Geschichte – Geschichtsauffassung
Manfred Gerwing / Joachim Schmiedl
1. Theistische Geschichtsauffassung
2. Österliche und apokalyptische Aspekte
3. „In die Schule der Geschichte gehen“
4. Relative Eigenständigkeit menschlicher Geschichte
Geschichte hat für P. Kentenich über die konkreten Ereignisse hinaus, die genau datierbar und lokalisierbar sind und aus deren Erinnerung und Deutung eine Großgemeinschaft lebt, immer eine Tiefendimension. Als Theologe reflektiert er die geschichtlichen Ereignisse und stellt sie in einen großen heilsgeschichtlichen Zusammenhang. Geschichte hat von Gott ihre Herkunft, wird von ihm in ihrem entscheidenden Verlauf gelenkt und findet in ihm ihre alles vollendende Zukunft. Christus ist „Ausgangs-, Mittel- und Endpunkt der ganzen Welt- und Heilsgeschichte … Denn in Ihm ist alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, … Alles ist durch Ihn und für Ihn erschaffen. Er steht an der Spitze von allem, und alles hat in Ihm seinen Bestand (Kol 1,16 f.). Darum besteht Gottes Absicht und Ratschluss darin, alles, was im Himmel und auf Erden ist, in Christus als dem Haupte zusammenzufassen (Eph 1,10)“ (Grußw 7.9. 1968, 36).
1. Theistische Geschichtsauffassung
Daraus ergibt sich eine originelle Form christlicher Geschichtsauffassung, die von P. Kentenich selbst „theistische schöpferische Geschichtsauffassung“ genannt wird (OB 1949, 17 f.): Sie ist wesentlich geprägt von einer trinitarischen Spiritualität. Ursprung und Ziel aller Geschichte ist Gott selbst: „Der Sinn des Weltgeschehens ist, von Gott aus gesehen, die sieghafte Heimholung der Auserwählten durch Christus im Heiligen Geist zum Vater; vom Menschen aus betrachtet: die sieghafte Heimkehr der Auserwählten durch sieghafte Entscheidung für Christus im Heiligen Geiste“ (NC 1942, 125). Diese Bewegung des Menschen auf Gott hin und die letzte Gebundenheit an ihn vollzieht sich in einem Leben aus dem >>Praktischen Vorsehungsglauben. Der Glaube an einen Weisheits-, Liebes- und Allmachtsplan Gottes für das menschliche Leben wird bei P. Kentenich allerdings immer ergänzt durch die Überzeugung, dass der Mensch als freier Bundespartner diesen Plan rezipieren müsse. So ist menschliche Geschichte zugleich göttliche Heilsgeschichte, die zielgerichtet und zyklisch zugleich, bildlich gesprochen, „spiralförmig“ verläuft, nämlich in einer Art Kreisbewegung um Christus und auf Christus hin.
2. Österliche und apokalyptische Aspekte
In P. Kentenichs Geschichtsauffassung finden sich sowohl österliche wie apokalyptische Züge.
Durch die Betonung des österlich-inkarnatorischen Aspekts seiner Geschichtsauffassung wird aktivistischen wie passivistischen Geschichtsauffassungen widersprochen. Kommen doch die vielfältigen Formen des Geschichtspassivismus darin überein, dass hier die Möglichkeiten des Menschen, Geschichte mitzugestalten, gar nicht oder zu wenig wahr- und/oder ernst genommen werden. Die Vertreter der aktivistischen Geschichtsauffassung hingegen agieren geschichtslos und konstruieren ein willkürliches Zukunftsbild, weil sie letztlich den transzendenten Sinn der Geschichte leugnen und das (innerweltiche) Ziel und den Verlauf der Geschichte allein vom Menschen bestimmt sehen. Kentenich will durch seine Geschichtsauffassung beide Extreme vermeiden und Geschichte als Teilhabe von Schöpfung und Geschöpf am Liebes-Leben des dreifaltigen Gottes auffassen. Gott ist es, der sich zuerst und vor allem auf den Menschen zu bewegt und diesem überhaupt erst ermöglicht, auf Gott zuzugehen. Allerdings ist der Mensch in der als „Liebes-Spiel“ und „göttliche Komödie“ (im Sinne Dantes) näher beschriebenen Geschichtsauffassung „Mitspieler“ Gottes.
