J. Kentenich tritt 1899 – mit vierzehn Jahren – in näheren Kontakt mit der Gesellschaft der Pallottiner. Er besucht das humanistische Gymnasium der Gemeinschaft in Koblenz-Ehrenbreitstein und beginnt 1904 das Noviziat in Limburg. 1909 legt er die ewigen Versprechen in der Gesellschaft der Pallottiner ab, und 1910 wird er in der Kapelle des Limburger Missionshauses zum Priester geweiht.[216] Wie bereits im 2. Kapitel dieser Arbeit erwähnt[217], wird er ab 1919 von der Gesellschaft für die Arbeit mit der Schönstattbewegung freigestellt. Nachdem die kirchliche Autorität 1964 die Autonomie des Schönstattwerkes erklärt hat, tritt er 1965 aus der Gemeinschaft der Pallottiner aus und wird in den Klerus der Diözese Münster aufgenommen.
Seine Person wird in den fünfundfünfzig Jahren priesterlicher Tätigkeit als Pallottiner von den anderen Mitgliedern der Gemeinschaft unterschiedlich eingeschätzt. Bei einigen genießt er großen Respekt und Anerkennung, andere erleben seine Arbeit mit dem Schönstattwerk eher als unruhestiftend. Diese differierenden Stellungnahmen seiner Person gegenüber verursachen von Anfang an Spannungen und führen – vor allem in der Phase der Konfrontation Schönstatts mit der kirchlichen Autorität – zu großen Auseinandersetzungen innerhalb der SAC. Einzelne Mitglieder und Vorgesetzte der Gesellschaft halten J. Kentenichs Einstellung der Kirche gegenüber für ehrfurchtslos und unvereinbar mit der damaligen Vorstellung vom Gehorsam, die kaum eine freimütige Auseinandersetzung mit dem betreffenden Sachverhalt vertrug.[218] Auch für H. Schulte ist dies ein wesentlicher Grund, um von J. Kentenich 1952 definitiv Distanz zu nehmen.
J. Kentenich glaubt sich von Gott berufen, einer neuen Welt, die er in sich trug, durch den Aufbau des Schönstattwerkes Gestalt zu geben. Das Wissen um diese Sendung verpflichtet ihn Gott gegenüber und begleitet ihn während seines ganzen Lebens.[219]
Seine persönliche Berufung versteht J. Kentenich nicht als Widerspruch zu seiner Zugehörigkeit zur SAC.[220] Es ist ihm allerdings bewußt, daß er sich in einer Stellung befindet, die ihm nicht nur Verständnis einbringt. Gerade Spannungen und Mißverständnisse führten ihn bereits 1916 zur Auseinandersetzung mit der Idee Pallottis. Diese Konfrontation ließ in ihm allmählich die Überzeugung reifen, daß die Berufung zur Gründung Schönstatts zugleich die Verwirklichung der Sendung der Gesellschaft beinhaltet. J. Kentenich weiß sich diesem Auftrag Pallottis an die Gesellschaft verpflichtet:
„Ich entblöde mich nicht, zu sagen: man nenne irgend jemand, der es uns seit 1916 nach der Richtung gleichgetan hat. Damals nahm ich seine Ideen lebensmäßig tief in mich auf und setzte seit der Zeit ohne jedes Geräusch nach außen – freilich immer in innigster Verbindung mit dem Liebesbündnis mit der MTA mit Schönstatt – in stiller, zäher Kleinarbeit meine ganze Lebenskraft nicht nur wagemutig, sondern nicht selten auch unter Lebensgefahr dafür ein. Ich hebe absichtlich hervor: das geschah bereits zu einer Zeit, wo meines Wissens niemand aus unseren Reihen an die Gesamtplanung und an die Möglichkeit ihrer Verwirklichung ernst glaubte. Konkret gesprochen ging es mir mit meiner Gefolgschaft darum, die Zentralidee Pallottis für die Gesellschaft in zeitgemäßer Weise zurückzuerobern. Was mir im Laufe der Jahre klarer und klarer vor Augen schwebte, das war der Plan: die Gesellschaft ist in und durch Pallotti kraft des Liebesbündnisses mit der MTA dazu berufen, Hauptträger und Seele der Katholischen Aktion zu werden.“[221]
In der ersten Entwicklungsphase des Verhältnisses Pallottiner – Schönstatt nehmen Spannungen um den Gründer des Werkes keine bedeutenden Ausmaße an. J. Kentenich legt keinen besonderen Wert darauf, von der Gemeinschaft als Gründer der Schönstattbewegung anerkannt zu werden[222]; seine Bemühungen zielen eher dahin, das Werk bei aller Selbständigkeit mit der Idee Pallottis in Einklang zu bringen.
