Wir verschaffen uns zunächst einen kurzen Überblick über das Leben und Wirken Kentenichs sowie die Geschichte der Schönstatt-Bewegung. Dies ist jedoch nicht möglich, ohne auch auf deren entscheidende Ideen einzugehen. So ist dieser Teil bereits eine inhaltliche
Vorbereitung der weiteren Darstellung des Persönlichen Ideals. Mit dieser Darstellungsweise wird auch der didaktischen Annahme Rechnung getragen, dass man eine Idee im Kern erst dann versteht, wenn man um ihren Entstehungskontext weiß. [6]
In der jüngeren Kentenich-Forschung sind erstmals auch dessen frühe Lebensjahre verstärkt in den Blick geraten. Diese hat D. Schlickmann in ihren Arbeiten dargestellt. [7]
Darin zeigt sie, wie Kentenich durch Schlüsselerfahrungen in seiner Kindheit und Jugend zu seinem Lebensideal geführt und für sein späteres Wirken geprägt wird.
Josef Kentenich kommt 1985 als Sohn der zweiundzwanzig jährigen Katharina Kentenich auf dieWelt. Entgegen aller gesellschaftlichen Konvention kommt eine Eheschließung mit dem gut zweiundzwanzig Jahre älteren Vater Josef Koep nicht zustande.
Zur damaligen Zeit bedeutet dies eine erhebliche Stigmatisierung der Mutter und des Kindes. Trotz der schwierigen Lebenssituation geht die Mutter ein fürsorgliches Verhältnis zu ihrem unehelichen Sohn ein und weiht ihn noch vor der Geburt der Gottesmutter Maria. In den ersten Jahren wächst der vaterlose Junge im stark religiös geprägten Haus der Großmutter in Gymnich, einem ländlichen Dorf nahe Köln, auf.
Einen jähen Einschnitt erfährt dieses wohlbehütete Leben, als die Verhältnisse die Mutter zwingen, eine Arbeitsstelle in Köln anzutreten.
Auf Anraten ihres Beichtvaters, Pfarrer Savels, gibt sie den achtjährigen Sohn in das von diesem gegründete und von Dominikanerinnen geführte Waisenhaus St. Vincenz in Oberhausen im Ruhrgbiet. In dieser Situation kommt es zu einem Ereignis, das „einen tiefen nachhaltigen Eindruck in der Psyche Kentenichs hinterließ“ [8]:
Die Mutter bringt den Jungen in die Kapelle des Waisenhauses und vertraut seine weitere Erziehung der Gottesmutter Maria an. [9] Kentenich vollzieht diesen Vorgang offensichtlich innerlich intensiv mit.[10] Die Zeit in Oberhausen ist für Kentenich sehr schwer. Als einer unter etwa dreihundert Zöglingen erfährt er eine weitgehend unpersönliche Fürsorge. Die Erziehung ist geprägt von Uniformierung und Disziplinierung, wie es zu wilhelminischer Zeit typisch ist.[11] Der einzelne Mensch geht in der Masse unter.
Bereits früh reift in Kentenich ein pädagogisches Urteilsvermögen, es regt sich innerer Widerspruch gegenüber den Verhältnissen:[12] zweimal flüchtet er aus dem Waisenhaus.
Er scheint bereits als Junge darin eine Gabe zu besitzen, das Leben zu beobachten, über sich selbst und andere zu reflektieren.[13] Bald entdeckt er seine Berufung zum Priestertum und eröffnet dies im Alter von elf Jahren seiner Mutter. Sie ist lange Zeit nicht damit
einverstanden. Kentenich schlägt den Weg gegen ihren Willen ein und nimmt von nun an nach demUrteil Schlickmanns „sein Bildungsschicksal selbst aktiv in die Hand“.[14] Im Jahr 1899, im Alter von dreizehn Jahren, wird Kentenich von Pfarrer Savels zum Pallottiner-Kolleg in Ehrenbreitstein bei Koblenz gebracht, wo er seine Schulzeit abschließt. Wo er seine weitere schulische sowie die theologische Ausbildung erhält.[15] Danach beginnt er das Theologiestudium im Missionshaus der Pallottiner in Limburg.[16]
[6] Vgl. auch King, Mensch 1996, S. 63:
Wer seine [d.h. Kentenichs] innere Biographie studiert, wird finden, dass viele seiner Themen und Ansätze in einem hohen Maße auch Aussagen über ihn selbst sind. Er hat ein Leben lang letztlich über sich selbst geredet.“
[7]Vgl. Schlickmann, Die verborgenen Jahre. Pater Josef Kentenich. Kindheit und Jugend (1885 – 1910).
Vallendar 2007 sowie Schlickmann, Freiheit 1995. Für den folgenden Überblick ist es ausreichend, wenn
ich auf die kürzere letztgenannte Darstellung zurückgreife.
[8]Ebd., S. 199.
[9]„Erziehe du mein Kind! Sei du ihm ganz Mutter! Erfülle du für mich die Mutterpflichten!“ Diese Worte
der Mutter gibt Kentenich in einem späteren Vortrag wider, ohne den autobiographischen Bezug zu
nennen. (J. Kentenich, Maivorträge, 1914 zit. n. Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 229f)
[10]Schlickmann, Freiheit 1995, S. 199.
[11]Vgl. ebd., S. 190ff.
[12]Vgl. etwa Kentenichs spätere Aussage: „Von Beginn an habe ich immer beobachtet, was eigentlich
Erziehung ist und wie vielfach … erzogen wird. Und ich sagte mir: Das alles muss anders sein, das muss
man so und so machen. Das muss so und so sein.“ (J. Kentenich, Vortrag 27.2.1950, zit. n. ebd., S. 201)
[13]Vgl. ebd., S. 175.
