3 Philosophisch-theologische Konturen des Menschenbildes bei Kentenich

3 Philosophisch-theologische Konturen des

Menschenbildes bei Kentenich

3.1 Die Person als Einheit von Leib – Seele – Geist

Grundlage für die Konzeption des Persönlichen Ideals bildet das Menschenbild Kentenichs.

Dieses gewann er durch die Rezeption der scholastischen Leib-Seele-Lehre, welche er um psychologische Beobachtungen erweiterte. Demnach setzt sich die Person aus verschiedenen Seinsschichten zusammen: Leib, Seele und Geist.[82]

Das Dasein des Menschen ist gekennzeichnet von ihrem Wechselspiel sowohl untereinander als auch mit der äußeren Wirklichkeit.[83]

Wie King ausführt hat jede Schicht „ihre eigene Ausdrucksweise, ihre eigene Sprache“, mit der sie sich im individuellen Erleben bemerkbar macht.[84]

Im Folgenden sollen die einzelnen Schichten näher vorgestellt werden.


Seele

Die Seele ist nach Kentenich die Komponente der sinnlich-affektiven Wahrnehmung.

[85] In einem seiner frühen Vorträge, die er den Schülern des Studienheims hält, führt er aus, wie alle Sinneseindrücke auf die Seele einwirken. Dabei werden die äußeren Reize der Sinnesorgane in der Seele in Form von Empfindungen und inneren Bildern aufgenommen. Nachdem beispielsweise ein Klavierton schon längst verklungen ist, klingt der Eindruck des Tons in der Seele nach.[86]

Auch vergangene Erlebnisse können derart in der Seele nachwirken. Dieser Vorgang entfaltet im Unbewussten eine eigene Dynamik, die sich im Bewussten wiederum bemerkbar macht. Neue Reize können alte gespeicherte Empfindungen hervorholen. Die Wahrnehmung bestimmter Objekte kann so plötzliche

Gefühlsregungen auslösen: Freude, Trauer, Liebe, Sehnsucht, Zorn, Abneigung, Frieden, Unruhe [87] und noch viele weitere in einem breiten Spektrum. Begriffe, die Kentenich in diesem Zusammenhang verwendet, sind „Affekte“, „Triebe“, „Leidenschaften“, „Seelenregungen“ oder „sinnliches Strebevermögen“.[8 ]

Je intensiver und je früher im Leben ein Eindruck gemacht wird, desto stärker wirkt er nach. Intensive negative Eindrücke können so etwaWahrnehmungsstörungen oder Verhaltensblockaden auslösen. Kentenich führt im oben genannten Vortrag das Fallbeispiel eines Geistlichen an. Dieser kam als Kind einmal ganz außer Atem verspätet in die Schule und wurde vom Lehrer bloßgestellt:

„In diesem hochpeinlichen Zustand muß er lesen.Wie das ging, könnt ihr euch leicht denken. Nach jedemWort wird gegagst und Luft geschnappt, bis die Stimme endlich vor Weinen erstickt. – Soll man es für möglich halten, daß dieser Vorfall seinen düsteren Schatten über das ganze Leben des Kindes, des jetzigen Geistlichen wirft.

Er muß viel öffentlich auftreten. Zeitweise, wenn er überarbeitet ist, wenn seine Nerven streiken wollen, fällt er – sage und schreibe – in diesem elenden Zustand zurück: gerade während seines öffentlichen Auftretens: die Brust pumpt gewaltig Atem, die Stimme schlägt über, bis sie in völliger Hilflosigkeit im Weinen erstickt:ein ganz erbarmungswürdiger Zustand.“[89]

Kentenich setzt hier seelische Vorgänge voraus, die unbemerkt tief im Unterbewusstsein ablaufen. Diese bezeichnet er mit dem Begriff „unterbewusstes Seelenleben“.[90] Ihnen misst er eine große Bedeutung für das menschliche Handeln bei:

„unsere katholische Aszese hat bisher verzweifelt wenig Rücksicht genommen auf das unterbewusste Seelenleben; und doch bleibt es wahr, dass wir bedeutend mehr das tun, was die Natur unterbewusst erstrebt als das, was wir wollen.“[91]

Die Verwendung von Begriffen wie „Leben“, „lebensmäßig“ oder „Natur“, „naturhaft“[92] in diesem Zusammenhang macht deutlich, dass Kentenich diesen Bereich als selbstverständlich zugehörig zum menschlichen Sein betrachtet.

Seine Schüler im Studienheim sind noch in der Pubertät, in der sich die seelischen Affekte besonders stark bemerkbar machen und der Gefahr unterliegen, von vornherein als Sünde wahrgenommen zu werden. Gerade hier möchte er eine unverkrampfte Einstellung gegenüber den eigenen Affekten, insbesondere der Sexualität, vermitteln: Die Affekte sind erst einmal weder gut noch schlecht[93] – entscheidend ist, wie man mit ihnen umgeht:

„Die Leidenschaften, sind es, die uns zu Schurken, sie sind es auch, die uns zu Heiligen oder doch wenigstens zu brauchbaren Priestern und Aposteln machen, wenn wir sie richtig behandeln. Wer große und starke Leidenschaften hat, der hat das Zeug zu einem tüchtigen Mann.“[94]

Das Nicht-Eingestehen, d.h. die Verdrängung eines Affekts ins Unterbewusste führt nach Kentenich dazu, dass der Affekt aus seinem „Schattendasein“ heraus weiter wirkt, was zu Unruhe und seelischer Verkrampfung führt.[95] Eine Folge dessen kann Kompensation sein, etwa die zwanghafte Unterordnung unter bestimmte Regeln, ohne deren tieferen Sinngehalt zu kennen.[96]

Die Individualität eines Menschen drückt sich darin aus, dass die seelischen Äußerungen diesen in eine ganz bestimmte Richtung hinziehen. So ist jeder Mensch von eigenen Leidenschaften erfüllt, die ihn antreiben. Dabei gibt es für Kentenich die zwei Hauptleidenschaften Sinnlichkeit und Stolz[97]:

Die Sinnlichkeit strebt nach Hingabe, will dienen und geliebt werden. Der Stolz strebt nach Eroberung, will von anderen anerkannt und bewundert werden.[98]

Im Menschen kommen die Hauptleidenschaften jedoch sehr selten in Reinform vor, sondern ergeben gemischt in unterschiedlichen Verhältnissen das ganze

Spektrum der Leidenschaften, die ein Mensch haben kann.[99] Die Individualität zeigt sich zudem an den seelischen Eigenschaften Grundzug und Grundstimmung. Der Grundzug erwächst gewissermaßen aus den Leidenschaften.100 King schreibt: „Grundzug ist eine Art seelisches Gefälle, ein aktuelles Gezogensein durch bestimmte Werte und Aspekte.“[101]

