein Betender ist und sich betend mit der Erziehungsmacht Gottes verbündet. Nach Kentenichs Überzeugung bewirkt das Gebet für die Edukanden als Erziehungsmacht größte Wunder. Durch das Gebet kann sich der Erzieher für seine Aufgabe disponieren, das Wesen der Edukanden zu erfassen suchen und sich fest in der Transzendenz verankern. Weil er darauf vertraut, dass die Natur des zu Erziehenden grundsätzlich für das Gute geöffnet ist, kann er eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen und gegebenenfalls großmütig Vertrauensvorgaben leisten. Durch Vertrauen kann sich entwickelndes Leben zu sich selbst finden. Letztlich soll der Erzieher nach Kentenichs Vorstellung den Edukanden durch die pädagogische Beziehung zur religiösen Bündniswirklichkeit hinführen.
Erziehung bedeutet Teilnahme am Schöpferhandeln Gottes und ist damit ein übernatürlich geprägter Vorgang. „Erziehung ist ein Zeugungsakt. Und jede Zeugung setzt Leben voraus. Leben entzündet sich am Leben! (…), das Wort, das Fleisch geworden ist, Gestalt angenommen hat im Erzieher – sehen Sie – : (nur dieses Wort) ist Leben, das ist sprudelndes Leben, und ein solches Leben kann wieder Leben erzeugen! Ohne Selbsterziehung hört dieses Wesensgepräge des Erziehers mit der Zeit auf (Kentenich in King 2005: 156). Selbsterziehung ist nötig, täglich, „bis zum letzten Atemzuge“ (Kentenich in King 2005: 155). Kentenich wies auf die Schattenseiten, die Gefahrenzonen des Erzieherberufs hin: die Gefahren des pädagogischen Dünkels, der Machtsucht bis hin zum Sadismus und der Pedanterie. Ohne Selbstbeobachtung in Bezug auf diese Gefahren und andere persönliche Charakterschwächen und ohne ein bewusstes Gegensteuern kann der Erzieher nicht überzeugen. „Das ist immer das Geheimnis: der selbsterzogene Erzieher (…). Jede Faser ist untergeordnet dem Willen und letzten Endes eingebaut in eine jenseitige, übersinnliche, übernatürliche Welt (Kentenich in King 2005:160).
Aus der Verbindung mit Gott und der Haltung der Selbsterziehung heraus kann der Erzieher die Bindung des Edukanden an sich zulassen und sich selbst an ihn binden. Kentenich zitierte oftmals Don Bosco mit dem Satz: „Erzieher sind Liebende, die nie von ihrer Liebe lassen“ (Kentenich in King: 2002: 266). Allein personale Gebundenheit ermöglicht die volle Entfaltung der originellen Persönlichkeit.
Über Anforderungen bzw. Voraussetzungen, welche die Edukanden erfüllen müssen, sprach Kentenich wenig. Als Lehrer, Spiritual und Seelsorger hat er sich die Personen, die er begleitete, nicht selbst ausgesucht. Vielmehr versuchte er, sie im Lichte des Glaubens zu betrachten und seinen Dienst an ihrer Entwicklung zu tun. Seine Erziehungsziele waren klar formuliert – die Entwicklung freier, priesterlicher Charaktere, die Erziehung zur Gotteskindschaft, zur Bindungsfähigkeit, die Orientierung am P. I. des Einzelnen (vgl. Kap. 3.2). Darüber hinaus war er der Überzeugung, dass der Erzieher nur das fordern könne, was er selbst einzulösen bereit ist und suchte im Konfliktfall oder beim Scheitern der Erziehungsbemühungen die Ursachen eher bei sich als beim Zögling.
Die zentrale christliche Aussage, dass Gott in seiner Person die Liebe ist und die Welt aus Liebe und für die Liebe geschaffen hat, bezeichnete Kentenich als das Weltgrundgesetz. „Alles aus Liebe, durch Liebe, für Liebe“ (Kentenich in King 2000: 236). Der Sinn der Schöpfung liegt demzufolge in ihrer Teilhabe an der göttlichen Liebe und deren Verwirklichung in der Inkarnation. Besonders die Menschen als freie Zweitursachen sind geschaffen und berufen, diese Liebe untereinander und den anderen Geschöpfen mitzuteilen. Oftmals zitierte Kentenich Duns Skotus mit dem Wort: „Deus quaeret condiligentes se“. Frei übersetzte er: „Gott will geistige Wesen, die er lieben kann und die mit ihm lieben, was und wie er selbst liebt (Kentenich in King 2000: 24). Durch die Liebe will Gott den Menschen führen, jedoch nicht zu etwas Unbestimmtem, sondern zu sich selbst, und die ganze Welt in ein Bündnis mit sich integrieren.
Im Zusammenhang mit dem Weltgrundgesetz benannte Kentenich weitere Gesetzmäßigkeiten (vgl. Hrsg. Joseph- Kentenich- Institut 1979: 10ff): Das Weltregierungsgesetz besagt, dass Gott in der Welt nicht alles allein wirkt, sondern freie Zweitursachen einbezieht (s. Kap. 2.1). Das Modell vom Bindungsorganismus stellt eine praktisch- psychologische Anwendung der Zweitursachenlehre dar.
