Bindung /Bindungspädagogik
Günther M.Boll
1. Entstehung und Entfaltung der Bindungspädagogik
2. Psychologische und soziologische Kontexte
3. Wesentliche Elemente
4. Dimensionen
Lesen Sie ergänzend zu diesem Artikel die preisgekrönte Diplomarbeit von Lothar Herter: Erziehung in Beziehung
Zur Verwirklichung seines pädagogischen Konzeptes vom „neuen Menschen“ hatte Pater Kentenich zunächst den ersten Grundpfeiler seines Erziehungssystems entwickelt, die Idealpädagogik. Aufgrund seiner psychologischen Beobachtung und pädagogischen Erfahrung entstand mit der Zeit ein zweiter Grundpfeiler, den er Bindungs- und Bündnispädagogik nannte.
1. Entstehung und Entfaltung der Bindungspädagogik
Die Beobachtung hatte ihn immer deutlicher erkennen lassen, dass das Reifen der Persönlichkeit wesentlich von Faktoren beeinflusst wird, die nicht vom bewussten Wollen abhängig sind. Unter diesen Vorgängen und Erfahrungen in der unbewussten Tiefenschicht der Seele hob sich für ihn das Phänomen der seelischen Bindungen als zentral heraus. Seine eigene Jugendkrise hatte ihn die negativen Auswirkungen einer einseitig rationalistischen und voluntaristischen Erziehung schmerzlich erleben lassen: er hatte sich auf sich selbst zurückgeworfen erfahren in einem „überspitzten Idealismus“, einem „zersetzenden Individualismus“ und einem „einseitigen Supranaturalismus“ (1955). Mit der befreienden Lösung hatte er aber auch die Erfahrung der Heilkräfte machen dürfen: seelische Bindungen, vor allem personaler Art, waren der entscheidende Faktor zur Mensch-werdung und Christ-werdung. Einmal aufmerksam geworden, entdeckte er das alarmierende Anwachsen seelischer Krankheiten aufgrund fehlender Bindungen, vor allem in der frühen Kindheit. Er erkannte, dass der moderne Mensch unserer technischen Massenzivilisation an dieser Stelle besonders anfällig ist, dass es ihm immer weniger gelingt, emotional verwurzelte und dauerhafte Beziehungen einzugehen. Anfang der dreißiger Jahre hatte diese Diagnose der seelischen Situation unserer Zeit bei ihm einen Grad reflexiver Sicherheit erreicht, dass er erstmals die Grundlinien einer zeitgemäßen Bindungspädagogik entwickeln konnte. In der typisierenden Zuspitzung, mit der er wesentliche Einsichten in Entwicklungsprozesse zu formulieren pflegte, bezeichnete er als die Zeitgefahr den „radikalisierten, alle gottgewollten Bindungen von innen heraus verneinenden Massenmenschen“ (PT 1951, 165). Neben seinen eigenen Beobachtungen lieferte ihm die katholische Soziallehre in ihren führenden Vertretern in Deutschland Material und ein Stück weit die Terminologie. Damals hatte man den „Kollektivismus“ oder „Bolschewismus“ nicht nur als machtpolitische, sondern tiefer als anthropologische Gefahr erkannt. Das Originelle bei P. Kentenich ist, dass er diese Zeitproblematik als eine zutiefst pädagogische Herausforderung verstand und in seiner Bindungspädagogik zu beantworten suchte. Spätere Erfahrungen, vor allem im Konzentrationslager und im Beobachten der fortschreitenden seelischen Entwicklung in der Gesellschaft, ließen ihn formulieren: „Nur wer die umstürzende Wurzellosigkeit der heutigen Zeit versteht und ernst nimmt, ist genügend wach für Eigenart, Bedeutung und Verknüpfbarkeit von Lebensfäden, die man unter normalen Verhältnissen kaum beachtet hat“ (1954). Für ihn war die zeittypische Häresie, die Kirche und religiöses Leben bedroht, nicht wie in früheren Jahrhunderten theologischer Art, sondern eine „anthropologische Häresie“. Ihre Gefährlichkeit besteht nicht zuletzt darin, dass man sie wie eine neu auftretende Krankheit noch nicht erkannt hat, obwohl ihre Auswirkungen überall spürbar werden. Das war sein Anliegen am 31. Mai 1949, als er einen kritischen Brief an den Bischof von Trier schickte, in dem er auf solche Zusammenhänge aufmerksam machen wollte (>>Meilensteine). Er war überzeugt: „Will man das Gären und Brodeln im heutigen Geistesleben auf einen charakteristischen Nenner bringen, so spricht man am besten schlechthin von einer Lebenskrise. Die Lebensbänder sind überall zerschnitten und zerrissen: sie sind entbunden… Darum allerorten die Rede von der Wurzellosigkeit und Bindungslosigkeit… Was liegt da näher als das Losungswort: allseitige Bindungslosigkeit will durch allseitige Bindungsganzheit, durch Bindungsfestigkeit und Bindungsinnigkeit abgelöst werden“ (CN 1957).