Und weiter: „Der Grundzug bündelt in einer bestimmten Zeit die verschiedenen Elemente, die aus der Seele hochkommen, ohne sie in ihrer Eigenständigkeit und Spontaneität zu unterdrücken. So ist er selbst wie ein Gefüge, wie ein Akkord von Tönen.“[102]

Prägend hierfür können bestimmte Themen oder Emotionen sein, die das Leben für einen längeren Zeitraum bestimmen, etwa das Verliebtsein in einen Menschen oder der Beginn eines neuen Lebensabschnitts.[103] Der Grundzug eines Menschen verändert sich mit der Zeit, andere Dinge werden der Seele wichtig. Gegebenenf alls wiederholen sich einzelne Grundzüge mit der Zeit. Jedoch wirken die Grundzüge in einem Menschen immer auf eine gemeinsame Mitte hin: eine Grundstimmung, die sich in ihm verwirklichen will.[104]

So ist die Grundstimmung eine Art innere Gesetzmäßigkeit, die sich in den Grundzügen ausdrückt. Kentenich macht dies auch daran fest, dass jeder Mensch eine eigene Mentalität hat sowie dass er für ganz bestimmte Werte zugänglich ist:

„Es muß in jeder Seele instinktiv eine ganz bestimmte Werteempfänglichkeit tätig und wirksam sein.Und dieseWerteempfänglichkeit wird zurWertwirklichkeit, sobald objektiv der äußere Wert der Seele nahegebracht wird. […] Sehen Sie bitte einmal hinein ins praktische Alltagsleben. Nennen Sie mir irgendeinen Menschen, der irgend etwas Großes erstrebt und erreicht hat. Dann werden Sie immer nachweisen können:

der hat eine spezifische Mentalität gehabt.“105


Aussagen: Manche Quellen basieren auf Mit- oder Abschriften, die in ihrer Qualität stark voneinander abweichen. In der Sekundärliteratur wird daher oft ein Buchstabencode zu ihrer Klassifikation verwendet.

(Siehe z.B. ebd., S. 359) Dieser Frage räume ich allerdings kaum einen Erkenntniswert in Bezug auf meine Arbeit ein, da ich keine rhetorischen Untersuchungen o.Ä. vornehmen werde, in denen der Wortlaut entscheidend sein könnte.

[81] Siehe King, Durchblick 5 1998, S. 14.

[82] Bereits auf Aristoteles geht die Unterscheidung zurück zwischen der Seele (yux ) als dem Lebensprinzip und dem Geist (noÜj), also dem Selbstbewusstsein des Menschen. (Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 171)

[83] Vgl. ebd., S. 172f.

[84] King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 26.

[85] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 173.

[86] Vgl. J.Kentenich,Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. Kastner, Schutz Mariens

1940, S. 86.

[87] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 174ff.

[88] Es ist hier nicht nötig, eine weitere Differenzierung der Begriffsbedeutungen herauszuarbeiten (falls Kentenich dies überhaupt selbst tut). Entscheidend ist, dass alle Begriffe die Wirkweise bezeichnen, mittels der sich die Seele in unserem Bewusstsein bemerkbar macht.

[89] J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 88f, Fußnote 1.

[90] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 159.

[91] J. Kentenich, Vortrag vom 23.11.1946, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 247.

[92] Vgl. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 115.

[93] Vgl. Schlickmann, Herbststürme 2012, S. 95. Kentenich erklärt dies den Schülern anhand des Gefühls, das entsteht, wenn man „eine verführerisch gekleidete Person des anderen Geschlechtes“ sieht: „Nimm Zucker in den Mund – und die Geschmacksnerven werden angenehm angeregt. Alle sinnlich reizenden Gegenstände sind für unser sinnliches Strebevermögen Zucker. Wird dieser Zucker dem Strebevermögen näher gebracht durch die sinnliche Erkenntnis, dann muß unbedingt ein angenehmes Gefühl entstehen

[…]. Das ist etwas ganz Selbstverständliches, etwasNatürliches […] Geradesowenig, wie wir unsere Natur ablegen können, geradesowenig können wir dieses Gefühl oder wie man in der Moral sagt – die Empfindung der Versuchung, ganz ablegen.“ (J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. Kastner, Schutz Mariens 1940, S.116f)

[94] J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 117.

[95] Vgl. Kentenich, Grundriß 1971, S. 176f.

[96] Vgl. ebd., S. 178. In der Psychologie spricht man hier auch von Neurosen; vgl. Ammann, Unterwegs 1977, 62.

[97] Vgl. J. Kentenich, Vorträge, 1963, in: King, Durchblick 5 1998, S. 577.

[98] S. auch King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 44.

[99] Vgl. Läge, Persönliches Ideal 1985, S. 52.

[100] S. Ammann, Unterwegs 1977, S. 55.

[101] King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 140.

[102] Ebd., FN 142.

[103] Vgl. ebd.

[104] „Grundzug ist das stilleWerden, Hinneigen oder Gezogenwerden der Seele zu dieser Grundstimmung“. (J. Kentenich, Brief an AloisWurm vom 19.8.1933, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 409, Hervorhebung im Original)

[105] Kentenich, Ethos und Ideal 1972, S. 208f.


Leib

Der Leib ist für Kentenich eng mit der Seele verbunden. „Erstens als Spiegel der Seele, zweitens als Werkzeug der Seele und dann drittens als Weggenosse der Seele.“[106]

Beide bilden zusammen „ein Wesen, sie bilden eine Wesenheit, eine Substanz.“[107] So ist die Seele einerseits auf den Leib angewiesen, da sie die Eindrücke der Außenwelt über die Sinnesorgane erhält, die zum Leib gehören.[108]

Andererseits wirkt sie auch wieder auf diesen zurück: Seelische Vorgänge werden am Leib sichtbar. Psychische Krisen können sich etwa in körperlichen Leiden ausdrücken.[109] Nach Kentenich wollen sich bestimmte seelische Regungen auf körperliche Ausdrucksformen übertragen: dies geschieht etwa beim Lachen, beimWeinen oder beim Tanzen. Diese Impulse sollen zugelassen und nicht unterdrückt werden.

