1 Die Grundidee Vinzenz Pallottis

1  Die Grundidee Vinzenz Pallottis

Nach der Aussage der amtlichen Kirche ist der Weltpriester Vinzenz Pallotti (1795-1850) „Ehre und Zierde des römischen Klerus und ein Vorkämpfer der Katholischen Aktion“[6], der in seinen Plänen einen besonderen Weitblick bewiesen hat.
Dabei kommt seiner Grundidee die entscheidende Bedeutung zu. Ihre Anfänge reichen bis ins Jahr 1834 zurück. Damals sammelte sich in lockerem Zusammenschluß ein apostolischer Arbeitskreis um V. Pallotti, um eine Hilfsaktion durchzuführen. Priester und Laien, inspiriert durch gemeinsames Gebet, bildeten diese Gruppe.[7]

1.1 Die Vereinigung des Katholischen Apostolates (UAC)

Diese Anfänge entsprechen dem Anliegen Pallottis, der apostolischen Aktivierung aller Glieder der Kirche zu verhelfen. Es führt ihn 1835 zur Gründung eines religiösen Arbeitskreises, einer „Vereinigung“ (Unio) des Katholischen Apostolates, das allumfassend Personen, Orte, Mittel und Werke einbeziehen sollte. Das Wort „katholisch“, in seiner Urbedeutung „universal“, beinhaltet für Pallotti die tiefste Kernidee der Vereinigung im Sinne eines Apostolates aller Katholiken.[8] Ihr Ziel soll sein die „Verbreitung des Glaubens und der Religion Jesu Christi unter allen Ungläubigen und Nichtkatholiken. Ferner: Den Glauben unter den Katholiken neu zu beleben“[9], und es fordert drängende hochherzige Liebe und Einsatzbereitschaft. Die Liebe, auf Gott und das Heil des Menschen gerichtet, zeichnet von Anfang an den idealen Grundzug des Menschen im „Katholischen Apostolat“. Dieser Liebe entspricht der Infinitismus des Gottesbildes – Gottes unendliche Barmherzigkeit wird schon im Gründungsgebet aus dem Jahr 1835 hervorgehoben –, das für V. Pallotti die Züge der Unendlichkeit, genauer: der unendlichen Liebe trägt.
Diese seine erste allgemeine Grundidee der Vereinigung bleibt in allen späteren Niederschriften V. Pallottis in Geltung. Von August 1839 an betrachtet er jedoch als Hauptziel seiner Gründung die „einheitliche Organisierung der Apostolatsarbeit aller katholischen Christen auf der ganzen Welt“[10]. Ein neues Kirchenbild steht ihm vor Augen, und er erkennt als neue Aufgabe die Verbindung aller Kräfte zur universalen Apostolatsorganisation der Kirche, die er zum Teil im System der „Prokuren“ verwirklicht sieht.[11]

1.2 Die Gesellschaft des Katholischen Apostolates (SAC)

V. Pallotti ist sich bewußt, daß ein Werk von so universaler Ausdehnung eine Kerngruppe als „corpo centrale e motore della pia Società“[12] haben müßte, die das Gesamtwerk zusammenhält und inspiriert. 1838 taucht in seinen Schriften zum ersten Mal die Idee auf, daß eine Gruppe von Mitgliedern in der Vereinigung leitende und inspiratorische Aufgaben übernehmen soll, um auf diese Weise „der Arbeit aller in diesem Werk Mitwirkenden [zu] dienen“[13]. Durch die Erfahrung der unendlichen Liebe Gottes motiviert, soll die Einstellung ihrer Mitglieder auf das Letzte an Hingabe, Spontaneität und Initiative ausgerichtet sein. Rechtlich einklagbare Bindungen sind aus der Sicht Pallottis nicht damit zu vereinbaren.[14]
Zu Lebzeiten Pallottis entstehen als Kerngruppen eine Priester- und Brüderkongregation und eine Schwesterngemeinschaft. Schulte formuliert als Ziel der ersten Gruppe:
„Der tiefste und eigentlich bestimmende Wesenszug unserer Gesellschaft nach dem Urbild Vinzenz Pallottis ist also ihr Charakter als pars centralis et motrix einer universalen Apostolischen Bewegung. Deswegen und aus dieser Idee heraus wurde sie eigentlich gegründet.“[15]
Aus diesem Bewußtsein heraus wird in der einsetzenden pallottinischen Geschichtsschreibung zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage ihres Selbstverständnisses und ihrer Sendung wieder aufgegriffen. Das zweite Generalkapitel der Gemeinschaft beschließt 1903, der Grundidee Pallottis intensiver Gestalt zu geben.[16] 1907 verabschiedet Generalrektor Kugelmann ein Statut für die Aggregation von Diözesanpriestern als Mitarbeiter in der Vereinigung des Katholischen Apostolates.[17]