Die apokalyptische Dimension von Geschichte wurde von P. Kentenich besonders in Krisenzeiten reflektiert, z.B. während des Dritten Reiches oder in der Zeit seiner kirchlichen Verbannung, und ist zur durchgehenden Perspektive seines Glaubens geworden. In Anlehnung an die Geschichtstheologie der Offenbarung des Johannes sieht P. Kentenich die Weltgeschichte auch als dauernden Kampfplatz zwischen Glauben und Unglauben (KwFr 1946, 28). Er sieht „widergöttliche Mächte“ am Werk und spricht ihnen eine, wenn auch untergeordnete, Rolle zu. Sofern Geschichte solch ein Ringen um die freie Entscheidung für oder gegen Gott ist, können die Bilder von Liebe, Hochzeit, aber auch von Trennung und Scheidung auf die menschliche Mitwirkung an diesem Drama angewandt werden. Doch P. Kentenich hält daran fest, dass Gott in Jesus Christus bereits den Sieg davongetragen hat.
3. „In die Schule der Geschichte gehen“
Neben diesen geschichtstheologischen Reflexionen über den Sinn und das Ziel von Geschichte findet sich bei P. Kentenich die dauernde Anregung, in die „Schule der Geschichte“ zu gehen. Er fordert auf, Welt- und Zeitgeschichte zu beobachten und daraus Konsequenzen zu ziehen (Kardinal Faulhaber: „vox temporis vox Dei“). Dasselbe gilt für die Kirchengeschichte in ihren wesentlichen Etappen. Immer wieder zieht er die Geschichte der Schönstatt-Familie („Familiengeschichte“) heran, in der das Zusammenspiel von göttlichem und menschlichem Handeln paradigmatisch zu beobachten und zu erlernen sei. P. Kentenich sieht in diesen geschichtlichen Ereignissen ein Erfahrungswissen gegeben, das ihn zu der Formulierung ermutigt, hierin finde sich eine „heilige Geschichte“, eine konkrete Form „Heiliger Schrift“. Im Vergleich mit den geschichtlichen Ereignissen und ihren Grundlinien soll auch im persönlichen Leben das Handeln des „Gottes des Lebens und der Geschichte“ ertastet und erfahren werden. Ziel bleibt, „wenn wir so in die Schule der vergangenen Geschichte gegangen, auch alles Moderne, was heute von Welt und Leben gesagt, uns einzugliedern. Das ist einfach eine Art Charisma, das der liebe Gott uns allen wieder erneut anbietet“ (PatEx 67 II, 63). Der Zusammenhang von biblischer Heilsgeschichte, Welt- bzw. Kirchengeschichte, Schönstattgeschichte und persönlicher Lebensgeschichte gibt ein durchgehendes kentenichianisches Denkmuster wieder. P. Kentenich will anregen, aus der Beobachtung von Zeit und Geschichte zu einer Gotteserfahrung zu gelangen. Von ihm her könne die Geschichte wieder neu gesehen werden, um auf diese Weise die Befähigung zu bekommen, die Zukunft zu gestalten.