In einem Vortrag erklärt er dies anhand derWirkung einer demütigen Haltung, die beim Gebet eingenommen wird:

„Ich darf Ihnen noch einmal sagen, vielleicht habe ich das nicht deutlich genug

um Ausdruck gebracht: Körperliche Haltungen sind vielfach viel stärker adäquater

Ausdruck der seelischen Haltung als ein Wort. Das Wort grenzt ab; definire heißt es

                1.  Sehen Sie, das, was jetzt als Affekt des Erlebnisses des Kleinseins sich einstellt,

das geht ins Endlose. Durch eine körperliche Haltung kann ich das ja viel besser

zum Ausdrucke bringen als durch das eigentliche Wort. Darum muß es auch meine

Aufgabe sein. Einmal angenommen, meine Natur oder meine Seele würde nach der

Richtung drängen, dann ist es selbstverständlich, dann muß ich immer dafür sorgen,

daß derartige Haltungen auch wirklich symbolhafter Ausdruck sind. Sonst ist das ja

weiter nichts als eine gymnastische Übung.“[110]

Der körperlicher Ausdruck ist demnach ein gutesWerkzeug, um die Regungen der eigenen Seele sowohl stärker ins eigene Bewusstsein zu lenken als auch an die Außenwelt zu spiegeln. Der Leib wird so letztendlich ein Symbol der ganzen Persönlichkeit. [111]

Jeder Mensch hat ein individuelles Äußeres, eine eigene Haltung, Gestik, Mimik und für ihn typische Bewegungen.


[106] J. Kentenich, Vorträge, 1963, zit. n. King, Durchblick 1 1998, S. 277.

[107] J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. Kastner, Schutz Mariens

1940, S. 78. Kentenich übernimmt hier die Lehre Thomas von Aquins, nach der die Geist-Seele die substantielle Form des Leibes ist. (Vgl. Penners, Leiblichkeit 1996, S. 218)

[108] S. auch J. Kentenich in: Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 77.

[109] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 217.

[110] J. Kentenich, Vorträge, 1963 (10), zit. n. King, Durchblick 1 1998, S. 279, Hervorhebungen im Original.

[111] Vgl. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 97.


Geist

Der Geist ist die Ebene der Vernunft und des Denkens. Durch ihn besitzt der Mensch Analyse-, Entscheidungs- und Willensfähigkeit.[112] Der Geist ist jedoch nicht unabhängig, denn er benötigt die Wahrnehmungen, die aus der Seele kommen. Somit ist er in diese „eingebunden“ und mit ihr zusammen als Geist-Seele in den Leib. Dadurch nehmen auch Leib und Seele „am geistigen Sein des Menschen teil“.[113]

Ziel und Zweck des geistigen Seins ist die Erkenntnis der Ordnung der Schöpfung, d.h. dessen, was wahr und gut in ihr ist, die Erkenntnis Gottes als Schöpfer hinter allen Dingen [114] sowie die Ausrichtung von Leben und Handeln an dieser Erkenntnis. Kentenich warnt jedoch immer wieder vor einer einseitigen Unterordnung von Leib und Seele unter den Geist:

„Sodann sollte das Herz dem Kopf115 seine Anrechte gegenüber stärker geltend

machen. Sonst gibt es schließlich einen Wasserkopf und ein eingeschrumpftes Herz.

Und eine solche Figur soll nicht schön sein.“[116]


[112]S. auch ebd., FN 26.

[113]Ebd., FN 79.

[114]Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 181.

[115]Das Herz steht hier für die Seele, der Kopf für den Geist. (Anm. A.S.)

[116]J. Kentenich, Brief an P. Reinhard, Januar 1956, zit. n. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 77.


3.2 Die „organische Denk- und Lebensweise“

Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist die Beziehung von Leib, Seele und Geist zueinander. Kentenich betrachtet den Menschen nach der scholastischen Tradition als unitas multiplex, d.h. als vielgestaltige Einheit.[117]

D.h. es gibt zwar die verschiedenen Seinsschichten in ihm, dennoch sind diese auf eine Einheit hingeordnet:

„Leib, Seele und Geist wurzeln in einem Persönlichkeitskern, in einem Träger. Sie

entfalten sich nach bestimmten Gesetzmäßigkeiten, zwar gleichzeitig, aber nicht

gleichmäßig; und sie haben die Tendenz, nach Möglichkeit sich zu verselbstständigen.

Der Leib möchte seinen eigenen Weg gehen, ebenso der Geist und die Seele. Sie

müssen aber aufeinander zugeordnet bleiben, dürfen sich nicht voneinander trennen.

[…] Wenn sich aber die einzelnen Schichten des Menschen auseinanderentwickeln,

wenn sie sich selbstständig gemacht haben und auseinandergerissen sind, wenn der

Leib von der Seele und die Seele sich vom Geist löst, dann sprechen wir mit Recht

von der Zerstückelung der menschlichen Natur.“[118]


[117] vgl. Kentenich, Grundriß 1971, S. 173. Ebenda verdeutlicht Kentenich in einer Aussage auch, wie schwer

Leib, Seele und Geist als einzelne Teile fassbar sind; es sind vielmehr verschiedene Aspekte, die je nach

Blickwinkel in der Person aufscheinen: „Der Philosoph versteht unter Seele und Geist folgendes: Seele

benennt er das geistige Prinzip, sofern es den Leib beseelt. Von Geist spricht er, sofern die Seele für die

Wahrheit geöffnet ist und geistige Ideen verarbeitet.“

[118] Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 70.


Der Mensch soll nach Kentenich eine „organische Ganzheit“ [119] werden, indem er Harmonie und Gleichgewicht zwischen den einzelnen Schichten herstellt.[120] Diese Aufgabe zieht sich durch alle Lebensabschnitte, da die Entwicklung der Person nie zu einem Schlusspunkt kommt.

Mit dem Begriffsfeld organisch/Organismus legt Kentenich das Bild eines Wachstums nahe, wie es sich in der Natur, etwa bei Pflanzen vollzieht. Auch ein junger Baum hat bereits alle Elemente, die einen Baum ausmachen. Es bilden sich nicht zuerst dieWurzeln und dann sukzessive Stamm, Äste und Blätter.[121] Da sich die einzelnen Teile zwar „alle gleichzeitig, aber nicht gleichmäßig“[122] entwickeln, können einige durchaus auch schon früher als andere eine höhere Entwicklungsstufe erreichen. Allerdings soll kein Teil in der Entwicklung weit hinter den anderen zurückbleiben.

Kentenich hat diese Dynamik in den sogenannten „Wachstumsgesetzen der Seele“ zusammengefasst. Demnach vollzieht sich organisches Wachstum (1.) langsam, (2.) von innen heraus, also von der Mitte der Person her und (3.) aus einer organischen Ganzheit in eine organische Ganzheit.[123]

Kentenich hat immer wieder vor den Gefahren einer „Zerstückelung der menschlichen Natur“[124] gewarnt, insbesondere mit Hinblick auf die Trennung von Idee und Leben, d.h. von Denken und Affekt oder – wie er es auch benennt – von „höherem und niederem Strebevermögen“.[125]

Gerade in der Moderne erkennt er solche Tendenzen, die er während seiner Studienzeit auch selbst durchlebt hat. Rückblickend bemerkt er:

„Als Typ des modernen Menschen durfte ich dessen geistige Not reichlich auskosten.“[126]

Dies betrifft auch den Bereich der Religion, wie er 1955 auf einer pädagogischen Tagung darlegt.