[14]Ebd., S. 197f.
[15]Die Aufnahme in einem Priesterseminar war unehelichen Kindern zu dieser Zeit verwehrt.
[16]Die Ordensgemeinschaft der Pallottiner wurde 1935 vom Hl. Vinzenz Pallotti in Rom gegründet. Um
die Jahrhundertwende waren sie insbesondere in der Mission tätig. Die deutschen Pallottiner waren vor
allem mit der Mission der deutschen Kolonien in Kamerun betraut worden. (Vgl. pallottiner.org)
2.1.2 Studium und Wahrheitssuche
Das Ehrenbreitsteiner Kolleg zeichnet sich durch besonders strenge Studienbedingungen und hohe Anforderungen aus. Kentenich, der sich bereits auf der Gymnicher Volksschule und im Waisenhaus als besonders fleißiger Schüler hervorgetan hat, ist auch hier einer der Besten und kann sogar eine Klasse überspringen.[17] Es gibt Berichte über einen aufsehenerregenden Vorfall, wie er als Student in einer theologischen Diskussion mit seinem Professor sachlich überlegen ist und diesen damit bloßstellt.[18] Schlickmann identifiziert dies als einen Charakterzug bei Kentenich von Kindheit an, die Dinge zu hinterfragenund nach der Wahrheit zu forschen.[19] Dieser Drang, eine objektiv letztgültige Wahrheit ergründen zu wollen, steigert sich im Laufe des Studiums zunehmend zu einem ungesunden „Wahrheitsfanatismus“[20], der den jungen Mann in tiefe existenzielle Zweifel stürzt.
[17]Vgl. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 209f.
[18]Der besagte Professor hatte zuletzt nur noch mit seiner eigenen Autorität argumentiert, worauf Kentenich
mit dem Axiom entgegnete: „Was ohne Beweise vorgetragen wird, dem kann ohne weiteres widersprochen
werden.“ (Zit. n. ebd., S. 235)
[19]Vgl. ebd., S. 175.
[20]Dieser Ausdruck stammt von Kentenich selbst. S. ebd., S. 240
Er ist zerrissen zwischen der neuscholastischen, apologetisch ausgerichteten Theologie einerseits und einer kritisch denkenden neuzeitlichen Philosophie andererseits, die zunehmend traditionelle Werte infrage stellt. Seine Wahrheitssuche kann keinen Ruhepunkt mehr finden und wird immer rastloser. Hinzu kommt eine zeitgenössische Spiritualität, welche den Menschen ganz auf das Geistige, auf eine jenseitige Wirklichkeit ausrichten will, während sie die sinnliche Erfahrung und den Leib als etwas Schlechtes ansieht, das abgetötet werden muss. Kentenich wird seine Situation später so charakterisieren:
„Gerade wegen der Lösung meines Geistes und meiner Seele vom Erdenhaften, vom echt Menschlichen, vom Diesseitigen, wurde der ganze Mensch von einem totalen Skeptizismus, von einem überspitzten Idealismus21, von einem zersetzenden Individualismus und von einem einseitigen Supernaturalismus innerlich zerquält und hin- und hergeworfen.“[22] Ohne seelische Bezugspersonen und ohne echte menschliche Beziehungen geht Kentenich durch eine tiefe innere Einsamkeit.[23] Auch gesundheitlich ist sein Zustand kritisch. Er leidet an Tuberkulose.[24]
Schließlich steht sein ganzer Lebensentwurf auf dem Spiel. Seine gesundheitliche und seelische Verfassung zusammen mit einer Haltung, die auf die Dozenten besserwisserisch und hochmütig wirkt, lassen unter den Ordensoberen Zweifel an seiner Eignung zum Priesterberuf aufkommen. 1909 fällt die Abstimmung im Provinzrat gegen seine Zulassung zur ewigen Profess aus. Pater Kolb, ein Mitglied des damaligen Provinzrates, erzählt, Kentenich habe, als er mit diesem Ergebnis konfrontiert wurde, ganz ruhig bloß mit den Worten „Gottes Fügung“ reagiert.[25 ]
Mit dieser für P. Kolb so überraschenden Antwort lässt Kentenich bereits einen inneren Aufbruch erkennen, der ihn schließlich die Krise durchstehen lässt. Obwohl sein Lebensweg kurz vor dem Abgrund steht und er sich angesichts dessen rational nicht mehr orientieren kann, glaubt er weiter an die Führung Gottes und legt damit sein Schicksal in dessen Hände. Eine entscheidende Stütze für diesen „Todessprung des Verstandes“[26] ist seine Bindung an Maria, die ihm seine Mutter mit auf denWeg gegeben hat. Schlickmann schreibt: „In der Einsicht, dass der Verstand nicht in der Lage ist, dem Menschen die letzte Sicherheit im Erkennen zu garantieren, greift J. Kentenich auf eine seelische Erfahrung zurück, die ihm Geborgenheit vermittelt hatte: seine Marienweihe.“[27]
In seiner Beziehung zu Maria erfährt er in seinem Glauben eine neue Lebendigkeit.[28] Als Folge gibt er seine einseitige Fixierung auf Ideen und das Denken auf, zugunsten eines Wirklichkeitsverständnisses, welches das Gefühl integriert. Dieser neue „organische“ Ansatz [29] wird später in Abschnitt 3.2 noch ausführlicher dargestellt. Schlussendlich wird dieser sein gesamtes pastorales und pädagogisches Handeln durchdringen. Hierzu erhält Kentenich dann doch noch die Möglichkeit, denn auf Anregung von P. Kolb ist der Provinzrat bereit, ein weiteres Mal über den Fall zu beraten, was normalerweise nicht möglich ist. Diesmal spricht sich eine Mehrheit für die Zulassung zur ewigen Profess aus. 30 1910 wird Kentenich zum Priester geweiht. Der Beginn seiner seelsorglichen Tätigkeit und der daraus resultierende neue Kontakt mit menschlicher Lebenswirklichkeit markiert das Ende seiner Jugendkrise, wie er 1952 in einem Vortrag ausführt: „Nach Abschluss der Studien tauchte der Geist kraft der neuen Aufgabe als Lehrer und Erzieher tief in das Leben hinein.“[31]
[21]Gemeint ist hier nicht die Aneignung einer speziellen philosophischen Richtung, sondern eine einseitige
Fixierung auf Ideen. King verwendet hier stattdessen den Begriff „Idee-ismus“ vgl. King, Mensch 1996,17. (Anm. A.S.)