Das in dieser Arbeit vorgelegte Material bringt deutlich zum Ausdruck, daß die Apostolische Bewegung sich von Anfang an als selbständiges Gebilde betrachtet hat und daß ihrem Leiter eine Schlüsselstellung zuteil wird, die der eines Gründers entspricht.
Es läßt sich jedoch bei J. Kentenich ein Prozeß wachsenden Bewußtwerdens seiner Stellung im Schönstattwerk nachweisen: In der Anfangszeit sucht er konsequent nur das „Heiligtum“, nicht aber seine Person, zum Mittelpunkt der Bewegung zu machen.[223] Erst durch den Impuls vertiefter Solidarität zwischen Gründer und Gründung, den das Ereignis vom 20. Januar 1942 mit sich bringt,[224] und auf dem Hintergrund der weltweit wachsenden Bewegung wird ihm die Bedeutung seiner Person für das Werk bewußt.
Eigenmann – ehemaliger Provinzial in der Schweiz – beschreibt diesen Lebensprozeß in der Schönstattfamilie wie folgt:
„Tatsächlich war nach all dem, was in der Nazizeit und in Dachau geschehen war, P. Kentenich wie nie zuvor lebensmässig in die Mitte gerückt. Für die Schönstattfamilie war er nach dem KZ in Dachau nicht mehr nur der Gründer und derjenige, der im Schönstattwerk das Sagen hatte. P. Kentenich war der geistliche Vater geworden, mit dem uns nicht bloss eine Aufgabengemeinschaft verband, sondern auch eine Schicksals- und Herzensgemeinschaft. Er war Symbolfigur geworden.“[225]
J. Kentenich selbst beschreibt 1949 den Weg, der ihn zu dieser Wende führte:
„Wohl darf ich darauf hinweisen, daß ich von 1912 bis 1942 mit peinlicher Sorgfalt meine Person hinter Idee, Werk und Heiligtum zurücktreten ließ und versteckt hielt … Es muß also wohl ein triftiger Grund gewesen sein, der seit 1942, besonders aber seit meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft meine Haltung änderte. Der Grund ist bekannt. Ich sehe seitdem meine Person nicht in ihrer Eigenwertigkeit, sondern in ihrem Symbolgehalt. Ungezählt viele Ereignisse geben mir Recht und Pflicht dazu. Sie zeigen mir aber auch, was das Wohl der Familie und ihr Hineinschreiten in eine vermasste Zukunft verlangt. Wer seine Person heute in den Vordergrund stellt oder stellen läßt, ohne eigens von Gott berufen zu sein, muß sehr verbohrt sein.“[226]
Der letzte Satz läßt vermuten, daß J. Kentenich seine Schlüsselstellung im Schönstattwerk als einen ausgesprochenen Wunsch Gottes aufgefaßt haben muß. Er glaubt, ihn vor allem durch die Stimmen der Gliederungen der Familie vernommen zu haben.
In diesem wachsenden Prozeß des Bewußtwerdens erkennt J. Kentenich die Notwendigkeit, eine Stellung wahrzunehmen, durch die seine Person – nicht in ihrem Eigenwert, sondern in der überdauernden Funktion als Gründer – dem Werk immanent und sein Denken maßgebend für alle nachfolgenden Generationen bleibt.