Dort warnt er vor dem Gottesbild eines „deistischen Humanismus“, der eine „erschreckende

Transzendenz Gottes“ lehrt, in der Gott als der „ganz Andere“ den Bezug zum Leben verloren hat.[127]

Ferner: „Der heutige Mensch hat die Fähigkeit verloren, die innere Verbindung

zwischen Diesseits und Jenseits festzuhalten.“[128]

Damit meint Kentenich genau die Fähigkeit, Glaubensinhalte und lebendige Erfahrungen in Beziehung zu setzen. Die kirchliche Tradition, in der Kentenich groß wurde, legte eher einseitig Wert auf die intellektuelle Vermittlung von Glaubensinhalten.[129] Hier machte Kentenich die Entdeckung, die für sein Leben entscheidend war: die heilende Wirkung seiner Beziehung zu Maria.

Kentenich formuliert dazu später: „Die Gottesmutter ist der Schnittpunkt zwischen
Diesseits und Jenseits, zwischen Natur und Übernatur… Sie ist die Waage der Welt.
Will heißen, sie hält durch ihr Sein und ihre Sendung die Welt im Gleichgewicht.“[130]


[119] Ebd.

[120] Dies soll hier kurz am Beispiel des Leibes beleuchtet werden (S. auch Penners, Leiblichkeit 1996, S. 218): Es ist wichtig, sich in seiner Leiblichkeit anzunehmen; so etwa auf die Gesundheit des Körpers zu achten und Körperpflege zu betreiben. Auch wird regelmäßige sportliche Betätigung von vielen als „Ausgleich“ zu anderen Tätigkeiten angesehen. Eine Person, die sich allerdings zu stark auf den Körper fixiert, etwa in den Bereich Schönheitspflege, Sport oder Sexualität, unterliegt der Gefahr, ihr Handeln nicht mehr mit ihren Emotionen zur Deckung zu bringen. Von anderen kann das Verhalten dann leicht als „übertrieben“ oder sogar „unecht“ empfunden werden.

[121] Dies ist bei einem gemalten Baum der Fall, den Kentenich dem organischen gegenüberstellt. (Vgl. J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, in: King, Durchblick 5 1998, S. 423)

[122] J. Kentenich, Philosophie der Erziehung, 1959, zit. n. Gerber, Berufen 2008, S. 229.

[123] Vgl. Frömbgen, Bewegungspädagogik 1996, S. 25.

[124] Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 70.

[125] Ebd., S. 40.

[126] J. Kentenich, Antwort auf Gründer und Gründung, 1955, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 244.

[127]Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 96f.

[128]Ebd., S. 65, Hervorhebung im Original.

[129]Vgl. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 245.

[130]J. Kentenich, Antwort auf Gründer und Gründung, 1955, zit. n. King, Mensch 1996, S. 49. S. auch H. King in ebd., S. 53: „Maria, das Marianische schenkt eine neue Denkweise, die organisch-ganzheitliche.“


Ein solch lebendiger, von Marienliebe getragener Glaube besitzt eine integrierende Wirkung für die verschiedenen Seinsschichten und ermöglicht die ganzheitliche Entwicklung des Menschen.[131]

Wie Schlickmann darstellt, ist für Kentenich die Wirkung so stark, „dass die Gottesmutter offensichtlich in der Lage ist in den Tiefenschichten der menschlichen Psyche die Führung und Formung zu übernehmen.“[132]

Theologisch besteht Kentenichs Leistung also in einer Erweiterung der scholastischen Theologie um eine psychologische Denkweise.[133] Umgekehrt: Von der pädagogischpsychologischen Perspektive gesehen wird das Menschenbild um das Konzept der Gnad erweitert,
um „eine Komponente […], die mit empirischen Forschungsmethoden nicht zu greifen, sondern nur entsprechend zu konstatieren ist“, wie Schlickmann es formuliert. [134]

Dies verdichtet sich insbesondere in der Rolle Marias, der Vermittlerin zwischen Menschlichem und Göttlichem. Gerber spricht hier auch von einer „marianischen Anthropologie“. [135]

In diesem Abschnitt wurde bereits von einem „Persönlichkeitskern“ und einer „Mitte der Person“ gesprochen, dem Ort, wo die  Seinsschichten wurzeln. Hierbei handelt es sich um das Persönliche Ideal, auf das wir nun im nächsten Abschnitt einen weiteren Blick werfen wollen.


[131] Vgl. Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 41. S. auch ebd., S. 109: „Wenn ich mich der Gottesmutter hingebe, darf ich erwarten, daß sie mir ein Stück dieses naturhaft gesunden Denkens und Empfindens schenkt.“

[132] Schlickmann, Herbststürme 2012, S. 162.

[133] S. etwa Gerber, Berufen 2008, S. 215f. Damian Läge schreibt in seiner Untersuchung zur Idealpädagogik:

„Ohne die ‚religiösen Anlagen‘ des Menschen psychologisch zu berücksichtigen, gelingt es nicht, zu

einem gesunden Leben aus einem gesunden Glauben zu erziehen.“ (Läge, Persönliches Ideal 1985, S. 86)

[134] Schlickmann, Freiheit 1995, S. 203.

[135] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 183.


3.3 Das Persönliche Ideal als Schöpfungs-, Bundes- und Gnadengeschenk

Eine von Kentenich eingeführte philosophische Definition des Persönlichen Ideals (im Folgenden kurz „P.I.“) lautet:

„Das P.I. ist die idea exemplaris in mente divina praeexistens.[136] Die Idee, die Gott

von mir besitzt und Wirklichkeit hat werden lassen.“[137]

Damit wird jeder Mensch in seiner Individualität zum Bestandteil des göttlichen Heilsplans von Ewigkeit her erklärt. Die „Idee“ ist hier, wie Gerber anmerkt, nicht im menschlichen Sinn als eine abstrakte Vorstellung aufzufassen, vielmehr ist in ihr „der Mensch als Person bereits ganz von Gott ‚erdacht‘ und ‚ausgesagt‘“.[138]

Die Definition enthält eine auf den Menschen hin konkretisierte Schöpfungstheologie, wie sie etwa auch in Ps 139,13-16 zum Ausdruck kommt:

