Heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes

Heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes

Lothar Penners

1. Geschichtstheologisches Resumé einer heilsgeschichtlichen Sendung des Abendlandes
2. Schönstatt und die heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes
2.1. Glaubensüberzeugung der Gründungsurkunde
2.2. Zur Wortprägung: Heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes
2.3. Heilsgeschichtliche Sendungen und Theologie der Stellvertretung
3. Perspektiven künftiger Verwirklichung
4. Konvergente Stimmen?

Zu den Grundanliegen, ja Zielsetzungen Schönstatts gehört die Überzeugung von einer spezielleren Verantwortung der Bewegung für das, was Pater Kentenich unter der heilsgeschichtlichen Sendung des Abendlandes versteht.

In der Sichtweise J. Kentenichs hat der westliche, indogermanische Kulturkreis (d.h. das christliche Abendland als gewachsene Synthese von Antike, Christentum und romanisch-germanischen Völkern) vom Gott der Geschichte einen Auftrag bekommen, der noch nicht voll realisiert wurde, von zeitbedingten Missverständnissen gereinigt und auf Zukunft hin vertieft gefasst werden soll.

1. Geschichtstheologisches Resumé einer heilsgeschichtlichen Sendung des Abendlandes

Im vorsehungsgläubigen Nachtasten der geschichtlichen Entwicklung Europas und seiner weltweiten Wirkungen im Hinblick auf eine göttliche Planung kommt J. Kentenich zu folgenden Hauptgesichtspunkten:

1.1. Das christliche Abendland habe auf Grund des naturhaften Grundzuges seiner Völker zu Weltweite und Welteroberung die Aufgabe bekommen, der Welt das Christentum zu bringen.

1.2. Dieser weltweit-missionarische Auftrag sei hinter der Vermittlung von abendländischem Denken in Wissenschaft, Wirtschaft und Technik zurückgeblieben.

1.3. Die abendländische Spiritualität weise gegenüber dem christlichen Morgenland wie gegenüber den fernöstlichen Religionen eine spezifische Weltbezogenheit auf: eine vitalere Verbindung von „Gnade und Natur“, von „Erst- und Zweitursache“. Man kann diesen Grundzug den welthaft-inkarnatorischen in der abendländischen Religiosität nennen, der sich beispielsweise in den geistesgeschichtlichen Auseinandersetzungen über das Verhältnis von Glauben und Denken, Gnade und Freiheit, Staat und Kirche artikulierte, seit der Aufklärung namentlich in der typisch „westlichen“ Spannung zwischen kultureller Autonomie und Letztbindungen von Individuum und Gesellschaft. Die Frage eines organischen Mit- und Ineinanders oder aber mechanistischen Neben- und Gegeneinanders von Glaube (Religiosität) und Welthaftigkeit berührt in der Sicht J. Kentenichs die Grundschicht der „abendländischen Seele“, ihrer tiefsten und gottgewollten Sehnsucht und Befähigung wie ihrer geschichtlich-schicksalhaften Verstrickungen.

Diese Dimension sowohl in der Spiritualität Schönstatts wie des „gesamten Abendlandes“ deutlich zu machen, war eines der Grundmotive J. Kentenichs u. a. in der von ihm heraufbeschworenen Auseinandersetzung mit kirchlichen Stellen (31.Mai 1949, dritter >>Meilenstein) über die Sinnhaftigkeit gerade auch menschlicher Bindungen (>>“Zweitursachen“) für die existentiell gelebte Religiosität.

1.4. Im Rückblick auf die Missionstätigkeit der westlichen Kirchen konstatiert J. Kentenich, dass die Vermittlung der christlichen Botschaft weitgehend auch in den „Formen“ des Abendlandes geschehen sei, hierin die für ihn zentrale Unterscheidung von „Geist und Form“ in Anschlag bringend, die für die weltkirchlich unabweisbar gewordene Aufgabe der Inkulturation des Glaubens fundamental wichtig ist.