[22]Zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 240.
[23]Kentenich deutet dies später als seinen „Wüstenweg“, der in ihm die nötige Unabhängigkeit für das spätere
Wirken heranreifen ließ. (Vgl. ebd., S. 239). Hier gibt es Anklänge an berühmte Glaubensbiographien,
etwa an die Wüstenzeiten des Propheten Elija (1Kön 19,3-14), Jesu (Mk 1,12parr) oder des heiligen
Antonius.
[24]King identifiziert bei ihm auch eine körperliche Schwäche mit „psychogener Ursache“; King, Mensch
1996, S. 31
[25]Vgl. Monnerjahn, Kentenich 1975, S. 54.
[26]J. Kentenich zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 243.
[27] Ebd., S. 242.
2.2 Josef Kentenich entwickelt seine Pädagogik
Zunächst wird Pater Kentenich Lehrer für Deutsch und Latein am Ehrenbreitsteiner Kolleg der Pallotiner. Bereits hier fällt er den Schülern durch seinen für die damalige Zeit ungewohnt schülerzentrierten Unterrichtsstil auf.[32] Den für sein weiteres Wirken entscheidenden Schritt macht er mit sechsundzwanzig Jahren, als er von P. Kolb und dem Provinzrat an das erst vor kurzem eröffnete Studienheim in Vallendar-Schönstatt gebeten wird. Dort soll er als Spiritual tätig sein, seine Aufgaben sind also „das geistliche Wohl der Bewohner des Hauses, die eigentliche Seelenleitung“[33] sowie die Beichte.
Die Atmosphäre im Studienheim ist angespannt, wie er selbst später erzählt: „Es war Oktober 1912. Herbststürme durchbrausten nicht nur die Natur, sondern auch die Studienanstalt. Eine öffentliche Gehorsamskrise, eine Revolution war unter den Schülern ausgebrochen.“[34]
Der Unmut der Schüler richtet sich gegen die strikte Regulierung des Alltags durch die Statuten (d.h. die Haus- und Studienregeln) sowie die als viel zu streng empfundenen Strafen.[35]
Der Konflikt spiegelt gleichzeitig die Verfassung des damaligen Erziehungswesens wider. [28]„Die Seele wurde während dieser Jahre einigermaßen im Gleichgewicht gehalten durch eine persönliche, tiefe Marienliebe.“ (J. Kentenich, Zur Studie Gründer und Gründung, o.J., zit. n. King, Mensch 1996,49)
[29]Wie Kentenich ihn bezeichnet; vgl. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 245.
[30]Vgl. ebd., S. 236.
[31]Zit. n. ebd., S. 245.
[32]Der Schüler Ferdinand Kastner berichtet über die Unterrichtsstunden: „Sie sind unvergeßlich geblieben
und haben den einen oder anderen für das ganze spätere Leben entscheidend geformt. Sie waren nicht
Unterricht und Drill im vielfach gewohnten Sinne, sondern eine umfassende Mobilmachung aller geistigen
und sittlichen Kräfte des einzelnen und der ganzen Klassengemeinschaft in einem freien, edlen und
wohldisziplinierten Wettbewerb des Geistes.“ (Zit n. Monnerjahn, Kentenich 1975, S. 60)
[33]Aus den Normen für die Leitung des Studienheimes; zit. n. Schlickmann, Herbststürme 2012, S. 39.
[34]Zit. n. ebd., S. 35.
[35]Wie verhärtet die Fronten waren, wird deutlich, wenn man sich zu Augen führt, dass der vorige Spiritual P. Panzer, der ja eigentlich Vertrauensperson der Schüler sein sollte, selbst viele Prügelstrafen ausgesprochen hatte. Die Primaner hatten bereits geschlossen damit gedroht, das Studienheim zu verlassen. Vgl. ebd., S. 33ff
Die typische Pädagogik des wilhelminischen Kaiserreiches zielt auf Unterordnung unter Autoritäten, auf militärartigen Drill und Zwang zu Uniformität. Gleichzeitig formiert sich um die Jahrhundertwende eine Reformpädagogik, welche die gängige Pädagogik als „alte Schule“ brandmarkt und überwinden will.[36]
Kentenich hat als Junge im Waisenhaus den Erziehungsstil der „alten Schule“ selbst erfahren; er hat ähnliche Konflikte in seinem Inneren ausgetragen (s.o. 2.1.1). Seine biographische Erfahrung befähigt ihn dazu, sich in besondererWeise seelisch in die Schüler einzufühlen. Diese Sensibilität – sowohl für sich selbst als auch für seine Umgebung – ist seine große Stärke. Schlickmann schreibt hierzu:
„Die Zeichen, die er als Wegweiser zu einer neuen Pädagogik wahrnahm, kamen
für ihn aus seiner eigenen Persönlichkeitsstruktur und Biografie, sodann aus der
Seelengestimmtheit der revoltierenden Jugend wie auch aus den Stimmen der Zeit.“[37]
Zu seinem Amtsantritt hält Kentenich am 27. Oktober einen Vortrag, den er mit „Programm“
betitelt und in welchem er den Schülern seine pädagogische Grundrichtung darlegt.