13  Denn du hast mein Inneres geschaffen, mich gewoben im Schoß meiner Mutter.

14 Ich danke dir, dass du mich so wunderbar gestaltet hast. Ich weiß: Staunenswert

sind deine Werke. 15 Als ich geformt wurde im Dunkeln, kunstvoll gewirkt in den

Tiefen der Erde, waren meine Glieder dir nicht verborgen. 16 Deine Augen sahen, wie

ich entstand, in deinem Buch war schon alles verzeichnet; meine Tage waren schon

gebildet, als noch keiner von ihnen da war.“

Der Begriff „Werke“ in Vers 14 benennt hier die Schöpfung ganz allgemein. Das Beter-Ich zählt jedoch auch sich selbst und damit auch den Menschen in ihre Reihe. Eine analoge Stoßrichtung findet sich in Kentenichs Aussage: „Gott hat die Natur geschaffen und hat der Seele durch die ihr gegebenen Anlagen seinen Willen gleichsam eingeschaffen.“[139]

So kommt in der Geschöpflichkeit der Seele, in ihren Eigenschaften und Regungen, das zum Ausdruck, was Gott als Plan in den Menschen hineingelegt hat und was im Psalm mit dem Begriff „Inneres“ gemeint ist.[140] Dies ist das Persönliche Ideal, die Mitte der Person.

In der Bibel wird hierfür auch oft der Begriff „Herz“ verwendet.[141] Das Herz ist der Ort der persönlichen Beziehung zu Gott.[142]

In der prophetischen und paulinischen Literatur spielt es eine wichtige Rolle für die Theologie des Gottesbundes, die vom auserwählten
Volk auf den Einzelnen übertragen wird. Das Buch Jeremia überträgt das Bundeszeichen der Beschneidung metaphorisch auf das Herz (Jer 4,4) oder sieht das Herz als neue Bundestafeln für Gottes Gesetz (Jer 31,33).[143] Die paulinische Tradition greift dies in 2 Kor 3,3 auf und deutet es im Sinne des Neuen Bundes in Jesus Christus:

„Unverkennbar seid ihr ein Brief Christi, ausgefertigt durch unseren Dienst, geschrieben

nicht mit Tinte, sondern mit dem Geist des lebendigen Gottes, nicht auf Tafeln

aus Stein, sondern – wie auf Tafeln – in Herzen von Fleisch.“

Durch die Entdeckung seines Persönlichen Ideals darf sich der Mensch also als Bündnispartner Gottes erfahren. Zentraler Ausdruck hierfür ist in Schönstatt das Liebesbündnis, das Kentenich mit seinen Schülern in Form der Weihe an Maria vollzieht. Hier wird noch einmal das betont, was jedem Christen bereits mit der Taufe zugesagt wird.[144] Für Kentenich ist das P.I. auch „eine originelle Darstellung und Nachahmung der gottmenschlichen Vollkommenheiten“.[145] Darin werden Motive paulinischer Tauftheologie entfaltet: Von der Schöpfung her ist jeder Mensch ein Abbild Gottes (vgl. Gen 1,27). Durch die Taufe besitzt er die Gaben des Heiligen Geistes und nimmt Teil am mystischen Leib Christi (vgl. 1 Kor 12,4-13). Somit wird er zum Abbild für Christus, der in ihm mehr und mehr Gestalt annimmt.
In Gal 2,20: formuliert Paulus: „nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“ Ein Aspekt, von dem Kentenich hier spricht, ist „die Vergöttlichung unserer Natur, die Vergöttlichung der ganzen Schöpfung und die Durchgöttlichung bis ins Unterbewußtsein der menschlichen Natur.“[146] Das Göttliche im Menschen wird von Kentenich gelegentlich als eine weitere Seinsschicht genannt. Wir müssen also eigentlich von der Person als einer Vierheit ausgehen: Leib, Seele, Geist und Gnade.[147]

Für Kentenich besitzt das Persönliche Ideal „die Formkraft einer großen originellen Gnade.“[148] Damit steht es, wie ich oben ausgeführt habe, sowohl in Beziehung zum Schöpfergott als auch zu Jesus Christus als auch zum Heiligen Geist. Das P.I. bildet somit die innere Struktur der Dreifaltigkeit im Menschen ab, was von Kentenich in folgender Formel zusammengefasst wird:

„erleuchtete Führung weiß, daß jedes Individuum als origineller, inkarnierter Gottesgedanke

und als inkarnierter Gotteswunsch – insofern es von Ewigkeit her im

Verbum divinum originell mitgedacht und im Heiligen Geiste originell mitgeliebt

worden ist und wird – eine urpersönliche, individuelle Liebessendung hat, die durch

persönliche Anlage, durch innere Einsprechung und durch äußere Verhältnisse und

durch gottgegebene Autorität näher bestimmt wird.“[149]

Auf die Komponenten „äußere Verhältnisse“ und „gottgegebene Autorität“ werde ich später noch kurz eingehen (s. Abschnitt 4.1).

Es soll hier noch einmal an die Bedeutung des Heiligen Geistes für das P.I. angeknüpft werden. Dieser wird im Menschen in Form der Begabungen (Charismen) wirksam und erfahrbar. [150] Durch sie erhält der Mensch seine Sendung in die Welt. Dem Propheten Jesaja wird bei seiner Sendung zugesagt:

„Noch ehe ich dich im Mutterleib formte, habe ich dich ausersehen, noch ehe du aus

dem Mutterschoß hervorkamst, habe ich dich geheiligt, zum Propheten für die Völker

habe ich dich bestimmt.“ (Jer 1,4)

Hier klingen auch wieder die oben besprochenen Worte aus Ps 139,13 an. Im folgenden Abschnitt soll ein Blick auf die Sendungsdimension des P.I. geworfen werden, die den Menschen zum Propheten für seine Umgebung macht.


[136] die Idee im Original, die in der göttlichen Absicht im Voraus besteht (Übersetzung A.S.)

[137] J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 391.

[138] Gerber, Berufen 2008, S. 235.

[139] J. Kentenich, Seelenführerkurs, 1926, zit. n. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 108.

[140] Eine ähnliche teleologische Anlage der Persönlichkeit formuliert Spranger in seinem Konzept des Persönlichen Ideals: „In den Tiefen ist schon vorgebildet, was daraus werden kann.“ (Spranger, Lebensformen 1965, S. 299) Im Unterschied zu Kentenich impliziert Spranger allerdings keinen göttlichen Heilsplan für jeden Menschen. Er verfolgt eine rein sozialwissenschaftliche Perspektive auf die Verwirklichung bestimmter Lebensformen, die er beschreibt.

[141] Vgl. J. Kentenich, Das Lebensgeheimnis Schönstatts, 1952 (II), in: King, Durchblick 1 1998, S. 230.

[142] So drückt es etwa das Liebesgebot in Dtn 6,5f aus: „Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft. Diese Worte, auf die ich dich heute verpflichte, sollen auf deinem Herzen geschrieben stehen.“

[143] Vgl. auch 2 Kor 6,16: Hier wird der Tempel als Ort des Bundesgeschehens neu aufgefasst. Der Mensch ist von nun an der Tempel Gottes.