2. Psychologische und soziologische Kontexte
Psychologie und Soziologie sind auf die Bindungsproblematik aufmerksam geworden. So schreibt z.B. der amerikanische Psychologe Rollo May: „Das ‚typische‘ psychische Problem unserer Zeit ist nicht mehr – wie in Freuds Tagen die Hysterie, sondern das schizoide Phänomen, d.h. die Probleme der Menschen, die ohne Bindungen sind, keine Beziehung zur Umwelt haben, unter Gefühiskälte leiden und zur Depersonalisation neigen.“ Wohl am intensivsten erforscht ist das Feld der Entstehung menschlicher Urbindungen zwischen Mutter und Kind (z.B. Bowlby). Ihr Nicht-zustande-Kommen ist gleichbedeutend mit dem Fehlen des „Ur-Vertrauens“ (E. Erikson) und der Unfähigkeit, später vitale und tragfähige Bindungen einzugehen. Damit hängt das Heer der narzisstischen Störungen zusammen. Das mangelnde Selbstwertgefühl, die Kontaktnot vieler Menschen und ihre immer erneuten Versuche, aus ihrer Einsamkeit auszubrechen, die Frustrationen nicht gelingender Beziehungen lassen die angeborene Bindungssehnsucht des Menschen, aber auch die Bindungsnot und Bindungsunfähigkeit deutlich werden. Ein besonderes Forschungsfeld stellt der Wandel im Bindungsverhalten im Bereich der Ehe dar. Hier kommt neben der psychologischen auch die soziologische Dimension von Bindungen in den Blick: es gibt nicht nur seelische Bindung als persönliche Erfahrung, sondern auch als institutionelle Verpflichtung. Die Ablehnung solcher Pflichtbindungen (Ehe, aber auch Gelübde oder Zölibatsversprechen im religiösen Bereich) zeigt eine zunehmende Unfähigkeit, dauerhafte Bindungen durchzutragen. Es erscheint vielen undenkbar, eine lebenslang verpflichtende Bindung einzugehen. Dabei geht es nicht in erster Linie um ethische Bewertung, sondern um seelische Fähigkeit. Schließlich gibt es die Forschungsrichtung, die sich mit der Sinnkrise des modernen Menschen beschäftigt (Richtungen der humanistischen Psychologie). Das auf sich selbst gestellte, eigenverantwortlich handelnde Individuum ist unter den Lebensbedingungen einer >>pluralistischen Gesellschaft ohne tief verwurzelte Bindungen weithin überfordert und orientierungslos.
Man muss die Bindungslehre und Bindungspädagogik P. Kentenichs in solchen Zusammenhängen sehen, um ihre Absicht und das darin liegende pädagogisch-therapeutische Angebot zu verstehen, aber sie auch in ihrer Originalität und Eigenständigkeit bewerten zu können.