Hier wird bereits Vieles von dem angedeutet, was in der Zukunft noch weiter entfaltet
werden wird. Daher ist die Ansprache auch unter der Bezeichnung „Vorgründungsurkunde“
in die Geschichte der Schönstatt-Bewegung eingegangen. Der Tonfall offenbart eine
starke Solidarisierung mit den Schülern sowie eine beeindruckende revolutionäre Kraft.
Daher lohnt ein Blick in den Text. Jedoch können wir hier nur auf einige ausgewählte
Passagen eingehen. Für den interessierten Leser ist der Text in Anhang I abgedruckt.
2.2.1 Selbsterziehung – seine Antwort auf die Situation vor Ort
Die in der Rückschau zugesprochene programmatische Bedeutung des Antrittsvortrags darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser in eine konkrete Situation und Zeit spricht, in die er sich ganz einfühlt. Kentenich baut bereits mit den ersten Sätzen eine große Nähe zu den Schülern auf.[38] Daraufhin verdeutlicht er, dass er in seiner Beauftragung zum Spiritual die Fügung Gottes erkennt, und stellt sich ganz in den Dienst der Schüler.[39]
Ins Zentrum seiner Rede stellt Kentenich den Aufruf:
„Wir wollen lernen, uns unter dem Schutze Mariens zu erziehen zu festen, freien priesterlichen Charakteren“[40]
[36]Vgl. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 55.
[37]Schlickmann, Herbststürme 2012, S. 187.
[38]Er baut in seine Rede spaßhaft einen Genitivus objectivus ein, weil ein Schüler Kentenich vor der Stunde
um die Behandlung des entsprechenden Grammatikparagraphen gebeten hatte. (Vgl. Schlickmann,
Freiheit 1995, S. 61)
[39]„Ich stelle mich euch hiermit vollständig zur Verfügung mit allem, was ich bin und habe: meinWissen und
Nichtwissen, mein Können und Nichtkönnen, vor allem aber mein Herz.“ J. Kentenich, Antrittsvortrag,
1912, zit. n. ebd.
[40]J. Kentenich ebd.
Immer wieder kommt er auf diesen Satz, auf einzelne Wendungen darin zurück, die er näher ausführt. Sie spiegeln gleichzeitig auch die wichtigen Elemente seiner Pädagogik wider: Die Wir-Formulierung hat Kentenich bewusst gewählt, um sich auf eine Stufe mit seinen Schülern zu stellen. Er betont, dass er ebenso von ihnen lernen will, wie sie von ihm.[41]
Die Bedeutung des Prädikats lernen wird von ihm noch weiter entfaltet. Für ihn ist Lernen ein natürlicher Vorgang, der nicht von Theorien, sondern vom Leben her kommt:
„Könnt ihr euch noch erinnern, wie ihr gehen gelernt habt? […] Hat da die Mutter große Reden gehalten: Sieh mal Toni oder Mariechen – so musst du es machen!?
Dann könnten wir alle noch nicht gehen. […] Nein, gehen lernt man durch Gehen, lieben durch Lieben“[42]
Die Aufgabe, sich selbst zu erziehen, bildet den Kern von Kentenichs pädagogischem Programm. Er ist die Antwort auf den pädagogischen Stil der „alten Schule“. Hier wurde „Erziehung prinzipiell als Fremderziehung verstanden“.[43] Diese bestand darin, das Verhalten des Einzelnen durch die Vorgabe von Regeln zu kontrollieren und in die gewünschte Richtung zu korrigieren. Individuelle Freiheit wurde primär als Gefahr für die Entwicklung gesehen.
Der neue Spiritual hingegen traut den Schülern zu, dass sie für ihre Entwicklung selbst verantwortlich sein können.[44]
Mit der Formulierung „unter dem Schutze Mariens“ erweitert der Kentenich die Selbsterziehung um eine geistliche Dimension. Hier ist die autobiographische Erfahrung seit seiner Marienweihe mit acht Jahren eingeflossen, dass Maria als Mutter und übernatürliche Erzieherin eine bestmögliche Entfaltung der Persönlichkeit erwirkt.[45] Diese Perspektive ist gleichzeitig sehr nah an der Situation der Schüler, die im Studienheim ohne ihre Eltern aufwachsen müssen.
Die starke Verbindung von Marienfrömmigkeit und Pädagogik wird später mit der Gründung ein wesentliches Merkmal der Schönstattbewegung bis heute.
Im Ausdruck „feste, freie priesterliche Charaktere“ steckt Kentenichs Menschenbild. Es geht hier um einen Menschen, der sich nicht von äußeren Einflüssen lenken lässt, sondern aus eigenen inneren Werten und Idealen heraus lebt, wie er an einer Stelle betont:
„Nur eines kann uns helfen, das sind unsere Grundsätze. […] Gott will keine Galeerensklaven, er will freie Ruderer haben. Mögen andere vor ihren Vorgesetzten
kriechen und dankbar sein, wenn sie getreten werden. Wir sind uns unserer Würde und Rechte wohl bewusst.“[46]
[41]Vgl. ebd., S. 62. Damit impliziert er eine gewollte Spannung zwischen der herausgehobenen Stellung des
Erziehers und der Gleichheit der Erziehungspartner. Vgl. Schlickmann, Herbststürme 2012, S. 57
[42]J. Kentenich, Antrittsvortrag, 1912, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 62.