Die natürliche und die übernatürliche Ordnung ergänzen sich und sind auf einander abgestimmt. Dies ist der Inhalt des so genannten Weltvervollkommnungsgesetzes, das aufs Engste zusammenhängt mit dem in Kapitel 4.2 erläuterten Bindungsorganismus. Die natürliche Ordnung der Welt ist Ausdruck, Spiegel der übernatürlichen. Gleichzeitig ist sie Mittel der übernatürlichen Ordnung, indem sie zu dieser hinführt. Schließlich ist sie deren Schutz, indem sie das Bewusstsein von der übernatürliche Ordnung vor Verflüchtigung bewahrt und in der dreidimensionalen Welt konkretisiert.
Das Weltanpassungsgesetz besagt, dass Gott in seinen Führungen und Fügungen dem Menschen entgegenkommt, dass er ihn in einer ihm gemäßen Weise anspricht. Auch dieses Gesetz ist eine Konsequenz der Lehre von den Zweitursachen und vom Bindungsorganismus. Praktisch geschieht die Anpassung Gottes an die menschlichen Bedürfnisse durch die Gesetze der organischen Übertragung und Weiterleitung (s. Kap. 2.1).
Aufgrund der zentralen Stellung der Liebe im göttlichen Schöpfungs-und Erlösungsplan soll auch bei der Entwicklung der menschlichen Seele im Reifungs-und Erziehungsprozess die Liebe die zentrale Kraft sein. Kentenich folgerte aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen, dass auch in ihm die Liebe der wesentliche Urtrieb sei. Einzelne Bindungen und der Bindungsorganismus insgesamt ermöglichen dem Menschen, in der Liebe zu leben, ihr einen Ausdruck zu verleihen, zu reifen, Beständigkeit und Treue zu sichern, und auf Gott als Ursprung und Ziel der Schöpfung hin zu wachsen. Liebe verwirklicht und aktualisiert sich in der Liebeshingabe. „Liebeshingabe kennt eine vierfache Funktion:
Darum pflegen wir von vier konstitutiven Elementen des Liebesbündnisses zu sprechen: von gegenseitiger Liebespreisgabe, von gegenseitiger Liebeshingabe, von gegenseitiger Liebesweitergabe und von gegenseitigen Liebesansprüchen“ (Kentenich in Vautier 1981:283).
Die lösende Funktion meint die Überwindung übermäßiger, evtl. infantiler Selbstbezogenheit und ist damit Voraussetzung für eine wirkliche Begegnung. Kentenich sprach von „organischer Selbstpreisgabe“ (Kentenich in King 2000:172). „Zur echten Persönlichkeit gehört im Sinne der Schöpfungs- und Erlösungsordnung ja nicht nur das Selbstsein, sondern auch das Mitsein: das Mitsein mit Gott und den Menschen. Wer nur das Selbstsein kennt und pflegt (…), kommt einfach nicht zu ganzheitlicher Selbstverwirklichung. (…) und bleibt so ein Zerrbild. Dasselbe gilt von allen, die nur das Mitsein und nicht gleichzeitig das Selbstsein bejahen und sich danach richten. Auch sie stellen ein Zerrbild – allerdings in umgekehrter Ordnung – dar“ (Kentenich in King 2000:172). Daraus folgt, dass sich ein Mensch nur dann wirklich von sich selbst lösen kann, wenn er sich zuvor gefunden hat und der über einen personalen Selbststand verfügt. Lösung von sich selbst bedeutet eine Art Verlagerung des inneren Schwerpunktes aus der Selbstbezogenheit heraus in eine Bindung.
Mit vereinigender Funktion ist die dynamische Bewegung, der Prozess des sich aufeinander- zu- Bewegens gemeint, reguliert von der Ehrfurcht, die davor schützt, den anderen mit Eigeninteressen zu vereinnahmen oder zu überschwemmen.
Die verähnlichende Funktion meint die Veränderung, die sichtbar wird, wenn Menschen sich in Liebe über längere Zeit zueinander bewegen. Liebe setzt schöpferische Impulse frei, sie ist eine schöpferische Begegnung zweier seelisch- geistiger und evtl. körperlicher Welten. Gleichzeitig kommt es zu einer gegenseitigen Teilhabe an Haltungen und Werten, Menschen sind dann gleichsam ein Herz und eine Seele. Diesen Vorgang nannte Kentenich Lebensübertragung. „Nachäfferei“ (Vautier 1981:286) bezeichnet die Folge einer defizienten Bindung, die in Abhängigkeit führt, dies meinte. Kentenich nicht, er zielte auf eine ganzheitliche personale Begegnung und Gemeinschaft. Die verähnlichende Funktion ist wichtig zur Betrachtung des Erziehungsprozesses. Das an einen Erzieher gebundene Kind nimmt durch die Persönlichkeit des Erziehers, durch einen Prozess unbewusster Identifikation bzw. durch Lebensübertragung, die Welt in sich auf. „Das Denken der geliebten Person wird nicht nur gedankenmäßig, sondern auch triebmäßig angenommen. Das ist heute das Wichtigste in einer Zeit, in der wir den Weg suchen vom Intellektuellen zum Existentiellen“ (Kentenich in Vautier 1981:286). Aus diesem Grund bevorzugte Kentenich den Weg der personalen Wertevermittlung vor allen anderen Wegen. Gleichzeitig wird sehr deutlich, welche Verantwortung der Erzieher hat und wie nötig es ist, dass er an sich selbst arbeitet und sich selbst erzieht.