[144] S. auch Frömbgen, Bündnispädagogik 1996, S. 50.

[145] J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 390.

[146] J. Kentenich, Vortrag vom 20.1.1967, zit.n. King, Durchblick 1 1998, S. 449, Hervorhebung im Original.

[147] Vgl. z.B.Kentenich,Neue Menschen 1971, S. 40: Dort unterscheidetKentenich drei menschliche Sphären: Tier, Engel und Gotteskind bzw. Triebmenschen, Geistesmenschen und Gottesmenschen. Diese stehen für Leib/Seele (als eine zusammengefasst), Geist und Gnade im Menschen.
[148] J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 457.


3.4 Kentenichs Zielvorstellung: Der neue Mensch in der neuen Gemeinschaft

Für Kentenich ist das Ziel der pädagogischen Arbeit in der Schönstatt-Bewegung das „Ideal des neuen Menschen in der neuen Gemeinschaft“. [151] Dieses Idealbild stellt dabei gleichzeitig eine Gegenbewegung dar zu problematischen Tendenzen, die Kentenich in

der Moderne erkennt und die vom neuen Menschen mithilfe des Persönlichen Ideals überwunden werden sollen. Die folgenden  Ausführungen binden daher das P.I. in einen größeren gesellschaftlichen und (heils-)geschichtlichen Kontext ein, ausgehend von einer Zeitanalyse Kentenichs.

3.4.1 Mensch und Masse

Wie bereits in Abschnitt 2.2.2 dargelegt, redet Kentenich in seiner Antrittsrede als junger Spiritual bereits davon, dass „unsere Zeit so erschrecklich innerlich arm und leer“ sei. [152]

In den Errungenschaften der Moderne sieht er eine Herausforderung, da sie eine neue geistige Reife erfordern. Den geistigen Notstand der Zeit benennt er später mit dem Begriff „mechanistisches“ bzw. „separatistisches Denken“. [153]

Dies ist das Gegenteil des organischen Denkens, also eine Entfremdung von Wahrnehmung, Fühlen und Denken („Zerstückelung“). Kentenich erkennt Symptome des mechanistischen Denkens auf zwischenmenschlicher Ebene, die er mit den Begriffen „Massenmenschentum“ und „Kollektivismus“ fasst. Entscheidend hierfür ist seiner Ansicht nach der Wandel, den die Industrialisierung in Arbeitswelt und Gesellschaft angestoßen hat: [154]

Es werden durch äußere Bedingungen immer mehr Menschen auf einem Raum zusammengebracht, sodass die Ausbildung persönlicher Bindungen immer schwerer wird. Arbeitsprozesse werden in immer kleinere Schritte aufgeteilt, sodass der Mensch nur noch in seiner Funktion, d.h. als austauschbar wahrgenommen wird, nicht mehr als einmalige Person.
„Das Individuum wird auf der ganzen Linie immer mehr entpersönlicht.“[155]

Diese Tendenz zur „Vermassung“ identifiziert Kentenich gerade auch im Bereich der Bildung. Im Zusammenhang mit der Internatserziehung spricht er unter anderem von der „Anstaltsmaschine“ sowie von der „Verkrüppelung kraftvoller Charaktere“; [156] in einem Vortrag zur Jugenderziehung sogar von „Gleichschaltung“. [157] Diese Erziehung führt dazu, dass der Mensch keine Fähigkeit mehr entwickelt, seine Überzeugungen gegen Widerstände durchzusetzen.[158] Er versteckt seine Persönlichkeit hinter Meinungen, die nicht seine eigenen sind, wie hinter einer Maske.

[159] Ferner bringt der Massenmensch es nicht mehr fertig Gefühle zu zeigen und sich emotional zu binden; weder an Menschen – er ist unfähig zu tiefen Beziehungen – noch an Ideale, was ihn unfähig macht, individuelle Entscheidungen zu treffen.

Die Rationalisierung von Arbeitsprozessen führt zudem dazu, dass berufliches Wissen und Fachwissenschaften isoliert sind vom Lebensalltag. Jeder lernt nur noch für sein Fach. [160]

Durch automatisierte Produktionsmechanismen kann der Mensch keine Beziehung zwischen Rohstoff und Produkt mehr herstellen. In Kontakt mit dem Ursprünglichen und Natürlichen kommt er nur über Vermittlung durch die Technik. [161]

Dadurch verkümmern seine Gestaltungskräfte. [162] Gleichzeitig wird er anfällig für die Suggestion von Lebenswelten in Medien und Technik, deren Reize zu verarbeiten er nicht mehr fähig ist. Daher bezeichnet Kentenich den Massenmenschen auch als „Filmmenschen“.[163 ]

Die zunehmende Technisierung und Funktionalisierung vermittelt den Eindruck, das Leben sei bis ins Letzte rational steuerbar. So geht auch das Gefühl der Abhängigkeit von einem Übernatürlichen verloren, weshalb der moderne Mensch auch keine echte Religiosität mehr kennt. Als Ersatz flüchtet sich die Seele in Süchte. [164]

Kentenich bezeichnet bringt die Situation auch mit dem Ausdruck „vollendete Entwurzelung, vollendete Heimatlosigkeit“ auf den Punkt. [165]

Folgende Beschreibung stellt einen Bezug zu dem her, was oben über das Persönliche Ideal gesagt wurde:

„Akt steht neben Akt, ohne daß die Akte eine Mentalität schaffen, ohne daß die Akte

aus einer Mentalität, aus einer Haltung herausfließen. Das ist das Sonderbare. Es ist

fast ein Geheimnis. Sehen Sie: Beim modernen Menschen haben die Akte ‚unterirdisch‘

keine Fühlung miteinander, sie wachsen nicht aus einer Wurzel, aus einem

Persönlichkeitskern. So kann man sich auch die Diskontinuität des Denkens, des

Empfindens, des Wollens erklären. Ein SS-Mann zum Beispiel, der viele Menschen

niedergeknallt hat, dreht sich um und ‚umarmt die ganze Welt‘. Seine Handlungen

wachsen nicht aus einem (gemeinsamen) ‚Boden‘ heraus.“[166]

Bestimmte Aspekte, die Kentenich beschreibt, lassen sich heute gut nachvollziehen. Sie gehören zu typischen Erfahrungen in unserer Kultur. Dazu gehört es etwa, wenn ich genau das Gegenteil von dem tue, was meiner Gefühlswelt entspricht; z.B. wenn ich den Impuls zu weinen unterdrücke. Bei aller Beobachtungsgabe darf man Kentenich getrost unterstellen, dass er stark überspitzt formuliert.

