Geistpflege
Günther M. Boll
Geistpflege ist eine zentrale pädagogische (und organisatorische) Kategorie, mit der Pater Kentenich seinen Beitrag zur Lösung eines menschlichen Urproblems umschreibt: wie man der Gefahr seelenloser Routine begegnen kann. Sowohl im individuellen wie in jeder Art gemeinschaftlichen Lebens sucht seelisches Erleben einen ihm entsprechenden Ausdruck, eine sprachliche, bildhafte oder den Lebensstil prägende Form. Religion und Kultur leben von solchen Vorgängen. Nun ist es tragische Menschheitserfahrung, dass auch die echteste Ausdrucksform durch Wiederholung der Gefahr der Entleerung ausgesetzt ist. Geistpflege ist für Pater Kentenich die Summe der Bemühungen um immer neue Motivierung und Beseelung einmal übernommener Formen.
Er formuliert „das alte Gesetz“: „Der Geist schafft sich eine Form; die Form schützt den Geist, bringt aber auch die Gefahr mit sich, den Geist mit der Zeit aufzuzehren. Da steht wiederum das schwer zu lösende Problem des Verhältnisses zwischen Geist und Form vor uns. Es bleibt hier auf Erden immer Aufgabe, wird nie vollendeter Besitz werden, mag es sich dabei um organisatorische oder pädagogische oder aszetische Belange handeln“ (LS 1952 I, 34).
Für Organisationen wird dieses Problem zur Überlebensfrage. Ein Blick in das Ordensleben und seine Geschichte zeigt anschaulich, um was es geht: jeder Ordensgründer kommt aus innerer Geistbewegtheit zu Ausdrucksformen seiner spezifischen Geistigkeit in Lebens , Frömmigkeits und Arbeitsstil. Seine Gefolgschaft nimmt diese geistig geistliche Welt zusammen mit ihrer Formgebung auf, die ja auch eine Schutzfunktion für den Geist erfüllt. Aber unweigerlich wird sie konfrontiert mit der Gefahr von Routine und Seelenlosigkeit, wenn der Geist geschwächt ist. Die Formen drohen zu erstarren und das pulsierende Leben zu erdrosseln. In dieser Situation wird oft die Verpflichtung eingeschärft, die einmal gefundene Form einzuhalten: „Wo das Leben erkaltet, türmt sich das Gesetz“ (Simmel).
Diese menschliche Urproblematik hat sich in unserer Zeit noch einmal erheblich verschärft durch die revolutionäre seelische Wandlung. Einen Aspekt darin nennt Pater Kentenich „Bindungsflucht“. Die Kultur vergangener Jahrhunderte war wesentlich eine Kultur gesellschaftlich übernommener Haltungen und Formen. Die Seele war tragfähig für Bindungen aller Art und lebte daher in festen Ordnungen. Daraus schöpfte sie Halt und Widerstandskraft. Mit eigenartiger Instinktsicherheit ahnte Pater Kentenich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass die Kultur der Zukunft wesentlich anders gelagert sein wird, dass wir einer bindungsflüchtigen Zeit entgegengehen. Die seelische Wurzellosigkeit lässt einen größeren Fundus an verpflichtenden Formen nicht mehr zu. Andererseits lässt der Freiheitsdrang des modernen Menschen auch neue Möglichkeiten der Selbstverwirklichung und Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens erhoffen. Für diesen neuen Typ Mensch und diese neue Form menschlicher und religiöser Kultur sieht Schönstatt eine besondere Sendung. In zwei „klassisch“ gewordenen Formulierungen umschreibt Pater Kentenich diese Sendung. Die erste spricht vom „neuen Menschen in der neuen Gemeinschaft“: „Der hier gemeinte ’neue Mensch‘ ist der geistbeseelte und idealgebundene Mensch, fernab von jeder Formversklavung und Formlosigkeit. Die ’neue Gemeinschaft‘ löst sich ohne formlos zu sein von allem seelischen Formalismus, vom mechanischen, bloß äußerlichen Nebeneinander … Das Anliegen, das in der Idee zum Ausdruck kommt, ist durchaus ein allgemeines, das heißt alle religiösen Gemeinschaften sind daran interessiert … Das hindert aber nicht, dass eine Gemeinschaft sich diese vielgestaltige Geistbeseeltheit und Idealgebundenheit als besonderes apostolisches Ziel setzt“ (Schl 1951, 149).