Dafür etabliert sich im Schönstattwerk am Ende der vierziger Jahre der Begriff „überzeitliches Haupt“. Die Metapher eines Gemeinschafts„körpers“ liegt ihm zugrunde: Analog zur Funktion des Hauptes in einem Leib eignet dem Gründer eine Hauptstellung gegenüber seiner Gründung. Menningen begründet bereits 1948 diese Stellung J. Kentenichs in der Tatsache,
„daß die allgemeine Idee der Bewegung in der Person des Gründers eine ungewöhnlich hohe Ausprägung erfahren hat. Soweit sich die Idee mit der Person des Gründers deckt – vollkommen ist diese Übereinstimmung in einem bloßen Menschen nie –, gilt auch die Person als allgemeingültig oder als Typ und Prototyp. In diesem Sinne prägt das Haupt den Gliedern nicht nur als Idee, sondern auch als Person eine Form auf.“[227]
J. Kentenich selbst muß sich zuerst mit dieser Metapher, die in dem Priesterkreis entstanden ist, abfinden. Im Brief vom 22.2.1949 an Menningen kommentiert er diesbezüglich:
„Haupt ist nunmehr für Euch gleichbedeutend mit einem überzeitlichen ewigen Haupte, nicht mit dem jeweiligen zeitbedingten. Nur mit Widerstreben bin ich auf diese Strömung eingegangen, habe es aber doch getan, weil für mich das Gesetz der geöffneten Türe immer richtunggebend ist, und weil die Vielverzweigtheit der einzelnen Verbände und die kommenden katastrophalen Entwicklungsmöglichkeiten für Deine berechtigte Auffassung schneller einen Durchbruch und Sieg verlangt, als das sonst unter normalen Verhältnissen der Fall gewesen wäre.“[228]
Monnerjahn nennt drei Gründe für diesen Hauptcharakter des Gründers in seiner Gründung: Er wird als Haupt betrachtet,
weil die Gründung ihn als Garanten ihrer Einheit anerkennt,
weil die Gründung in ihm die Zusammenfassung ihrer Identität dargestellt sieht, und
weil die Gründung vom ihm ihre Lebenskraft empfängt.[229]
Das Adjektiv „überzeitlich“ soll betonen, daß diese Hauptfunktion über den Tod hinaus dauert und dementsprechend auch nicht auf einen Nachfolger übergehen kann.
Auf dem Hintergrund der vollzogenen Dezentralisation des Werkes und Verselbständigung der Verbände Schönstatts wird die Stellung J. Kentenichs als überzeitliches Haupt besonders relevant. Sie stellt den Pallottinern und Mitgliedern anderer Verbände Schönstatts das Endbild des Werkes vor Augen und führt sie somit zu einer persönlichen Entscheidung für dieses Konzept, die einen Ausdruck in der „Gefolgschaftsströmung“ findet. Diese Strömung ist in den verschiedenen Gemeinschaften unabhängig voneinander und von J. Kentenich entstanden. Ihr liegt das Drängen zugrunde, die Einheit des Werkes in den wesentlichen Komponenten seiner Identität: im Bund mit Maria, im Schönstattheiligtum und im Gründer zu sichern.
1955 deutet J. Kentenich ausdrücklich auf diesen Lebensprozeß hin und versucht, die – nach seiner Überzeugung – zugrundeliegenden Prinzipien aufzuzeigen:
„Weihbischof Stein glaubt zwar feststellen zu müssen, mit der Zeit habe sich der Schwerpunkt vom Heiligtum auf das Haupt verschoben; dieses sei sogar nach und nach an dessen Stelle getreten; und das sei mit meiner Billigung und Unterstützung geschehen — Es ist ein großer Irrtum. Wahr ist, daß das Haupt zwar mit der Zeit stärker hervorgetreten ist. Es geschah aber nicht aus Willkür, noch viel weniger aus einem anderen unedlen Motiv. Es geschah lediglich auf deutliche göttliche Signale … Und es geschah mit vollem Bewußtsein der Tragweite der Umstellung. Es geschah allezeit nur unter dem Gesichtspunkte des überzeitlichen nicht des zeitbedingten Hauptes. Das aber keineswegs auf Kosten und zum Nachteil des Heiligtums, sondern zu dessen Schutz.“[230]
Im Zeitraum 1947-1950 entfaltet sich in den Elitegemeinschaften Schönstatts die „Gefolgschaftsströmung“ mit einer immer stärkeren Dynamik. Sie wird reflexiv durchdrungen und findet einen symbolhaften Ausdruck in den „Gefolgschaftsakten“. Darunter wird ein aszetischer Vollzug verstanden, dessen Intention die vertiefte Hingabe an Gott und an das Schönstattwerk ist. Der Kern dieser Akte ist die ausdrückliche Anerkennung J. Kentenichs als überzeitliches Haupt des Werkes als Vertiefung der inneren Bindung an ihn, die im Vollzug des Bündnisses mit Maria im Heiligtum eingeschlossen ist.[231]
Zum 20.1.1949 beabsichtigen Priester, die an der Zentrale tätig sind – schönstättische Diözesanpriester und Pallottiner –, einen Gefolgschaftsakt zu setzen. In seinem Vorfeld verfaßt J. Kentenich einen Aufsatz in Form eines Briefes an Menningen, um eine bessere gedankliche Abklärung dieses Aktes zu erreichen.