Den Massenmenschen, wie Kentenich ihn beschreibt, gibt es vielleicht nicht. Er ist ein überzeichnetes Extrembild, das sich aus typischen Tendenzen zusammensetzt. Doch eine solche Beschreibung ist für Kentenich eigentlich nur eine Kontrastfolie, durch die er besonders deutlich machen kann, was den neuen Menschen auszeichnet. Dies sollte man generell im Hinterkopf behalten, wenn Kentenich die moderne Gesellschaft charakterisiert, weil sonst die Gefahr besteht, in ein Schwarzweiß-Denken zu verfallen.


[149] J. Kentenich, Philosophie der Erziehung, 1959, zit n. Gerber, Berufen 2008, S. 236.

][150] J. Kentenich: „Die Gaben des Heiligen Geistes durchdringen unsere Natur bis in letzte Zusammenhänge.“ (Priesterexerzitien, November 1967, zit. n. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 112)

[151] Kentenich, Philosophy of education 1971, S. 134.

[152] J. Kentenich, Antrittsvortrag vom 27.10.1912, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 63.

[153] Vgl. Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 95.

[154] S. auch Schlosser, Person 2001, S. 97.

[155] J. Kentenich, Vortrrag, 3.12.1965, zit. n. ebd., S. 139.

[156] J. Kentenich, Missionsverein und Missionsfeste im Studienheim Schönstatt, 1912/13, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 104.

[157] Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 141.

[158] “Wer von diesen Herden-, diesen Massenmenschen hat noch eine eigene feste Überzeugung, wer ein starkes Rückgrat, einen unbezwingbaren Willen, der zielbewußt nach seiner Überzeugung und nur nach seiner Überzeugung handelt.“ (J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 114)

[159] S. auch King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 98.

[160] S. auch Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 117.

[161] Dies kann man sich anhand der Funktion von Fernsehwerbung vor Augen führen. Hier soll der Zusammenhang mit Natur und Handwerk wieder hergestellt werden. Anstatt dem abgepackten Produkt werden dann saftige Weiden oder frisch gemolkene Milch gezeigt; Getreidekörner oder frisch geröstete Kaffeebohnen rieseln aus einem Jutesack etc.

[162] Vgl. Schlosser, Neuer Mensch 1971, S. 93.

[163]Vgl. Schulz, Identitätsbildung 1995, S. 58.


3.4.2 Der neue Mensch

Die Idee des neuen Menschen taucht schon in den frühen Vorträgen Kentenichs auf; zwar noch nicht explizit, ist jedoch aber gemeint, wenn Kentenich sagt:

„wir dürfen nicht lediglich Abklatsch eines Vorbildes, wir dürfen nicht Kopie, sondern jeder von uns muss

ein Original sein.“ [167]

Eine spätere Definition lautet:

„Der neue Mensch ist die eigenständige, die beseelte, die entscheidungsfreudige

und -willige, die selbstverantwortliche und innerlich freie Persönlichkeit, die sich

gleichermaßen fernhält von starrer Formversklavung und bindungsloser Willkür.“ [168]


[164] Vgl. Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 150. Kentenich nennt hier „Trinken, Rauchen, Filmbesuch, Radio“. Gewiss würde er heute die Liste um noch neuere Medien erweitern.

[165] Kentenich, Grundriß 1971, S. 158.

[166] Ebd., S. 158f.

[167] J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 92.

[168] Kentenich, Philosophy of education 1971, S. 134, Hervorhebung im Original.


Er ist somit das genaue Gegenteil des Massenmenschen, aus dessen Dasein er heraustreten muss. Seine Handlungen sind nicht willkürlich (wie im obigen Beispiel des SS-Mannes), sondern kommen alle aus einer relativ unveränderlichen Grundhaltung im Persönlichkeitskern.

[169] Dafür verwendet Kentenich das Adjektiv „geistbeseelt“. Eine weitere Eigenschaft, die den neuen Menschen beschreibt, ist „urwüchsig-naturwüchsig“. Dieser schwer zu umschreibende Begriff meint eine Rustikalität und Bodenhaftung gegenüber dem Technisch-Rationalen. Kentenich nennt Menschen, die auf dem Land aufgewachsen sind, als Beispiel.

„Sie können manchmal im Gemeinschaftsleben störend wirken und sind trotzdem ein

großer Segen für die Gemeinschaft. Man sagt auch, diese Menschen seien dickköpfig.

Sie sind eben der Suggestion nicht so leicht ausgesetzt.“[170]

Kentenich sieht es als positiv für die persönliche Entwicklung an, wenn jemand „auch den Mut hat, einmal gegen den Strom zu schwimmen.“[171]
Die obige Definition führt auch das Fernhalten von Formversklavung an. Das ist die Unabhängigkeit gegenüber Beeinflussung durch reine Äußerlichkeiten bis hin zu einer Freiheit von allen äußeren Zwängen, wie Kentenich sie selbst im KZ vorgelebt hat (vgl. Abschnitt 2.3).
Die Freiheit darf jedoch nicht einfach als eine äußere Wahlfreiheit gesehen werden. Sonst läuft sie Gefahr zur bindungslosenWillkür zu werden. Der Mensch gelangt gerade dadurch von der Unbestimmtheit zur Freiheit, indem er sich freiwillig für Ideale entscheidet, an die er sich bindet. [172]

Mit der Rede von der Erneuerung des Menschen knüpft Kentenich an ein Motiv der paulinischen Theologie an.[173] Darin liegt für ihn zugleich eine erneuernde Kraft für Gesellschaft undWelt. Kentenich betont, dass bei Paulus der „Gottmensch im Mittelpunkt der Weltgeschichte“ steht.[174]

Auftrag des neuen Menschen ist es, zum Mitgestalter am Weltgeschehen zu werden. Dazu muss er seine kreativen Fähigkeiten entdecken und in ihnen den ganz persönlichen, von Gott geschenkten Auftrag finden und annehmen.[175]

Das geschichtsgestaltende Handeln soll nach Joseph Kentenich von Kontinuität geprägt sein, es muss einerseits auf die Zukunft ausgerichtet sein, andererseits darf es auch nicht die Verbindung zur „Wurzel“ abschneiden. Gerade das Bekenntnis zur eigenen Tradition ermöglicht ihre fruchtbare Nutzung für die Zukunft. [176]


[169] Vgl. Schlosser, Neuer Mensch 1971, S. 69.

[170] J. Kentenich, Kindsein vor Gott, 1937, zit. n. King, Durchblick 1 1998, S. 229.

[171] J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 424.