Die bewegende seelische Kraft bezieht sich auf das, was Liebes- bzw. Bündnispartner voneinander erwarten dürfen, z.B. an Zuwendung, Vertrauen, Schutz. Aus jeder Liebe, jeder Bindung erwachsen solche Ansprüche, jedoch nicht in einem rechtlich fixierbaren oder gar einklagbaren Sinne, sondern aus der Vertrautheit des Umgangs miteinander, aus der gewohnheitsmäßigen Gestaltung des Lebens. Bewegt wird der Mensch, wenn er sich von seinem Liebes- oder Bündnispartner in die Pflicht nehmen lässt.
Oftmals gebrauchte Kentenich das Wort Bindung oder Gebundenheit anstelle des Wortes Liebe. Es ging ihm auch hierbei nicht um eine exakte wissenschaftliche Definition, sondern darum, den Aspekt, unter dem er Liebe gerade betrachtete, zu verdeutlichen. Das Wort Liebe wurde von seinen Hörern oftmals unter dem Gefühlsaspekt verstanden, als intensives Gefühl oder gar dauerhaftes Hochgefühl. Die Worte Bindung und Gebundenheit betonen mehr das Verpflichtende, die Verbindlichkeit in der Liebe, die Notwendigkeit, das eigene Lieben zu reflektieren, zu reinigen. Liebe kann oftmals harte innere Auseinandersetzung bedeuten, immer verlangt sie Treue.
In der Entwicklung und Vervollkommnung der Liebe unterschied Kentenich drei Stufen: (vgl. King 2000:163-165).
Die primitive Liebe ist wenig reflektiert, sie stellt sich spontan ein in Form eines intensiven sich- hingezogen Fühlens oder Begehrens. In der asketischen Tradition war sie wenig geschätzt, weil bei ihr der Liebende in erster Linie etwas für sich selbst erstrebt: Glück, Geborgenheit, inneren oder äußeren Reichtum etc. Kentenich hielt eine völlig selbstlose Liebe für psychologisch unmöglich. Die primitive Liebe ist für ihn das vitale Fundament der reiferen Liebesstufen, das Wort primitiv ist nicht wertend zu verstehen. Sie muss in ausreichendem Maße erlebt sein, damit die Liebe sich weiter entwickeln kann, gegebenenfalls muss sie nachgeholt werden, sie bildet gleichsam den Treibstoff für die Entwicklung.
Bei der abgeklärten Liebe tritt die eigene Bedürftigkeit zunehmend zurück. Der andere Mensch oder Gott wird mehr und mehr geliebt um seiner selbst willen, dass heißt, er wird in seiner Eigenart deutlicher wahrgenommen und wegen dieser geschätzt. Wichtig ist weniger, was der andere Mensch oder Gott für einen Nutzen bringt, sondern die Freude an ihm und die wahrgenommene Übereinstimmung.
Auf der dritten Stufe, der Stufe der heroischen Liebe, ist der Mensch zunehmend bereit, auch Verzicht und Leiden um des anderen willen auf sich zu nehmen. Die Eigenbedürftigkeit ist maximal zurückgetreten, Gott wird um seiner selbst willen geliebt und der Mensch um Gottes willen. Diesen Grad der Liebe bezeichnete Kentenich mit dem Wort inscriptio, das er von Augustinus übernahm. Er meinte mit inscriptio die gegenseitige Einschreibung in das Herz des anderen oder Herzensverschmelzung. Verzichte und Leiden, gerade auch wenn der geliebte Mensch sie zufügt, werden hier nicht nur ertragen, sondern gern angenommen, als Möglichkeit, die Liebe immer mehr wachsen zu lassen und zu erweisen.
Kein Mensch ist endgültig auf der dritten Stufe angelangt, die Stufen durchdringen sich und entwickeln sich organisch. Die untere Stufe wird immer wieder von neuem durchlebt. Für den Erzieher oder den Seelsorger, der einen solchen Entwicklungsprozess begleitet, ist neben der inneren Integrität auch die Klarheit in vermeintlichen Äußerlichkeiten zu beachten. Je intensiver sich der vitale seelische Prozess gestaltet, umso wichtiger ist es, klare äußere Spielregeln einzuhalten, dass heißt, taktvoll zu sein, in der Körpersprache und der Kleidung keine zweideutigen Signale auszusenden und niemanden unnötig zu berühren. Diese äußere Unberührtheit, wie Kentenich es nannte, schafft einen Raum des Vertrauens und der Sicherheit.