Zwei Wesensmerkmale geben diesem eine eigene Prägung: das gemeinsame und öffentlicheKreisen um die Person des Gründers für alle Zeit bereits zu seinen Lebzeiten.
J. Kentenich selbst resümiert diese Propria in dem oben genannten Brief:
„Der persönlichen Gebundenheit wollen Sie eine überpersönliche Note geben und einer wie selbstverständlich gewordenen seelischen Grundhaltung eine überzeitliche Bedeutung und Dauer für sich und alle kommenden Generationen sichern. Und das alles nicht erst nach meinem Tode, sondern jetzt schon zu meinen Lebzeiten.“[232]
J. Kentenich bemerkt, daß es sich dabei um keinen rechtlichen Akt handelt, der ihm besondere juristischen Befugnisse einräumt. Bei diesem Akt wird seine moralische Gründerautorität im Hinblick auf das Werk anerkannt. Es geht nicht um neue rechtliche Strukturen – weder in den Schönstattgemeinschaften, noch in der SAC. Darauf bezieht er sich auch ausdrücklich im Brief zum 20.1.1949:
„[Sie] möchten … unser Verhältnis aus der privaten Sphäre herausheben und ihm gleichsam eine offiziell-amtlichen Charakter geben. Hier ist der Ort, daran zu erinnern, daß die Genossenschaft der Pallottiner aus gegenwärtiger Überlegung ausgeschaltet ist. Sonst könnte der Anschein erweckt werden, es wäre auf neue Amtsträger und Amtsbefugnisse abgesehen, die in den Konstitutionen nicht vorgesehen sind oder ihnen widersprechen.“[233]
Dieser geistige Impuls des Schönstattwerkes – sich um seinen Gründer zu scharen – wird innerhalb der Limburger Provinz unterschiedlich eingeschätzt. Vielen Pallottinern ist überhaupt die Gründerstellung J. Kentenichs nicht klar bzw. je nachdem, ob sie das Werk als neue göttliche Initiative auffassen oder nicht, sogar widersprüchlich. Einzelne Mitglieder der Gemeinschaft der Pallottiner folgern aus der Tatsache, daß J. Kentenich Mitglied der Gesellschaft ist, Schönstatt habe Pallotti als einzigen Gründer.[234] Naturgemäß gilt die Gefolgschaftsströmung für die Vertreter dieser Einstellung als unhaltbar.
Andere dagegen – die engsten Mitarbeiter J. Kentenichs – vertreten entschlossen die Notwendigkeit der Gefolgschaftsströmung. Am 21.10.1948 führt Menningen diesbezüglich in einem Vortrag für junge Pallottiner u.a. aus:
„P. Kentenich ist von Gott gesetzt als Haupt der Schönstattfamilie. Für uns Pallottiner zwar nicht der Träger einer Rechtsautorität, aber wie wir gerne sagen, einer charismatischen Autoritätsfülle. Er wurde von Gott in Dienst genommen, um eine Familie ins Dasein zu rufen, an der auch wir Anteil haben. … Wollen wir nun nicht von jener Familie ausgeschlossen sein, für die er Haupt ist, so müssen wir in ihm freiwillig auch unser Haupt anerkennen. Er übt also eine von Gott gewollte geistige Vaterschaft auch gegenüber unserer pallottinischen Familie aus. … Solange nicht die Priester unserer Provinz, vom Vorsehungsglauben erleuchtet, die Symbolbedeutung des Hauptes recht erfassen und über das Haupt den inneren Anschluß an die Lebensvorgänge der Schönstattfamilie gewinnen, bleibt meines Erachtens unsere Provinzfamilie ein unfruchtbarer Schoß. Denn P. Kentenich ist auch für unsere pallottinische Familie der charismatische Autoritätsträger. Es muß daher die gläubige Verbundenheit mit ihm gefunden werden. Meine persönliche Aufgabe ist es nun, die Generationsgemeinschaft hineinzuführen in diese lebendige Beziehung mit P. Kentenich und durch ihn in die Herzmitte des Schönstattgeheimnisses.“[235]
Rückblickend auf das Jahr 1948 legt Schulte im Jahr 1957 seinen Eindruck über diese Entwicklung wie folgt dar:
„Mit der sog. Gefolgschaftsströmung, die die Person P. Kentenichs so stark in den Vordergrund stellte, bekam ich als Provinzial zum erstenmal auf einer Erzieher-Konferenz unserer Provinz in Limburg im Jahre 1948 zu tun. … Ich wurde von dieser Frage … völlig überrascht und mußte mir erst nach und nach ein Bild machen, worum es sich eigentlich handelte. Schließlich stellte ich an den Verfechter dieser Gefolgschaftsakte (P. Menningen) drei Fragen:
1. Schließen diese Gefolgschaftsakte die Anerkennung irgendeiner jurisdiktionellen oder sonstwie amtlichen Autorität mit ein? – Antwort: Nein.