[43]Ebd., S. 118.
[44]Damit ist Kentenich sehr nah an den reformpädagogischen Bewegungen seiner Zeit. In katholischen
Kreisenwar diesesKonzept vielfach unbekannt. Schlickmann führt an, dass hier Selbsterziehung zumeist
als krampfhafte Aszese und Selbstverleugnung verstanden wurde. (Vgl. ebd., S. 120)
[45]Vgl. Schlickmann, Herbststürme 2012, S. 156ff.
[46]J. Kentenich, Antrittsvortrag, 1912, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 65.
Diese Vorstellung impliziert bereits das Persönliche Ideal. Sie wird in Abschnitt ?? noch genauer behandelt. Bei Kentenichs Ansatz zur Lösung der angespannten Situation ist also vorrangig, dass er versucht, einen inneren Gesinnungswandel bei den Schülern zu erreichen; weniger eine Veränderung der äußeren Bedingungen. Dies lag ohnehin nicht in der Vollmacht des Spirituals.[47]
2.2.2 Selbsterziehung als Reaktion auf die Stimmen der Zeit
Für Kentenich ist die neue Pädagogik nicht nur eine Reaktion auf die damalige Erziehungspraxis, sondern auch auf den kulturellen Fortschritt seiner Zeit. „Selbsterziehung ist ein Imperativ der Zeit“, so stellt er fest.[48] Anschließend führt er im Antrittsvortrag weiter aus, welche wissenschaftlichen Errungenschaften der Mensch in den letzten Jahrzehnten geleistet hat, welche neuen Welten er erschlossen hat. Dieser immense Fortschritt ist in seinen Augen in einem entscheidenden Punkt nicht ausreichend:
„Aber eineWelt, die ewig alt ist und ewig neu bleibt, eineWelt – der Mikrokosmos, die
Welt im Kleinen, unsere eigene Innenwelt, die bleibt unbekannt und unerforscht.“[49]
Die seelische Armut der Zeit verhindert zugleich einen verantwortlichen Umgang mit dem Fortschritt. Es fehlt an „stabilisierenden Innenkräften“, die das Handeln in die richtige Richtung lenken. Sich vor dem Fortschritt zu verschließen, lehnt Kentenich jedoch ab.
Stattdessen fordert er:
„Der Grad unseres Fortschrittes in denWissenschaften muss der Grad unserer inneren
Vertiefung, unseres seelischen Wachstums sein.“[50]
Selbsterziehung ist für Kentenich insbesondere auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Seele und den seelischen Vorgängen, die er vielfach vernachlässigt sieht. Zweimal wöchentlich hält er als Spiritual den SchülernVorträge zu Themen wieVerstand, Phantasie, Leidenschaften oder Jünglingspsychologie.
[51] Wie King beschreibt, ist die Zuwendung zur Psychologie für ihn ein neues Paradigma der Theologie des 20. Jahrhunderts.[52] Damit ist er bemerkenswert aufgeschlossen für eine Zeit, in der der Antimodernismus – also auch die Ablehnung alles Subjektiven – weite Teile der Amtskirche regiert.
Das „Lesen“ in aktuellen Ereignissen, um den Willen Gottes zu erspüren, ist eine Eigenart Kentenichs, die auch die weiteren Entwicklungen vorantreiben wird.[53]
[47]Vgl. hierzu auch die Formulierung aus der Rede: „Nicht aus Furcht und Zwang beugen wir uns vor dem
Willen der Obern, sondern weil wir es so frei wollen, weil jeder Akt der vernünftigen Unterwerfung uns
innerlich frei und selbstständig macht.“ (Ebd., S. 65) Kentenich konnte dennoch eine Abschaffung der
Prügelstrafe erreichen. (Vgl. Schlickmann, Herbststürme 2012, S. 40f)
[48] J. Kentenich, Antrittsvortrag, 1912, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 62.
[49]Ebd., S. 63.
[50]Ebd., S. 64.
[51]Vgl. ebd., S. 91.
[52]„Weiterführung und Neuaktualisierung der Leistungen des Augustinus und des Thomas von Aquin und
als epochal neue Aufgabe Ergänzung durch die Psychologie. Darin bestehe die große Zeitaufgabe der
Kirche.“ (King, Mensch 1996, S. 62)
[53]Diese Haltung entspricht dem, was das Zweite Vatikanische Konzil später unter dem Begriff „Zeichen der
Zeit“ ausdrückt. GS 11: „Im Glauben daran, daß es vom Geist des Herrn geführt wird, der den Erdkreis
erfüllt, bemüht sich das Volk Gottes, in den Ereignissen, Bedürfnissen undWünschen, die es zusammen
mit den übrigen Menschen unserer Zeit teilt, zu unterscheiden, was darin wahre Zeichen der Gegenwart
oder der Absicht Gottes sind.“ (Siehe auch GS 4)
2.3 Gründung und Wachstum der Schönstattbewegung
In den folgenden Jahren verfolgt Kentenich durch Vorträge und geistliche Begleitung das Ziel, die Schüler für ihr eigenes Innenleben zu sensibilisieren und sie zur Selbsterziehung zu befähigen. Das Konzept des Persönlichen Ideals kommt hier bereits implizit zur Anwendung, obwohl der Begriff erst später gebildet wird.[54] Bereits in seinem Antrittsvortrag äußert Kentenich Pläne zur Bildung einer Marianischen Kongregation, d.h. einer organisierten Gruppierung, in der Marienverehrung gepflegt wird.[55]
Er regt unter den Schülern die Restauration einer kleinen alten Kapelle und Umgestaltung zu einer Marienkapelle an.