1.3 Die Gesellschaft des Katholischen Apostolates in Deutschland

Ab dem Jahr 1890 bringt eine missionarische Aufgabe der Gesellschaft des Katholischen Apostolates einen Aufschwung: die Evangelisierung Kameruns, das seit 1884 deutsches Kolonialgebiet war.[18] Dadurch entsteht 1892 ihre erste deutsche Niederlassung. Die Gemeinschaft bleibt sich dabei bewußt, daß Pallottis Idee des „Katholischen Apostolates“ weit mehr einschließt als den Missionsgedanken.[19] In einem Werbeprospekt, 1901 in Deutschland herausgegeben, werden als Aufgabenbereiche der Pallottiner die Tätigkeit „in der ordentlichen Seelsorge, bei Volksmissionen und Exerzitien, in der Auslandsmission und in den sogenannten ‚Heidenländern‘ aufgeführt“[20]. Das Presseapostolat der Gemeinschaft in Deutschland wird als ein weiteres Gebiet der weltumspannenden Pläne V. Pallottis betrachtet und deshalb in Angriff genommen.[21] Die Berichte über die Pallottinermissionare, die in Kamerun bis 1915 tätig sind, über ihre Pionierarbeiten, Leiden und schließlich über die Todesopfer unter den Missionaren, geben ein Zeugnis von ihrer Selbstlosigkeit im Dienst an anderen Menschen. Leugers stellt fest, daß die Mission sowohl in Kamerun als auch in Deutschland „eine im wahrsten Sinne des Wortes apostolische Bewegung“[22] weckte, die sich „weitgehend frei entwickelte, vielfältige Formen fand und Pallottiner, Weltgeistliche, Ordensleute und Laien aktivierte.“[23] Die Tätigkeit in verschiedenen Ländern Europas, Afrikas und Amerikas gibt ferner reichlich Zeugnis vom apostolischen Geist der Pallottiner, der von Deutschland aus in die Welt getragen wird.[24]
Skolaster betont, daß die Pallottiner Anfang des 20. Jahrhunderts der Idee ihres Gründers intensiver nachgegangen sind. Er berichtet:
„Im Jahre 1903 begann in Limburg ein noch regeres Forschen nach pallottinischem Gedankengut. P. Kolb hatte vom Generalat eine Abschrift der von V. Pallotti selbst verfaßten großen Regeln für die von ihm gedachten Werke … leihweise erhalten. Fast alle diese Schriften wurden abgeschrieben und zum Teil übersetzt. Das besorgten die Limburger Theologen und erhielten so am besten Einblick in die weltweiten Pläne ihres Vaters.“[25]

1.4 Die Entstehung Schönstatts im Schoß der Limburger Provinz

Das Schönstattwerk ist auf die Tätigkeit des deutschen Pallottinerpaters Joseph Kentenich (1885-1968) zurückzuführen. Seine Anfänge reichen in das Jahr 1912 zurück, als er mit einigen Schülern des Missionsgymnasiums der Pallottiner in Schönstatt, in dem er als Spiritual wirkt, einen Missionsverein gründet, der sich zu einer Marianischen Kongregation weiterentwikkelt.[26] J. Kentenich ist von Anfang an überzeugt, daß seine Arbeit mit der Schönstätter Kongregation in keinem Widerspruch zu Pallotti steht, obwohl sie zu Rückfragen und zur Auseinandersetzung mit den Oberen, auch mit dem damaligen Generalobern P. Gißler, führt.[27]

1.4.1 Das Ereignis vom 18. Oktober 1914

Die Vorgesetzten stellen J. Kentenich für die Marianische Kongregation die alte Friedhofskapelle im Tal zur Verfügung. Die Einleitung des Vortrags, den J. Kentenich am 18. Oktober 1914 den Studenten der Marianischen Kongregation in dieser Kapelle – später als „Heiligtum der Mater ter admirabilis von Schönstatt“[28] bezeichnet – hält, gilt als Gründungsurkunde des Schönstattwerkes und der Tag als sein Gründungsdatum.[29] „Diese Weiherede ist bedeutungsvoll geworden für die ganze spätere Entwicklung“[30], präzisiert Skolaster. Das Ereignis vom 18. Oktober 1914 und sein Nachvollzug in einer ausdrücklichen Weihe an die Dreimal Wunderbare Mutter, Königin und Siegerin von Schönstatt wird in der Schönstattspiritualität „Liebesbündnis“ genannt. Es beinhaltet nicht nur die Elemente einer Marienweihe, sondern auch den Glauben an das Wirken Gottes im Schönstattheiligtum und wird immer als Einschaltung in den Bund gesehen, den Maria – nach der Überzeugung der Schönstattfamilie – mit J. Kentenich als ihrem Vertreter am 18. Oktober 1914 schloß.[31]