2. Schönstatt und die heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes

2.1. Glaubensüberzeugung der Gründungsurkunde

Dieses (heils-) geschichtliche Resumé der Bestimmung des Abendlandes geht einher mit Überlegungen zur Verknüpfung mit dem Selbstverständnis Schönstatts, zu dessen zweiter Zielsetzung „Rettung und Verwirklichung der heilsgeschichtlichen Sendung des Abendlandes“ gehört. Der Formulierung nach der späten Exilszeit angehörend, fasst sie Überzeugungen, die von Anfang an lebendig waren. Im „vielleicht noch darüber hinaus“ der >>Gründungsurkunde klingt die erwartete universelle Fruchtbarkeit des Ursprungsbündnisses Schönstatts für Kirche und Welt an: zur „Gesundung“ des zunächst deutschen „Vaterlandes“, das J. Kentenich als Exponent des Abendlandes sieht. Die gesamte Konzeption macht deutlich, dass der Gründer Schönstatts den Begriff Abendland indessen nicht territorial und somit nicht identisch mit Europa versteht, sondern kulturell als westlichen Kulturkreis, gerade auch in seiner weltweiten Dimension: Die gesamte Welt ist gleichsam Abendland geworden, etwa in der Übernahme europäischer Zivilisation. Das Moment der „Rettung“ der heilsgeschichtlichen Sendung des Abendlandes ist deswegen für das Verständnis J. Kentenichs nicht geknüpft an territorale Gegebenheiten, sondern an die Aufgabenstellung einer Neuverknüpfung von Christentum und Kultur, für welche die dreidimensionale Spiritualität Schönstatts, seine Pädagogik und die vorhandenen Ansätze zur Kulturtheorie einen originellen Beitrag leisten sollen, namentlich in der Konzeption eines neuen >>Bindungsorganismus als Kernpunkt einer schöpferischen Neuverbindung von „Evangelium“ und „Welt“.

2.2. Zur Wortprägung: Heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes

Dass J. Kentenich das Grundanliegen einer umfassend welthaften Spiritualität ausdrücklich verknüpft mit dem relativ „schillernden“ Begriff des „Abendlandes“ und einer ihm zugeschriebenen heilsgeschichtlichen Sendung, hat offensichtlich zeitgeschichtliche wie theologische Gründe. Der Zusammenbruch der „alten“ Gesellschaftsordnung und der veränderte Welteinfluss Europas als Folgen der beiden Weltkriege hat J. Kentenich durch die Jahrzehnte seiner Gründertätigkeit reflexiv beschäftigt. Oswald Spenglers Leitmotiv und die ihm zugrunde liegende Kulturtheorie vom „Untergang des Abendlandes“ waren einschlägig sprichwörtlich für die Zeit des Ausreifens der geistigen Konzeptionen J. Kentenichs, welcher die Diskussion um die Geschichtsphilosophie sowohl Spenglers wie seines Kontrahenten A. Toynbees ausdrücklich mitverfolgte. Ob J. Kentenich hinsichtlich der sprachlichen Fassung und konzeptionellen Ausrichtung sich ausdrücklich auch auf die von Spengler ausgelöste Diskussion beziehen wollte im Sinne eines positiven Gegenpols, mag offen bleiben. Seine vorsehungsgläubige Sicht des geschichtlich-kulturellen Gesamtzusammenhangs ist vor allem theologischer Natur.

2.3. Heilsgeschichtliche Sendungen und Theologie der Stellvertretung

Sowohl die weltweit-missionarische wie die welthaft-inkarnatorische Seite im Charisma des Abendlandes sieht J. Kentenich im Zusammenhang individueller und sozialer Rollen der Stellvertretung in der gesamten Heilsgeschichte: Abrahams, Israels, vor allem der Sendungen Christi und Mariens in der „Fülle der Zeit“, der Kirche als ganzer und einzelner profilierter Sendungen in ihr und für sie, wie beispielsweise der paulinischen. J. Kentenich argumentiert vor allem über das Modell heilsgeschichtlicher Analogien und ist offensichtlich von der Überzeugung getragen, dass es auch nach Christus so etwas wie – bedingt – heilsgeschichtlich bedeutsame Sendungen geben kann, für den Fall, dass diese eine herausragende Bedeutung haben für Aufleuchten und Zuwendung des Heils für die gesamte Menschheit. Wie in mancherlei Zusammenhängen will J. Kentenich eine angebahnte Sicht letztlich durch die Fachtheologie geklärt wissen. Dies gilt letztlich noch einmal für die Frage, ob es in der Kirche Charismen geben kann, die berufen sind, einen speziellen werkzeuglichen Dienst zu leisten für die Verwirklichung des Auftrags, den J. Kentenich – geschichtstheologisch – mit der Sendung des abendländischen Kulturkreises verknüpft sieht. Über derlei Charismen und die Fruchtbarkeit ihres Dienstes kann letztlich nur die „schöpferische Resultante“ der Geschichte urteilen.

