Soziale Frage
Herta Schlosser
1. Die Soziallehre der Kirche
2. Die soziale Frage bei Pater Kentenich
Soziale Frage ist die im 19. Jahrhundert geprägte Bezeichnung für einen revolutionären Wandel der Gesellschaft zur Industriegesellschaft und der damit zusammenhängenden Entstehung eines Proletariats (Arbeiterfrage). Der Prozess der Industrialisierung ist inzwischen weltweit und daher die Suche nach Lösungen der mit dem Terminus „soziale Frage“ bezeichneten Probleme nach wie vor aktuell.
1. Die Soziallehre der Kirche
Die Kirche legt keine wirtschaftlichen Systeme und Programme vor. Ihre Soziallehre ist kein „dritter Weg“ zwischen liberalistischem Kapitalismus und marxistischem Kollektivismus und auch keine mögliche Alternative zu anderen, weniger weit voneinander entfernten Lösungen: „Sie ist vielmehr etwas Eigenständiges“. Johannes Paul II. hat 1981 ein Sozialrundschreiben veröffentlicht über die menschliche >>Arbeit (Laborem exercens). Darin gibt er einen informativen Überblick. Er stellt fest, dass sich die Lehrtätigkeit der Kirche in der Zeit zwischen den Enzykliken Rerum novarum (Leo XIII., 1891) „und Quadragesimo anno von Pius XI. zunächst vor allem auf die gerechte Lösung der so genannten Arbeiterfrage im Rahmen der einzelnen Nationen konzentriert, dann aber ihre Blickrichtung auf die ganze Welt ausweitet. Die unausgeglichene Verteilung von Reichtum und Elend, der Unterschied von entwickelten und nicht entwickelten Ländern und Kontinenten fordern eine Angleichung und eine Suche nach Wegen für die gerechte Entwicklung aller. In diese Richtung geht die Lehre der Enzyklika Mater et magistra Johannes‘ XXIII., der Pastoralkonstitution Gaudium et spes des II. Vatikanischen Konzils und der Enzyklika Populorum progressio Pauls VI.“ (Laborem exercens, 2). Durch diesen von Johannes Paul II. selbst hergestellten Zusammenhang ist zum Verständnis seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis (1987) hingeführt.
2. Die soziale Frage bei Pater Kentenich
Pater Kentenich greift auf die Soziallehre der Kirche zurück. Die soziale Frage sieht er im Zusammenhang mit einer neuen christlichen Gesellschaftsordnung und in der Perspektive des christlichen Sendungsgedankens, wie er in der Schönstattbewegung seine originelle Prägung erhalten hat. Bereits im Quellenband aus der Gründungszeit „Unter dem Schutze Mariens“ wird die soziale Frage unter diesem Gesichtspunkt angeschnitten.
In den Jahren 1929/30 hat sich Pater Kentenich intensiv mit dieser Problematik beschäftigt (vgl. IPT 1930). In einer allgemeinen Charakterisierung zeichnet er die erste Epoche des vierten Standes. Er geht auf die Ideen von Babeuf, Lassalle und Marx (Arbeits und Mehrwertlehre) ein. Pater Kentenich typisiert: Der moderne Lohnarbeiter ist standlos, berufslos, heimatlos, besitzlos, er ist bedroht von Arbeitslosigkeit und leidet unter Hoffnungslosigkeit. Als Gründe für diese Missstände nennt er Rationalisierung der Arbeit, zunehmende Vermassung und das Anwachsen der Städte zu Mammutstädten. Diese Charakterisierung gilt der jeweils anderen Kultur entsprechend gegenwärtig noch für die „Dritte Welt“, hinsichtlich der Arbeitslosigkeit unter anderem Gesichtspunkt (Problem der Technisierung) auch noch in unserem Kulturraum. Bemerkenswert ist, dass Pater Kentenich schon 1930 Frauenbewegungen als soziale Bewegungen bei allen Kulturvölkern konstatiert. Er fordert mit Nachdruck die Wertung der Persönlichkeit des Lohnarbeiters und der Arbeiterklasse sowie die Entfaltung ihrer schöpferischen Kräfte. Unter den Begriffen „Entindustrialisierung“ und „Entproletarisierung“ entwickelt er das Programm einer „Revolution“ durch Verlebendigung des christlichen Menschenbildes. Dieses Reformprogramm hat nichts an Aktualität verloren.