1.4.2 Einschätzung des Ereignisses vom 18. Oktober 1914

J. Kentenich bezeichnet das Geschehen vom 18. Oktober 1914 später als „Einbruch des Göttlichen“.[32] Diese Einschätzung drückt die gläubige Überzeugung aus, daß Gott in Schönstatt eine neue Initiative ergriffen hat. Im Laufe der Zeit entwickeln sich daraus unterschiedliche Vorstellungen des Verhältnisses Pallottiner – Schönstatt. Auch im Rahmen dieses Kapitels ist sie bedeutungsvoll. Obwohl Schönstatt im Schoß der Limburger Provinz entstanden ist und deshalb zum „Werk V. Pallottis“ gehört, steckt in J. Kentenichs Aussage die Überzeugung, daß Gott in Schönstatt eine neue Initiative ergriffen hat. Diese schließt einen Schnitt in der Geschichte in sich, denn wenn sie angenommen würde, träte Schönstatt mehr und mehr als „eigene Größe“ in partnerschaftlichem Verhältnis der Gesellschaft gegenüber. Wird Schönstatt nur als Versuch gesehen, die Idee V. Pallottis zu verwirklichen, so besitzt es keine eigene Originalität und müßte naturgemäß der Gesellschaft untergeordnet sein.

1.4.3 Die Annahme der Idee V. Pallottis vom „Katholischen Apostolat“

1916 entschließt sich J. Kentenich, die Idee V. Pallottis von einer apostolischen Weltorganisation in die Zielsetzung Schönstatts aufzunehmen und sie mit dem Heiligtum in Schönstatt zu verbinden.[33] In einem Brief vom 22.5.1916 teilt er dem ersten Präfekten der Marianischen Kongregation, Joseph Fischer, die folgende Entscheidung mit:
„Da muß ich weit ausholen, Ihnen meine zum großen Teil noch unreifen Pläne und Ideen mitteilen und Ihr Arbeitsgebiet abgrenzen … Mir schwebt eine Organisation vor – ähnlich wie unser Ehrw. Stifter die ganze Welt einteilen wollte – … Vallendar soll Mittelpunkt bleiben, und zwar unser Kapellchen mit der M.t.a.. Personen wechseln, das Kapellchen bleibt. Sie tun gut daran, die Liebe zu unserm Heiligtum in sich und andern zu nähren. Schon im Interesse einer dauernden Zentralisation.“[34]
Diese Mitteilung ist die erste schriftliche Quelle der Entscheidung J. Kentenichs, diese pallottische Zielsetzung in das neue Lebensgebilde Schönstatt zu übernehmen. Sie bleibt für lange Zeit seine einzige Äußerung in dieser Hinsicht.[35] J. Kentenich behält diese Entscheidung beim Ausbau des Schönstattwerkes immer im Blick, aus der gläubigen Überzeugung heraus, daß in den Plänen Gottes Schönstatt vorgesehen war, um der Idee Pallottis vom „Katholischen Apostolat“ Gestalt zu geben.[36]


[6]     Dekret der Ritenkongregation vom 6.4.1962. Vgl. ASAC 5, 212.

[7]     Vgl. Bayer, Die Entstehung der Vereinigung, 55. Dieser Beitrag wurde 1992 beim 4. Internationalen Symposion an der Theologischen Hochschule der Pallottiner in Vallendar vorgetragen. Dieses wissenschaftliche Symposion befaßte sich vor allem mit der Frage nach dem Ursprungscharisma V. Pallottis.

[8]     Vgl. Schulte, Katholisches Apostolat, 240. Diese Studie befaßt sich intensiv mit der Entwicklung und Gestalt der Gründung Pallottis.

[9]     Bayer, Die Entstehung der Vereinigung, 62.

[10]    Schulte, Gestalt und Geschichte. Erster Teil, 211.

[11]    Das Prokuren-System mit seiner Einteilung nach territorialen und sachlichen Gesichtspunkten stellt das Bild Pallottis von der Arbeits-Organisation in der Vereinigung dar. Das Thema wird ausführlich behandelt in: Schulte, Vinzenz Pallottis Katholisches Apostolat, 151-166.

[12]    Zit. n. Bayer, Die Entstehung der Vereinigung, 66.

[13]    Rheinbay, Die Entstehung der Priester- und Brüdergemeinschaft, 19.

[14]    Vgl. Köster, Die Spiritualität Vinzenz Pallottis, 121.