Kentenichs Fähigkeit „in der Zeit zu lesen“ wird daran deutlich, dass er scheinbar bedeutungslosen Ereignissen ein großes Potential beimisst. Aus einem kleinen Absatz in einem Zeitungsartikel erfährt er, wie in Valle di Pompei in Süditalien der Rechtsanwalt Bartolo Longo mit dem Wiederaufbau einer kleinen Kirche in kürzester Zeit eine Wallfahrtsbewegung dorthin in Gang gebracht hat.
Eine solche Entwicklung hält er auch in Schönstatt für einen möglichen Gottesplan.[56]
Der entscheidende Schritt zur Gründung geschieht, als sich im Zuge Ersten Weltkrieges die pädagogische Arbeit zunehmend erschwert:
Ältere Schüler werden in den Kriegsdienst einberufen. Am 18. Oktober 1914 hält Kentenich einen Vortrag vor seinen Schülern, der später als „Gründungsurkunde“ bezeichnet werden wird.[57] Darin stellt er die sittlich-religiösen Bemühungen jedes Einzeln in der Kriegssituation in den Kontext einer geistigen Erneuerung der Gesellschaft, die ihren Ursprung von der Kapelle in Schönstatt nehmen soll.
An diesem Tag schließen Kentenich und die Schüler ein „Liebesbündnis“, in welchem sie sich der Gottesmutter weihen.
Dies gilt als Gründungsereignis der Schönstatt-Bewegung.[58]
Motiviert durch den Vortrag nehmen Kentenichs Schüler dessen Ideen mit an die Front und beginnen das „Kapellchen“ als geistig-geistliche Heimat zu betrachten. Durch den Kontakt mit anderen Soldaten kommt es auch erstmals zu einer Außenwirkung. Neue Untergruppen der Kongregation gründen sich an der Front.
Zu dieser „Außenorganisation“ Schönstatts, wie sie genannt wird, hält Kentenich regelmäßigen Kontakt. Dies geschieht einerseits über persönliche Seelsorgebriefe. Ein wichtiges Medium ist auch die Zeitschrift „MTA“[59], die von Schönstatt aus überall an die Front verschickt wird.
Sie enthält Briefausschnitte von Soldaten, Berichte aus Schönstatt sowie Botschaften Kentenichs.[60]
In der Zeit zwischen den Weltkriegen erfahren Kentenichs Ideen eine Weiterentwicklung und -verbreitung. Dazu trägt der Diskurs mit seinen immer zahlreicheren Hörern bei.
Kentenich besitzt ein einzigartiges Talent auf seine Hörer, deren Situation und Fragen einzugehen. Seine Exerzitien für Priester sind stark frequentiert und erlangen deutschlandweit ein unvergleichliches Ansehen.[61]
Großen Anklang findet Schönstatt auch unter Lehrern und Theologiestudenten. Es gründen sich neue Gemeinschaften der Schönstattbewegung,
so zuerst 1919 der „Apostolische Bund“ durch ehemalige Soldaten, weitere folgen. Ab 1920 kommen auch Frauen in die Schönstatt-Bewegung und gründen eigene
Zweige. Aus dem „Frauenbund“ gehen 1926 die Schönstatt-Marienschwestern hervor.[62]
Kentenich setzt sich auch stark mit den Ideen des heraufziehenden Nationalsozialismus auseinander. Er kritisiert in dessen Menschenbild das Fehlen der Individualität, die Verneinung des Transzendenzbezugs, die mangelnde Kontrolle der Triebe durch die Vernunft.[63]
Seine offene Konfrontation mit dem Regime führt zu seiner Inhaftierung und Deportation ins Konzentrationslager Dachau, die Kentenich in innerer Freiheit annimmt.[64]
Unter den Häftlingen setzte Kentenich seine pastorale Tätigkeit fort und gründete vom KZ aus die Schönstätter Marienbrüder und das Familienwerk.[65]
Nach Ende des ZweitenWeltkriegs legt Kentenich den Schwerpunkt seines Wirkens auf die internationale Ausbreitung der Schönstatt-Bewegung. Bereits ab 1933 sind von Kentenich Marienschwestern nach Afrika und Lateinamerika ausgesandt worden.
Ab 1943 entstehen Kopien der Kapelle in Schönstatt, die sogenannten „Filialheiligtümer“. Die Kapelle in Schönstatt wird zum „Urheligtum“.
Ab 1947 unternimmt Kentenich ausgedehnte Reisen zu den neuentstandenen Schönstatt-Zentren in aller Welt, um Vorträge zu halten und die Bewegung in den Heimatländern stärker zu verwurzeln.[66]
[54]“…meine Tätigkeit [war] vom ersten Augenblicke vom Persönlichen Ideal bestimmt. Der Name taucht
allerdings erst später auf. Es dürfte im Jahre 1917 gewesen sein, wo ich ihn selbstständig ohne irgendwelche
Anlehnung prägte.“ (J. Kentenich, Brief vom 19.12. 1955, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S.