Unmittelbar nach dem Krieg greift Pater Kentenich das Thema soziale Frage wieder auf. In einer Ansprache am 10. Mai 1945 fordert er: Wir müssen zu einer „annehmbaren Lösung der sozialen Frage kommen“ (UMS 1945,181). Solange „hier nicht grundsätzlich eine Lösung gefunden ist, ist alles andere umsonst“. Der „heutige Mensch möchte ein Recht haben auf die Verteilung der Welt und der irdischen Güter“ (ebd.). Pater Kentenich prägt dafür den Ausdruck „das Gerechtigkeits-Soziale“ und fordert eine Akzentverschiebung von der christlichen Pflicht „des Caritas Sozialen“ auf die „Pflicht des Gerechtigkeits Sozialen“ (ebd., 182).
1948 schrieb Pater Kentenich auf seiner Reise durch Nordamerika nach Deutschland, er bitte darum, „ein klares System herauszuarbeiten, das den Mut hat, die brauchbaren Bausteine zu verwerten, die Kapitalismus und Sozialismus zur Verfügung stellen. Im Mittelpunkt wird das Wesen der Arbeit stehen müssen und das Äquivalenzgesetz zwischen ihr und Wert und Verdienst“ (AmBer 1948, 107). Die Arbeit ist mit der Eigentumsbildung und Einkommensverteilung unzertrennlich verbunden und Zentralproblem jeder Wirtschaftsordnung. Das Recht auf Eigentum muss unangetastet bleiben. Allerdings lastet auf dem Eigentum eine soziale Verpflichtung.
Im Jahre 1949 formuliert Pater Kentenich den programmatischen Satz: „Überwindet den kapitalistischen und sozialistischen Zeitgeist. Schafft einen neuen Menschen in einer neuen Gemeinschaft mit einem neuen Arbeitsethos!“ (St 1949, 352). In seiner Stellungnahme zu den großen Wirtschaftssystemen der Gegenwart geht es ihm um eine Wirtschaftsordnung, die aus christlichem Geiste neu zu gestalten ist. Das Evangelium schreibt keine bestimmte Wirtschaftsform vor. Anzustreben ist diejenige, die am besten für das materielle und sittliche Wohl der Menschen sorgt. Allerdings müssen Würde und Urrechte des Menschen gewahrt bleiben. Zu den Urrechten der menschlichen Person gehört das Recht auf persönliche Freiheit und das Recht auf Eigentum als wesentliche Voraussetzung für Freiheit.
Literatur:
- Kastner, Ferdinand, Unter dem Schutze Mariens. Untersuchungen und Dokumente aus der Frühzeit Schönstatts 1912-1914, Limburg 1939 (1952), 316-324
- J. Kentenich, Zur sozialen Frage. Industriepädagogische Tagung. Bearbeitet von Herta Schlosser, Vallendar 1990, S. 21-317
- J. Kentenich, Auf Dein Wort hin werfe ich die Netze aus. Amerikabericht (September 1948), in: Philosophie der Erziehung. Prinzipien zur Formung eines neuen Menschen- und Gemeinschaftstyps. Bearbeitet von Herta Schlosser, Vallendar 1991, 91-158
- J. Kentenich, Studie aus dem Jahr 1949. Brief vom 31. Mai 1949. ‚Antwort auf den Bericht‘, verv.W, A 5, 421 S., 350-358.
- Johannes Paul II., Laborem exercens (1981).
- E. Raidt, Christliches Management aus der Sicht Pater Kentenichs. Evangelisierung des Wirtschaftssektors, Regnum 24 (1990) 78-90
- dies., Christliche Unternehmensführung nach der Konzeption Pater Josef Kentenichs, Vallendar 1991
- H. Schlosser, Über Kapitalismus und Sozialismus hinaus. Überlegungen zu den ökonomischen Grundproblemen der Gegenwart aus der Sicht Pater Kentenichs, in: dies., Zeitgeist – Geist der Zeit. 30 Jahre Marxismusforschung. Problemzugänge – Problemerhellung. Antworten aus der Spiritualität Schönstatts, Vallendar 1995, 178-194.
Schönstatt-Lexikon:
Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)
Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de
Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de