[15]    Familienbriefe 1, 9-1948, 233.

[16]    Vgl. Hettenkofer, Historia 1835-1935, 200.
Das 2. Generalkapitel der Gesellschaft findet vom 4. bis 16. Oktober 1903 in Rom statt.

[17]    Vgl. Hettenkofer, Historia 1835-1935, 225.
Max Kugelmann (1858-1935) 1903-1909 Generalrektor der Gemeinschaft der Pallottiner.

[18]    Vgl. Rheinbay, Pallotti, Vinzenz: LdA, 257.

[19]    Vgl. Vautier, Pallotti, Vinzenz: Sch-L, 297.

[20]    Leugers, Vortrag vom 8.12.2001.

[21]    Vgl. Skolaster, P.S.M. in Limburg a. d. Lahn, 227.

[22]    Leugers, Vortrag vom 8.12.2001.

[23]    Ebd.

[24]    Vgl. Die Arbeit der deutschen Pallottiner in Limburg und von Limburg aus – 1892-1967: PW 3-1967, 48.

[25]    Skolaster, P.S.M. in Limburg a. d. Lahn, 218. Michael Kolb (1873-1950). 1909-1919 Limburger Provinzial. Auf sein Regierungsprogramm rückblickend kommentierte er 1948: „Mehr noch lag mir die Verwirklichung der Idee unseres ehrwürdigen Stifters am Herzen, wie ich sie in Rom gelernt und aus seinen eigenen Schriften entnommen hatte. Zunächst galt es, gegen die einseitige Auffassung unserer Gesellschaft anzugehen, als wäre sie nur eine Gesellschaft für äußereMissionen, wie ihr damaliger Name P.S.M. anzudeuten schien.“ Dokumente, 187f.

[26]    Vgl. Schmiedl, Schönstatt, Geschichte: Sch-L, 342; Skolaster, P.S.M. in Limburg a. d. Lahn, 331f.

[27]    Karl Gißler (1858-1927) 1909-1919 Generalrektor der Gemeinschaft der Pallottiner. In einem Vortrag vom 16.10.1947 bringt J. Kentenich diese Auseinandersetzung zur Sprache. Vgl. Kentenich, Strategie des Liebesbündnisses, 119f.

[28]    In der Spiritualität der Schönstattbewegung wird diese Kapelle gängig Heiligtum bzw. Urheiligtum genannt. In diesem Wort kommt die gläubige Überzeugung zum Ausdruck, daß Maria, die Mutter Jesu, in ihr geistig Wohnung nahm, um von dort aus „Wunder der Gnade“ zu erbitten. Vgl. Penners, Heiligtum: Sch-L, 147 f; Schmiedl, Meilensteine: Sch-L, 254; ausführlicher: Monnerjahn, Ein Leben für die Kirche, 74f.

[29]    Vgl. Schmiedl, Schönstatt, Geschichte. In: Sch-L, 342.

[30]    Skolaster, P.S.M. in Limburg a. d. Lahn, 334. Hug macht darauf aufmerksam, daß durch dieses Buch Skolaster das historische Verdienst zukommt, zum ersten Mal eine Zusammenfassung der Geschichte der erst 20jährigen Schönstattbewegung geschrieben und veröffentlicht zu haben. Genauere Forschungen zeigen jedoch in etlichen Details Mängel, die daraus entstanden sein dürften, daß der Autor nicht alle einschlägigen Quellen zur Verfügung haben konnte. Vgl. Hug, Vergangenheit einholen, 53.

[31]    Vgl. Penners, Liebesbündnis: Sch-L, 229.

[32]    Vgl. Schmiedl, Meilensteine: Sch-L, 254. Kentenich beschreibt 1947 mit folgenden Worten die Eigenart dieses Ereignisses: „Originell ist dieses Marien- und Schönstattbündnis gemäß der Bitte vom 18. Oktober 1914: Maria möge sich in unserem Heiligtum niederlassen, von hier aus eine apostolische Erneuerungsbewegung schaffen und uns dabei als ihre Werkzeuge benutzen. Seitdem ist dieses Marienbündnis unsere Lebens-, Kraft- und Segensquelle.“ Kentenich, Strategie des Liebesbündnisses, 331.

[33]    Vgl. Monnerjahn, Ein Leben für die Kirche, 88.

[34]    Zit. n. Kastner, Unter dem Schutze Mariens, 337-340.

[35]    Vgl. Monnerjahn, Studien, 86.

[36]    Die gläubige Auffassung J. Kentenichs von einer Zusammengehörigkeit der Grundidee Pallottis und der neuen göttlichen Initiative in Schönstatt zur Verwirklichung dieser Idee hält er bis zum Ende seines Lebens fest.