379) Demgegenüber weist Schlickmann daraufhin, dass der Schüler Josef Engling bereits 1915 Notizen
zu seinem Persönlichen Ideal im Tagebuch festhält. (Schlickmann, Freiheit 1995, S. 106)
[55]Vgl. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 65; marianische Kongregationen waren zu dieser Zeit in der katholischen
Jugend- und Studentenseelsorge (insbesondere durch den Einsatz der Jesuiten) weit verbreitet.
(Vgl. Schmiedl, Marianische Kongregation 1996)
[56]Vgl. Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 288; siehe auch http://urheiligtum.de/DE/01-Werden/
04-1914_-_1919/03-Schoenstatt_als_Wallfahrtsort/ – Zugriff am 27.1.2016.
[57]Text siehe ebd., S. 289-299.
[58]Vgl. Boll, Kentenich 2012, S. 338.
[59]M.T.A. bedeutet „DreimalWunderbare Mutter“ (MaterTerAdmirabilis). Dieser Titel für Maria wurde von
der MarianischenKongregation übernommen, die der Jesuitenpater JakobRemEnde des 16. Jahrhunderts
in Ingolstadt gegründet hatte. Kentenich betrachtete diese Kongregation in Vielem als Vorbild. (Vgl.
Schmiedl, Dreimal Wunderbare Mutter 1996, S. 60, Hervorhebung im Original)
[60]Vgl. Schmiedl, Geschichte 1996, S. 342.
[61]Monnerjahn belegt dies mit Zahlen: 1929 gingen 524 bei Kentenich in Exerzitien. 1930 stieg die Zahl auf
[62]Vgl. Schmiedl, Geschichte 1996, S. 342.
[63]Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 147.
[64]Eine sich bietende Möglichkeit, sich dem KZ durch eine ärztliche Feststellung seiner Lagerunfähigkeit
zu entziehen, ließ er ungenutzt.
[65]Vgl. Schmiedl, Kentenich 1996, S. 193.
[66]Vgl. Schmiedl, Geschichte 1996, S. 344.
Zu dieser Zeit nimmt eine weitere Herausforderung ihren Anfang: Das Schönstatt-Werk wird einer Prüfung durch das Kirchenamt unterzogen.[67]
Nach zwei Visitationen (1949, 1951-1953) wird befunden, dass Kentenich von seinem Werk zu trennen sei. 1951 tritt Kentenich das Exil
in Milwaukee/USA an. Nach seiner Rehabilitierung 1965 durch Papst Paul VI. kehrte Kentenich nach Schönstatt zurück. In den folgenden drei Jahren widmet sich Kentenich weiter dem Aufbau und der Beziehung zu seinem Werk. Er stirbt am 15.9.1968.
Im Jahre 1975 eröffnet der Trierer Bischof Bernhard Stein den Prozess zu seiner Seligsprechung.
Auch nach Kentenichs Tod begeistern sich viele Menschen für die Ideen Schönstatts.
2014 feiert die internationale Schönstatt-Bewegung in Vallendar schließlich ihren hundertsten Geburtstag, wo sie das Bewusstsein für ihre Sendung für Kirche, Gesellschaft und Welt erneuert. Sie beheimatet viele Initiativen und Gruppierungen, die sich für eine lebendige Kirche und Solidarität mit den Menschen einsetzen. Darunter gibt es auch einen starken Zweig der Jugendarbeit, der die erzieherischen Grundsätze Kentenichs verwirklichen will.
Zu diesem Zeitpunkt gibt es 200 Schönstatt-Heiligtümer weltweit.[68]
67Vgk. ebd.
68Siehe http://www.santuarios.schoenstatt.de/db_user/cms_db_santuarios_map1.php?
lang=de – Zugriff am 30.1.2016
2.4 Das Lebenswerk Kentenichs aus wissenschaftlicher Sicht
Bevor im nächsten Kapitel der Ansatz zum Persönlichen Ideal systematisch beleuchtet wird, sollen hier noch ein paar generelle Anmerkung über Kentenichs Werk vorgeschaltet werden. Um Kentenich wissenschaftlich einordnen zu können, ist es wichtig zu wissen, wie er seine Arbeit verstand. In der Vorgründungsurkunde stellt er bereits klar, dass Lernen für ihn mehr ist, als ein theorieorientierter Denkprozess.
So bauen auch die von ihm gewonnenen Erkenntnisse nicht nur auf wissenschaftlicher Arbeit, sondern gleichermaßen auf „erlebnismäßigen Erfahrungen“ auf.[69] Sein Vorgehen ist ein induktives, bei dem er selbsterlebte Tendenzen aus der Zeit aufgreift, um sich zu seinen Ideen leiten lassen.
Kentenich „liest“ in den Seelen der Menschen, denen er begegnet, sowie aus dem Buch des Zeitgeschehens;70 ein Vorgehen, das der Psychologe Damian Läge vom heuristischen Anspruch her mit einem qualitativen Forschungsinterview vergleicht.[71]
Gelegentlich verwendet Kentenich wissenschaftliche Termini in seinem eigenen Sinne. Er greift zum Beispiel Freuds Theorie des Unbewussten auf, sein eigener Terminus „unbewusstes Seelenleben“ berücksichtigt jedoch neben den Verdrängungsprozessen auch die schöpferischen Kräfte der Seele, die nicht vollständig auf Sublimation zurückzuführen sind.[72]
Kentenichs Beschreibungen der Seelenvorgänge lehnen sich zwar an die Wissenschaft seiner Zeit an und bewegen sich durchaus auch auf dem Niveau der wissenschaftlichen Durchdringung, jedoch steht er außerhalb des akademischen Diskurses.[73]
69Vgl. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 243.
70Vgl. Läge, Persönliches Ideal 1985, S. 37.