3. Wesentliche Elemente
Bindungen sind für P. Kentenich Beziehungen, die den Menschen mit Personen, Dingen, Orten und Ideen verknüpfen, so dass seelische „Fäden“ hin und her laufen. Solche „Lebensbänder“ sind zum Unterschied von den vielen nur akthaften Eindrücken langsam gewachsen, emotional verwurzelt und deshalb dauerhaft. Im Fall der personalen Bindungen kommt noch die Beiderseitigkeit hinzu. Durch diesen geheimnisvollen Vorgang, den man nicht „machen“ oder „haben“ kann, werden Personen und Dinge für den gebundenen Menschen wertvoll. Für Kentenich geht es dabei um die ganzheitliche Entfaltung der in der menschlichen Anlage liegen den Liebesfähigkeit, die dadurch – anders als bei der Freud’schen Libidotheorie – in eine unterschiedliche anthropologische Deutekategorie hineingestellt wird. Was sich in anderen Zeiten offenbar wie von selbst einstellte, dass der Einzelmensch in seiner Entfaltung ein Netz von Beziehungen aufbaute, ist in unserem geistig-seelischen Umfeld krisenhaft bedroht. Wenn R. Süßmuth von der Bindungssehnsucht des Menschen als einer „anthropologischen Konstante“ spricht, trifft sie das, was P. Kentenich entdeckt hat, dass Bindungen zum Wesen gesunden Menschseins gehören: „Der Mensch muss in irgendeiner Weise in der natürlichen Ebene alle Fäden seiner Seele gebunden haben… Der normal gewachsene Mensch braucht einen Organismus von Gebundenheiten: lokale, personale und ideenmäßige Gebundenheiten… Der Mensch muss in einem Bindungsorganismus zu Hause sein. Und in dem Ausmaß ist er gesund, als ihm dieser Bindungsorganismus zuteil wird“ (PT 1951, 183 f.). Mit einem Ausdruck von Pestalozzi nennt P. Kentenich deshalb den Menschen das „nestgebundene Wesen“. Dabei sieht er diese Bindungsfähigkeit nicht nur in personalen Beziehungen verwirklicht – wie in der psychologischen Forschung fast ausschließlich, sondern ebenso in der Gebundenheit an Orte, an Dinge, auch an Ideen, insofern sie nicht Sachwissen meinen, sondern zu inneren Überzeugungen geworden sind. Allerdings wertet er die Bindung an Du und Wir als die überragend wichtige Gebundenheit für personale Reifung. Er nennt die personale Bindung „das schöpferischste Prinzip der Weltgeschichte“ (ME 1934, 157). Das findet seine letzte Überhöhung in der personalen Gebundenheit an Gott. Ein solches Netz von Beziehungen knüpfen zu helfen, das Entstehen von Bindungen durch persönliches Sich Hineingeben in den seelischen Vorgang zu ermöglichen und sie durch alle Wachstumsstadien, auch in krisenhaften Belastungen, zu begleiten, ist das Anliegen der Bindungspädagogik.
4. Dimensionen – Auf einige Aspekte so verstandener Erziehung sei noch hingewiesen.
4.1. Wichtig ist für P. Kentenich die Erkenntnis, dass hinter den seelischen Ausfallerscheinungen eine Denkhaltung steht, die sich in den Jahrhunderten der Neuzeit entwickelt und eine mechanistische, trennende Wirkung hat. Es will ihr nicht mehr gelingen, lebensmäßige Zusammenhänge auch zusammen zu sehen. Solches >>mechanistisches Denken hat Ideen vom Leben getrennt und kann deshalb nur schwer erfassen, was mit dem Lebensvorgang seelischer Bindung im Menschen geschieht. Deshalb ist Bindungspädagogik für P. Kentenich innerlich notwendig verknüpft mit dem Anliegen einer neuen Denkhaltung, die er >>“organisches Denken“ nennt und zusammen sieht mit „organischem Leben und Lieben.“