2. Ist in diese Akte Vinzenz Pallotti mit eingeschlossen? – Antwort: Ja.
3. Sind in diese Gefolgschaftsakte auch die Obern der Gesellschaft mit eingeschlossen? – Antwort: Ja.
Darauf erklärte ich: ‚Unter diesen ausdrücklichen Einschränkungen und Voraussetzungen kann ich die Gefolgschaftsakte vorerst zulassen’.“[236]
Die Situation der Pallottinerpatres ist besonders zu berücksichtigen. Sie gehören einer Gemeinschaft an, die Vinzenz Pallotti als Gründer verehrt, so daß die Zuordnung zu J. Kentenich deutlich zum Ausdruck bringt – wie bereits oben erwähnt –, daß es sich nicht um eine rechtliche Stellung innerhalb der SAC handelt, sondern letztlich um die Bejahung Schönstatts in seiner eigenen Identität.
Vier Wochen nach dem Gefolgschaftsakt vom 20.1.1949 erfolgt die kanonische Visitation. Es wird immer deutlicher, daß es sich dabei auch und zunehmend um J. Kentenichs Person und Stellung handelt, um seinen überzeitlichen Hauptcharakter.
Aufgrund der damit verbundenen Auseinandersetzung J. Kentenichs mit der Kirche steigern sich die Spannungen um Schönstatt innerhalb der Gesellschaft.
General Turowski, der J. Kentenich zwei Briefe nach Südamerika sendet, um eine Klärung der Lage herbeizuführen, antwortet er am 29.6.1949:
„Ich freue mich, daß Sie die Gelegenheit wahrnehmen, sich in Sinn und Zweck der gegenwärtigen Kämpfe tiefer einzuleben. Sie werden bald merken, von welcher Bedeutung sie für die Gesellschaft sind. Ohne eine ausgesprochene Autoritätsströmung kommen wir schwerlich zu einem tragfähigen Autoritätsbewußtsein. Das ist der tiefe Sinn der Vater- oder Gliedschaftsakte. Ich habe persönlich die Bitte der Verbände, Verbindungsglied zwischen ihnen zu sein und die Vertrauensstellung als ihr Haupt anzunehmen, als Gottes Wunsch angesehen und ja gesagt, einerseits damit die einzelnen Gliederungen nicht zu stark auseinandergehen, andererseits um für später den Boden vorzubereiten für eine entsprechende Dauerlösung im Sinne einer gesicherten Zusammenarbeit zwischen Verbänden und Genossenschaft der Pallottiner.“[237]
Die Auseinandersetzung spitzt sich auf die Frage nach dem Verhältnis V. Pallotti – J. Kentenich innerhalb des Schönstattwerkes zu. 1955 erörtert J. Kentenich schriftlich diese Spannung:
„Seit einiger Zeit hat die Diskussion über das Verhältnis zwischen dem überzeitlichen Familienhaupt und Pallotti eingesetzt. … Die Auseinandersetzung liegt so ganz in der Linie einer gesunden organischen Entwicklung. … Wir mögen im gewissen Sinne von einem doppelten Anfange sprechen: von einem Anfange von Pallotti aus und von einem Anfang von Schönstatt aus. Die Linien, die von beiden Punkten ausgehen, wollen und müssen sich treffen; sie wollen und müssen sich in einer großen Gesamtlinie vereinigen: So wie es die göttliche Planung zweifellos vorsieht.“[238]
Die Frage, wie er sich „beide Linien“ in einer großen Gesamtlinie vereinigt vorstellt, wird in seiner Auffassung des Werkes deutlich zum Ausdruck gebracht. Das nächste Kapitel versucht, diese Idee darzustellen.