71Vgl. ebd., Fußnote 5.
72Vgl. Schulz, Identitätsbildung 1995, S. 55. Vgl. auch die Verwendung des Wortes Idealismus im oben
aufgeführten Zitat; siehe hierzu Fußnote 21.
73Siehe Frömbgen, Psychologie 1996, S. 329.
Selten finden sich Zitate oder direkte Verweise auf psychologischeWerke. Als Quelle sieht er die (geistliche) Begleitung von Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung an.[74]
So dürfen wir uns, wenn er von „Psychologie“ spricht, nicht die empirisch arbeitendeWissenschaft vorstellen, wie wir sie heute kennen. Man könnte bei ihm eher von einer „intuitiven“ Psychologie sprechen. In ähnlicher Weise rezipiert Kentenich auch die Pädagogik und Sozialwissenschaften seiner Zeit.
Im Zuge der Auseinandersetzung mit den Schriften des Pädagogen Eduard Spranger (1882-1963) entdeckt er, dass dieser ebenfalls einen Begriff des „Persölichen Ideals“ gebraucht.[75] Dieser ist jedoch ganz unabhängig von ihm entstanden.[76]
Da Kentenichs Wirken immer die Nähe zum Menschen suchte, hat er auch nie den Versuch einer wissenschaftlichen Gesamtdarstellung unternommen.[77]
Sein Werk setzt sich aus Dokumenten zusammen, die zu konkreten pastoralen Anlässen entstanden, etwa als Briefe, Predigten, Exerzitienkurse, Tagungsvorträge etc.[78]
Die Gedanken darin sind auf bestimmte Situationen und Personen – manchmal sehr einseitig – zugespitzt, was bei der Behandlung von Aussagen Kentenichs nicht vergessen werden darf.[79]
Die in den nächsten Abschnitten behandelten Ideen dürfen nicht als ein statisches System verstanden werden.
Sie unterlagen einer ständigen Entwicklung, die sich in der Einbindung verschiedener Aspekte zu verschiedenen Zeiten zeigt: Am Anfang stand das Konzept der marianischen Selbsterziehung gegenüber der Massenerziehung. Hieraus erwuchs bald der Gemeinschaftsaspekt.
Später wurde der Begriff des Persönlichen Ideals eingeführt. Wichtige Impulse seit den 1920er Jahren entstanden als Antwort auf den Bolschewismus in Russland und den aufkeimenden Nationalsozialismus in Deutschland. Beeinflusst haben ihn zu dieser Zeit auch die Erfolge der Tiefenpsychologie. Kentenichs Schüler waren es, die anfingen, seine Ideen und Aussagen zu systematisieren und wissenschaftlich aufzuarbeiten. So kann ich für meine Arbeit neben den Originalquellen auch auf ein breites Spektrum an Sekundärliteratur zurückgreifen.[80]
Die hier versuchte Systematisierung darf allerdings nicht über den dynamischen Charakter von Kentenichs Werk zu dessen Lebzeiten hinwegtäuschen.
Eine Systematik, die im Kern bereits auf Kentenich zurückgeht, ist die Einteilung seiner Pädagogik in die drei großen „Leitsterne“ Idealpädagogik, Bindungspädagogik und Bündnispädagogik.
[81] Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt auf der Idealpädagogik.
Da die Leitsterne miteinander zusammenhängen, ist es jedoch nicht möglich, den einen auszuschöpfen, ohne auch den anderen mitzubehandeln.
[74]Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 160. Kentenich erwähnt in einem Dokument, dass er sich mit den verschiedenen
tiefenpsychologischen Schulen seiner Zeit befasst hat, sich jedoch von ihnen abgrenzen
will: „Angeklagter weiß um die hier berührten modernen Strömungen, hat sich aber allezeit zur Genüge
davon distanziert und seine Selbstständigkeit bewahrt.“ (Kentenich, Kleine Dokumentensammlung
(Manuskript), 1963, zit. n. ebd., S. 161, Fußnote 103)
[75]Siehe Spranger, Lebensformen 1965, S. 295-306. Spranger formuliert den Begriff des Persönlichen Ideals
als Forderung nach dem „kompossiblen Maximum der Lebenswerte“: „Sei das Höchste, was du in den
Grenzen deiner persönlichen Wertfähigkeit und des sozialethisch geforderten sein darfst und sollst.“
(ebd., S. 306, Hervorhebung im Original) Sein Konzept beinhaltet jedoch keine Verwiesenheit des
Menschen auf Gott wie bei Kentenich (siehe Abschnitt 3.3). Die Forderung ist vielmehr ethisch zu
verstehen. So heißt es bei Spranger weiter: „Was aber dieses Höchste, konkret genommen sei, verkündet
jedem, sofern es nicht vom sittlichen Geiste der Gesellschaft und des über ihr errichteten idealen
Wertsystems entnommen werden kann, nur die wertprüfende Stimme in der eigenen Brust, die wir das
Gewissen nennen“. (ebd.)
[76] F. Kastner stellt hier fest, dass „keinerlei gegenseitige Beeinflussung“ vorliegt. Dennoch sieht er hierin
einen Beweis für die Aktualität der Idealerziehung im damaligen Zeitkontext. (Vgl. Kastner, Schutz
Mariens 1940, S. 144, Fußnote)
[77]Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 152.
[78]Vgl. ebd., S. 152f.
[79]Vgl. ebd., S. 153.
[80]Ein Aspekt, der in dieser Arbeit außen vor gelassen wird, ist die Frage der Überlieferung von Kentenichs
[81]Siehe King, Durchblick 5 1998, S. 14.