3. Perspektiven künftiger Verwirklichung

Zusammen mit den bereits skizzierten Beiträgen zur Erfassung und Neugestaltung der heilsgeschichtlichen Sendung des Abendlandes verdienen folgende ergänzende Perspektiven eine ausdrückliche Erwähnung. Die Reflexion Kentenichs über die stellvertretende Erwählung des Abendlandes für die Evangelisierung der Welt führte ihn zur Frage nach möglichen Trägern dieser Aufgabe für die Zukunft. Stehe dafür kein Volk oder keine Völkergruppe zur Verfügung, könne die göttliche Planung möglicherweise dahingehend gedeutet werden, an der Bildung einer „globalen Elite“ (F. Heer) quer durch die verschiedenen Völker mitzuwirken, welche sich für eine ganzheitliche Evangelisierung der einen Menschheitsfamilie einsetze. Diesem Ziel konvergiert seine gobale Schau, dass die Gottesmutter von ihren Schönstatt-Heiligtümern aus in den verschiedenen Völkern und zwischen ihnen als Erzieherin auf Christus hin wirksam werden wolle.

Eine realistische Sicht für die Begrenzung sowohl von Einzelcharakteren wie Kulturtypen ließ Pater Kentenich Ausschau halten nach der Entsprechung und Ergänzung des abendländischen Kulturraumes, besonders angesichts einer weltweiten Säkularisierung, durch eine Art geistiger Kolonialisierung der verschiedenen Kulturregionen durch europäische Mentalität: Das Abendland habe immer bereits der Ergänzung sowohl durch das christliche Morgenland wie den Osten insgesamt bedurft, wie es selbst die östliche Mentalität ergänzt habe durch das Ernstnehmen der Eigengesetzlichkeit der „Welt“. In diesem Sinne ergeben sich von der geschichtstheologischen Grundperspektive J. Kentenichs her Übereinstimmungen mit dem in Gang gekommen ökumenischen und interreligiösen Dialog der Christenheit auf dem Weg an ein neues Zeitufer.

4. Konvergente Stimmen?

Bei aller Eigenprägung und sendungshaften Konkretion dessen, was J. Kentenich in seiner Sicht einer heilsgeschichtlichen Sendung des Abendlandes betont, gibt es doch eine relativ starke Berührung mit ähnlich klingenden Stimmen namentlich im katholischen Raum – jenseits einer konventionellen Schultheologie – etwa mit Karl und Hugo Rahner, Erich Przywara und Hans Urs von Balthasar, Reinhold Schneider, Gertrud von le Fort, Christopher Dawson und anderen. Th. A. van Leeuwen („Christentum in der Weltgeschichte“) betont namentlich unter dem Gesichtspunkt der vom Abendland weltweit bewirkten Säkularisierung eine bleibende Verantwortung des Okzidents für die Möglichkeit einer globalen Entheimatung vieler Kulturen infolge der letztlich nicht gültig bewältigten Emanzipation des späten Abendlandes von seinen religiösen Wurzeln, darin sich berührend mit der Frage Kentenichs nach der Kultur eines neuen Zueinanders von Erst- und Zweitursache.


Literatur:

  • J. Kentenich, Die heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes. Textsammlung, zwei Bände, 1983 f.
  • J. Kentenich, Victoria Patris. Vorträge von Pater Josef Kentenich anläßlich seines Besuches in Oberkirch vom 3.-4. September 1967, zwei Bände, 70+131 S..
  • R. Birkenmaier, Im Herzen Europas – Schönstatt und die heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes, Oktoberwoche 1990, 213-230
  • Oktoberwoche 1983
  • Oktoberwoche 1984
  • L. Penners, Eine Pädagogik des Katholischen, Vallendar-Schönstatt 1983, 158 ff.
  • H. Urs von Balthasar, Reinhold Schneider, Einsiedeln 1953
  • A. Halder / K. Rahner, Art. Abendland, in: Herders Theologisches Taschenlexikon, Band 1, Freiburg 1972, 17 ff.
  • E. Przywara, Logos, Abendland, Reich, Kommerzium, Düsseldorf 1964
  • H. Rahner, Abendland. Reden und Aufsätze, Freiburg 1966
  • O. Spengler, Der Untergang des Abendlandes, München 1969 (Nachdruck).

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

Related Posts