4.2. Ein zweiter Aspekt ist die soziale Dimension, die Bindung in den Kontext institutionalisierter Verpflichtung einrückt. Alle Formen menschlicher Vergesellschaftung kennen neben den rein privaten auch solche, gleichsam öffentliche Bindungen. P. Kentenich hat den inneren Zusammenhang zwischen rein privaten seelischen und rechtlich verpflichtenden Bindungen für unsere seit der Aufklärung veränderte Situation so gekennzeichnet: Freiheit (für eigenverantwortliches Handeln) soweit wie möglich, Bindung (rechtlich verpflichtender Art) nur soweit als nötig, Geistpflege (d.h. immer neue Motivierung) über alle Maßen (>>Bau- und Grundgesetz). Die Ablehnung institutioneller Bindung, wie z.B. der gesellschaftlich sanktionierten Ehe, kommt bei dem heutigen Menschen aus der Allergie gegen Institutionen, die in ihrer überkommenen Form dem Individuum keinen oder nur einen minimalen Freiheitsspielraum lassen. Insofern steht P. Kentenich auf der Seite derer, die einen solchen Freiheitsraum fordern. Das ist nach seiner Auffassung die „vox Dei“ in der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte. Es geht dabei um ein neues Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft, das sich erst einpendeln muß. Der Beitrag P. Kentenichs zur Lösung dieser Problematik liegt darin, dass er durch seine Ideal und Bindungspädagogik den Menschen helfen will, frei ein Ja zu sagen zu früher verpflichtend geschützten Werten wie Treue, Zuverlässigkeit und Durchtragen übernommener Verantwortung; ihn darüber hinaus zu motivieren, freiwillig Bindungen einzugehen aus innerer Zustimmung zu diesen Werten, die dann allerdings immer neu wertgefüllt werden müssen, wenn sie dauerhaft und belastbar sein sollen.
4.3. Eine weitere, für den religiösen Erzieher P. Kentenich zentrale Dimension ist die übernatürliche Wirklichkeit für uns Christen. Es war seine Überzeugung, dass gesunde natürliche Bindungen die Voraussetzung für echte übernatürliche Bindungen sind. Ohne ein Netz von naturhaft tief verwurzelten Beziehungen zu Personen, Orten und Überzeugungen haben Bindungen an Gott, an Christus und seine Kirche, an die Glaubenswelt unserer religiösen Überzeugungen und ethischen Werte kein tragfähiges Fundament. Das Mühen um personale Bindungen an Gott und die Personen der Übernatur nennt P. Kentenich >>“Bündnispädagogik“. Sie ist die „Zwillingsschwester“ der Bindungspädagogik und mit ihr innerlich notwendig verbunden. Gerade in diesem Zusammenspiel von Natur und Gnade im Bindungsbereich sieht Kentenich die zentrale und schöpferisch zu lösende pastorale Aufgabe für unsere Zeit, der er mit seiner Bindungs- und Bündnispädagogik dienen will.
Literatur:
- J. Kentenich, Marianische Erziehung. Pädagogische Tagung (22.-26. Mai 1934), Vallendar-Schönstatt 1971, 286 S., 154ff.
- J. Kentenich, Daß neue Menschen werden. Eine pädagogische Religionspsychologie. Vorträge der Pädagogische Tagung 1951. Bearbeitete Nachschrift, Vallendar-Schönstatt 1971, 264 S., 177 f., 221 ff.
- J. Kentenich, Maria – Mutter und Erzieherin. Eine angewandte Mariologie (Fastenpredigten 1954), Vallendar-Schönstatt 1973, 456 S., 405 ff.
- J. Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form (Brief an Joseph Schmitz, geschrieben in Santiago/Chile, ab dem 3. Mai 1952), Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S.I, 134 f. 166 f.
- S. Duncan, Pflege personaler Beziehungen, emotionale Reife und geistliches Leben, Regnum 29 (1995) 100 108
- M.E. Frömbgen, Unser Vater lehrt und lebt als Bindungspädagoge, OW 1980, 137-156
- R. Süßmuth, Wandlungen im Bindungsverhalten, in: Frauen der Resignation keine Chance, Düsseldorf 1985, 47 68
- A. Schavan, Art. Bindung, in: Frauenlexikon, Freiburg 1988, 118 125
- J. Bowlby, Bindung, München 1975
- Angelika (Sr. Maria) Thiel, Die Bedeutung der Bindung im pädagogischen und seelsorgerlichen Ansatz Pater Joseph Kentenichs. Ein Beitrag zur Aktualität im sozialpädagogischen Handlungsfeld.Diplomarbeit an der Berufsakademie Stuttgart – Ausbildungsbereich Sozialwesen – 2007
Schönstatt-Lexikon:
Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)
Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de
Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de