[216] Vgl. Monnerjahn, Ein Leben für die Kirche, 55.
[217] Vgl. hier Punkt 2.1.
[218] Zu diesem Vorwurf nimmt J. Kentenich mehrere Male Stellung. Hier sei exemplarisch ein Auszug aus einem Brief von 1953 an den Vizegeneral Hoffmann zitiert: „Sie nehmen es mir nicht übel, wenn ich wiederhole, was ich früher bei Gelegenheit schon einmal sagte: alles, was nach der Richtung getan worden ist, darf als so abgewogen und überlegt und auf eine göttliche letzte Planung so abgestimmt aufgefaßt werden, daß ich meinerseits – sofern ich erneut vor dieselbe Situation gestellt würde – noch einmal in allem genau so handeln würde. Ich schreibe das, auch auf die Gefahr hin, auf solche Weise als unbelehrbar und anmaßend zu gelten. Wie in vielen anderen Fragen überlassen wir jedoch auch hier das letzte Wort dem Urteil der Geschichte.“ Brief vom 4.5.1953: Kentenich, Rede nur 5, 1518f.
[219] Ein solches Selbstverständnis läßt deutliche Parallelen ziehen zur Lehre des Konzils über Charismen, obwohl J. Kentenich selbst sich kein persönliches Charisma zugeschrieben hat. Eher sieht er sich im „Schönstattcharisma“ integriert, in dem Gründer und Gründung zu einer lebendigen und unteilbaren Ganzheit vereint sind. Vgl. Menningen, Christ in welthafter Existenz, 148f.
[220] In mehreren Selbstaussagen betont J. Kentenich, er habe niemals daran gedacht, die Gemeinschaft zu verlassen. Im Generalkapitel 1947 bezeugt Menningen: „[J. Kentenich] habe in seinem Leben mit dem Gedanken, aus der Gesellschaft auszutreten, nicht einmal gespielt.“ Zit. n. Dokumente, 180. Ferner: Kentenich, Brief zum 18. Oktober 1948, 7.
1952 drückt J. Kentenich seinen Mitbrüdern in Brasilien gegenüber seine Überzeugung aus, die Gesellschaft wäre von Gott als Träger der ganzen Schönstattbewegung vorgesehen. In diesem Zusammenhang fügt er hinzu : „Hätte ich mich einmal mit dem Gedanken beschäftigt, aus der Gesellschaft auszutreten und eine neue Gesellschaft zu gründen, dann hätte ich das dann auch durchgeführt.“ Kentenich, Brasilienterziat 3, 119.
[221] Kentenich, Brief an Generalrektor Möhler 1956.
[222] Vgl. hier Anm. 50.
[223] Vgl. hier Punkt 1.4.3.
[224] Vgl. hier Punkt 2.3.2.
[225] Eigenmann, Geschichte, 47.
[226] Kentenich, Brief zum 20. Januar 1949, 17f.
[227] Der Schönstatt-Integralismus im Spiegel ausgewählter Dokumente, 5f.
[228] Kentenich, Rede nur 1, 238.
[229] Vgl. Monnerjahn, Studien, 24.
[230] Kentenich, Chroniknotizen 1955.
[231] Dadurch wird die Überzeugung des Schönstattwerkes zum Ausdruck gebracht, daß der Vollzug seiner Gründung am 18. Oktober 1914 unzertrennbar mit der Person des Gründers verbunden ist: Stellvertretend für alle, die sich darin einschließen werden, vollzog Maria mit J. Kentenich den Bündnisschluß im Schönstattheiligtum. Diese Überzeugung begründet seine Stellung als „unverzichtbare Kontaktstelle“ für die Teilnahme an der Lebens- und Gnadenquelle Schönstatts.
[232] Kentenich, Brief zum 20. Januar 1949, 33.
[233] Ebd.
[234] Die Auseinandersetzung um diesen Fragenkomplex bricht in den fünfziger Jahren im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen „Ausgründung“ und „Neugründung“ heftig aus. Vgl. hier Punkt 8.2.2.
[235] Der Schönstatt-Integralismus im Spiegel ausgewählter Dokumente, 2f.
[236] Archiv Limburg: Dokumente, 186.
[237] Kentenich, Rede nur 1, 372.
[238] Kentenich, Chroniknotizen 1955.