[172] Nach Schlosser „versteht Pater Kentenich diesen Prozeß der Freiheitsverwirklichung als einen Übergang aus der Offenheit und Unbestimmtheit der menschlichen Person zu einer freien Grundentscheidung, die im Laufe des Lebens durch die konkreten, von der Grundentscheidung bestimmten Einzelentscheidungen Gestalt annimmt in einer Grundhaltung.“ (Schlosser, Neuer Mensch 1971, S. 75)

[173] Vgl. Eph 4,21-24: „Ihr habt doch von ihm gehört und seid unterrichtet worden in der Wahrheit, die Jesus ist. Legt den alten Menschen ab, der in Verblendung und Begierde zugrunde geht, ändert euer früheres Leben und erneuert euren Geist und Sinn! Zieht den neuen Menschen an, der nach dem Bild Gottes geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit.“ Vgl. Kol 3,10.

[174] J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 390.

[175] Das Adjektiv priesterlich aus Kentnichs Forderung nach Selbsterziehung zu festen, freien priesterlichen Charakteren (vgl. Abschnitt 2.2.1) verweist auch auf diese Sendung. Auch wenn dieWorte an angehende Priester gerichtet sind, können sie auch im Sinne des gemeinsamen Priestertums der Gläubigen aufgefast werden (vgl. LG 10).

[176] Vgl. Schlosser, Neuer Mensch 1971, S. 98.


3.4.3 Die neue Gemeinschaft: Bedeutsamkeit von Bindungen

Die Sendung des neuen Menschen ist nach dem Bild vom mystischen Leib Christi und den vielen Gliedern (1 Kor 12) in die Sendung der Kirche eingebunden. Nach Kentenich hat Christus die Kirche „als Antwort auf den sozialen Charakter der menschlichen Natur“ gestiftet.[177]

Der Mensch als ein soziales Wesen muss in eine Gemeinschaft hineinwachsen, damit er eine Persönlichkeit entwickeln kann.

Neuer Mensch und neue Gemeinschaft bedingen somit einander gegenseitig:

„Das Individuum wird durch die Gemeinschaft getragen, so wie es die Gemeinschaft trägt.“ [178]

Kentenich betont, dass deswegen in Schönstatt so viel Wert auf Gemeinschaftsbildung gelegt wird. Allerdings muss die Gemeinschaft

so geartet sein, dass das Individuum in ihr nicht untergeht, sondern gerade zur vollen Entfaltung seiner Individualität gelangt:

„Das Verstandeslicht zeigt uns, […] dass die weitgeöffnete und verschwenderisch

sich auswirkende Hingabe an das Du die Eigenständigkeit der Persönlichkeit erst zur

vollen Entfaltung und zur Vollreife bringt. Geschieht das nicht, so wird Gemeinschaft

zur Vermassung“. [179]

Demnach sind tiefe personale Bindungen das wirksamste Heilmittel gegen die seelische Isolation des modernen Menschen. Es kommt zu einer „gegenseitigen Lebensübertragung“.

[180] Die Liebe wird als die zentrale treibende Kraft in der menschlichen Seele angesehen. Für Kentenich ist sie „schlechthin der Grundaffekt, der Uraffekt des menschlichen Lebens, des menschlichen Seins.“ [181]

Dabei schätzt er gerade auch die triebhafte Seite der Liebe in ihrem Eigenwert, da sie die größten Impulse gibt. Allerdings kann die Liebe auch vom Weg abkommen und in selbstsüchtige Formen entarten. Das Gegenüber wird dann nur um des eigenen Selbst willen geliebt. Davon muss sie immer wieder gereinigt werden. Dies kann bis zu einem gewissen Grade geschehen durch das bewusste Setzen von Handlungsimpulsen. Vollkommen vollendete Liebe kann der Mensch von sich aus jedoch nicht erreichen, diese kann ihm nur im Glauben durch die Erfahrung von Gottes Gnade  geschenkt werden. [182]

Persönliches Ideal und gesunde Liebe entfalten sich letztendlich gleichzeitig und gegenseitig:

„Meine Natur wird vollendet, auch meine Mannesnatur, nicht primär durch Hingabe

an eine Idee, sondern durch Hingabe an eine Person. Ohne personale tiefe Gebundenheit

wird meine Natur innerlich nie genügend sinnerfüllt und ausgefüllt. Und

tatsächlich, nach der Richtung sind wir doch im großen und ganzen Hungerkünstler

geblieben.“ [183]

Nach Kentenich ist das Handeln eines Menschen, der sein Persönliches Ideal verwirklicht hat, so von Liebe getragen, dass er keine bewusste Willensanstrengungen mehr aufbringen muss.

„Sehen Sie, da habe nicht bloß ich das Ideal, da hat mich das Ideal. Da kann ich sagen: Caritas urget me.“ [184]

An anderer Stelle betont er: „Das P.I. besitzt die Wirkkraft einer großen originellen Liebe.“ [185]

Den neuen Menschen charakterisiert er auch als „liebebeseelt“. [186]

Die menschlichen Bindungen haben einen weiteren Sinn darin, dass sie die seelischen Voraussetzungen schaffen für das Ausprägen einer persönlichen Gottesbeziehung. Die Liebe zu Gott kann nur in der Liebe zu Menschen gelernt werden. Gleiches gilt für alle Emotionen, die den Glauben lebendig machen. [187]

Gerber schreibt: „Immanente Bindungen sollen zum Symbol für die Beziehung zwischen Gott und Mensch werden.“ [188] Das heißt

auch: Die neue Gemeinschaft gelangt erst zur Vollendung, wenn sie als Gemeinschaft mit Gott gelebt wird. Ein Ausdruck bzw. eine Vollzugsform dessen ist in Schönstatt das Liebesbündnis, in dem die göttliche Heilszusage der Bibel individuell konkret wird.

Diese Perspektive wird in der Pädagogik Schönstatts unter den Leitsternen Bindungs- und Bündnispädagogik gefasst und weiter entfaltet.


[177] Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 112.

[178] Ebd.

[179] J. Kentenich, Maria – Mutter und Erzieherin, 1954, zit. n. Schlosser, Person 2001, S. 133f.

[180] Vgl. J. Kentenich, in: King, Mensch 1996, S. 57.

[181] J. Kentenich, Vorträge (V), 1966, zit. n. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 49.

[182] Genaugenommen unterscheidet Kentenich drei Seiten der Liebe: triebhafte Liebe (amor), Verstandes-

Liebe (dilectio) und übernatürliche Liebe (caritas). Neben der triebhaften Liebe kann auch die

Verstandes-Liebe entarten, indem diese sich auf falsche Ideale ausrichtet, hinter denen letztlich Selbstsucht

steht. Eine genauere Differenzierung ist in dieser Arbeit nicht nötig. Siehe hierfür Gerber, Berufen

2008, Abschn. 6.3.1 (S. 185-189).