4. Relative Eigenständigkeit menschlicher Geschichte
So wird der Mensch niemals zum Requisit. Geschichte bleibt menschliche Freiheitsgeschichte und zugleich Geschichte des seinen „Heilsplan“ liebend vollendenden Gottes (NC 1942, 125). Die relative Eigenständigkeit und originelle Gestalt von Teilaspekten der Geschichte (Volks-, Nationen-, Wirtschafts-, Konfessionsgeschichte) und individueller Geschichte (des einzelnen, der Familie, der Gruppe) wird durch das „Spiel“ Gottes nicht aufgelöst, wohl aber auf das Gesamt seiner Geschichtsführung hingeordnet. Geschichte geschieht durch den Menschen als schöpferisch Handelndem, der gleichzeitig in ein größeres Ganzes eingeordnet ist. Es bleibt eine Spannung zwischen dem universalen Heils- und Liebesplan Gottes und der Konkretheit irdischer Verhältnisse und Entwicklungen. Die Lehre von dem Verhältnis zwischen >>Erst- und >>Zweitursachen gewinnt hier ihren „Sitz im Leben“, die Mariologie mit der Lehre von der Stellung und Rolle >>Marias im Heilsplan ihre exemplarische Bedeutung. Die überragende Aufgabe liegt darin, in der Nachfolge Christi „der göttlichen Idee vom Menschen“ zu dienen (OB 1949, 42) und sich so „für die marianische Christusgestaltung der kommenden Welt zur Verherrlichung des Vaters“ einzusetzen (Grußw 7.9. 1968, 41).
Literatur:
- J. Kentenich, Predigten 1910-1913. Herausgegeben und eingeleitet von Engelbert Monnerjahn, Vallendar-Schönstatt 1988
- JPT 1930
- J. Kentenich, Der apokalyptische Priester. Exerzitien für Priester (Jahreskurs 1940/41), unterschiedliche Mitschriften
- J. Kentenich, Nova creatura in Jesu et Maria (Sponsa-Gedanken). Geschrieben vom 5.-10.1.1942, Schönstatt 1991, 179 S.
- J. Kentenich, Oktoberbrief 1949 an die Schönstattfamilie, Vallendar 1970, 196 S.
- J. Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts. I. Teil: Geist und Form (Brief an Joseph Schmitz, geschrieben in Santiago/Chile, ab dem 3. Mai 1952), Vallendar-Schönstatt 1971, 242 S. und II
- Patrozentrische Frömmigkeit, Regnum 2 (1967) 149-154
- J. Kentenich, Mit Maria hoffnungsfreudig und siegesgewiß in die neueste Zeit. Grußwort an die in Essen zum 82. Deutschen Katholikentag versammelte Schönstattfamilie (7.9.1968), Vallendar-Schönstatt o.J., 44 S.
- Geschichtsmächte, Regnum 24 (1990) 33 f.
- J. Kentenich, Texte zum Vorsehungsglauben. Herausgegeben von P. August Ziegler, Vallendar-Schönstatt 1974, Zentrale Begriffe Schönstatts. Kleiner Lexikalischer Kommentar. Nach Schriften und Vorträgen Pater Josef Kentenichs bearbeitet von Herta Schlosser, Vallendar-Schönstatt 1977, 21-26.
- F. Brügger, Herausgefordert durch den Gott der Geschichte, Regnum 24 (1990) 53-58. 120-130
- J. P. Catoggio, Geheimnis und Plan. Zum Geschichtsverständnis Pater Kentenichs, Regnum 19 (1984) 124-135
- A. Cosp Fontclara, Vorsehungsglaube und menschliche Freiheit, Regnum 11 (1976) 17-27
- M. Gerwing, Der Mensch auf dem Weg ins dritte Jahrtausend – Aspekte des geschichtlichen Heute, OW 1987, 37-57
- M. Gerwing / H. King, Gruppe und Gemeinschaft, Vallendar-Schönstatt 1991, bes. 288-312
- L. Penners, Eine Pädagogik des Katholischen, Vallendar-Schönstatt 1983
- H.W. Unkel, Theorie und Praxis des Vorsehungsglaubens nach P. Josef Kentenich, Vallendar-Schönstatt 1980.
Schönstatt-Lexikon:
Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)
Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de
Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de