Die zweite Formulierung umschreibt das „universelle Organisationsprinzip“ Schönstatts, in dem Pater Kentenich die seelische Wandlung des heutigen Menschen aufgreift und schöpferisch in ein neues Spannungsverhältnis bringt: „Bindung nur (aber auch) soweit als nötig, Freiheit soweit als möglich, Geistpflege auf der ganzen Linie in vollendeter und gesicherter Weise“ (LS 1952 I, 30).
Hier wird sowohl Bedeutung von Geistpflege bei Pater Kentenich wie auch ihr Ziel und ihre Methode ansichtig. Die Bedeutung liegt für ihn darin, dass bei der gegebenen seelischen Verfassung des Menschen nach dem Kulturbruch mit ihrer bindungsflüchtigen Tendenz notwendig das Maß der verpflichtenden Bindungen reduziert werden und der freien Selbstbestimmung ein weitaus größerer Spielraum gewährt werden muss. Soll Kultur, soll religiöses Gemeinschaftsleben glücken und nicht Chaos oder Anarchie drohen, muss sehr viel mehr an immer neuer Motivierung und Beseelung geschehen. Den konkreten Weg zum „geistbeseelten Menschen“ beschreibt Pater Kentenich mit dem Stichwort „idealgebunden“, das auf die psychologischen Gesetzmäßigkeiten der Idealpädagogik verweist. Ideal ist dabei der Ausdruck für Wertvorstellungen, die in jedem Lebensbereich die Ziele und Grundhaltungen der konkreten Gruppe beinhalten.
„Beseelen“ meint dann den pädagogischen Vorgang, durch den diese ursprünglichen Werte im Aufgreifen aktueller Ansatzpunkte neu verlebendigt werden, neue Anziehungskraft entfalten. Wenn nur verhältnismäßig wenige bindende Formen existieren und dementsprechend der Freiraum zu immer neuen persönlichen und gemeinschaftlichen Initiativen groß ist, kommt es auf solche Prozesse neuer Motivierung entscheidend an. Konkret geschieht das durch Anregungen zu persönlicher Besinnung und Vertiefung (zum Beispiel durch freie Gebetszeiten oder Geisteserneuerung), durch gemeinsames Suchen in kleineren oder größeren Gruppen, durch Anknüpfung an konkreten Erfahrungen und Verknüpfen mit den Wertkomplexen der Grundhaltung und ihre Anwendung auf die konkrete Lebensgestaltung, durch Suchen nach symbolhaften Ausdrucksformen für gemeinsame Ideale. Diese Methode der Verlebendigung von Zentralwerten im Rahmen der Idealpädagogik heißt in der Terminologie Pater Kentenichs >>“Bewegungspädagogik“, der Versuch, zeitweise bestimmte Aspekte darin zu aktualisieren „Strömungspädagogik“. Geistpflege ist so das nie abreißende Bemühen, im persönlichen Leben wie im Innern einer Gemeinschaft geistig seelische Lebendigkeit zu erhalten.
Literatur:
- J. Kentenich, Kindsein vor Gott. Priesterexerzitien 1937, Vallendar-Schönstatt 1979, 374-380
- J. Kentenich, Krönung Mariens Rettung der christlichen Gesellschaftsordnung (Krönungswoche 1946), Vallendar 1977, 159 ff.
- J. Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form (Brief an Joseph Schmitz, geschrieben in Santiago/Chile, ab dem 3. Mai 1952), Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S., 41 ff.
- J. Kentenich, Rom-Vorträge. Vorträge für die Leitungen der Schönstätter Verbände in Rom (17. November 1965 – 2. Februar 1966), verv., A 5, vier Bände, 237+321+283+308 S. 1965 IV, 68 ff.
Schönstatt-Lexikon:
Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)
Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de
Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de