4 Praktische Perspektive: Der Weg zum Persönlichen Ideal

4 Praktische Perspektive: Der Weg zum Persönlichen Ideal

4.1 Erkenntnisquellen

Im vorigen Kapitel wurde dargestellt, wie sich für Kentenich das Persönliche Ideal im Menschenbild und in der christlichen Offenbarung grundlegt. Dieses Kapitel folgt einer eher praktischen Perspektive. Unter anderem werden wir folgenden Fragen nachgehen:

(1) Wie zeigt sich das Persönliche Ideal konkret im Leben? (2) Welchen Anteil hat der Bündnispartner Mensch gegenüber Gott an der Verwirklichung des P.I.s? (3)Was sind die Bedingungen und Möglichkeiten einerVerwirklichung? Den konkretestenAusdruck findet

das P.I. in einer persönlichen Formulierung, die gegen Ende dieses Kapitels vorgestellt werden soll. Die vorhergehenden Abschnitte sollen dazu hinführen. Gewissermaßen soll hier eine „Anleitung“ zum Persönlichen Ideal zusammengestellt werden, wenn auch dieser Begriff nur bedingt zutreffend ist, da es Kentenich mehr um eine reflexive Einstellung als um konkret planbare Handlungsschritte geht.

Gott spricht nach Kentenich zum Menschen auf drei verschiedene Arten: in Seinsstimmen, Zeitenstimmen und Seelenstimmen.

Der Mensch muss lernen, in den Situationen seines Lebens, diese Stimmen herauszuhören und ihrer Führung zu folgen.

Diese drei Stimmen bzw. Erkenntnisquellen verwendet Kentenich bereits in Vorgründungs- und Gründungsurkunde.

Sie sollen im Folgenden näher ausgeführt werden.

Seinsstimmen   Für Kentenich gibt es eine Seinsordnung, die der Schöpfung innewohnt, „eine universale formale und universale materiale, also eine ureigentliche göttliche Idee, die hineingebannt ist in die Seinsstruktur und die ist ewig, so wie Gott ewig ist.“ [189]

Das Handeln des Menschen soll den objektiven Seinsgesetzen folgen. [190] Die Persönlichkeit hat trotz ihrer Einmaligkeit Teil an einer allgemeinen Menschennatur. Dem menschlichen Handeln sind etwa gewisse allgemeine Handlungsregeln grundgelegt, die für jeden Menschen unabhängig von der Kultur Gültigkeit besitzen; dies findet etwa Ausdruck im zweiten Teil des Dekalogs [191] oder in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte.

Auch menschlicher Körper, Erkenntnisapparat und Seele funktionieren nach bestimmten gleichbleibenden Gesetzen, die in deren Aufbau grundgelegt sind. Kentenich weist auch auf Persönlichtkeitsmerkmale hin, die bei einer bestimmten Menschengruppe unabhängig

vom soziokulturellen Hintergrund auftreten. Er spricht hier etwa vom „Mannesideal“, „Frauenideal“, „Priesterideal“ oder „Familienideal“. [192]

Alle Seinsgesetze führen nach Kentenich letztlich auf Gottesliebe, Nächstenliebe und geordnete Selbstliebe zurück, [193] da jedes Handeln entweder die Beziehung zum Schöpfer, zum Nächsten oder zu sich selbst betrifft. [194]

Das Persönliche Ideal muss die Seinsstimmen widerspiegeln. Diese soll das Individuum im Laufe seiner Entwicklung durch Auseinandersetzung mit der Umwelt erlernen. Hier betont Kentenich auch die Aufgabe der Erziehung. Ein Scheitern diesbezüglich, also eine „Verletzung der Forderung des Seins“ in der Entwicklung, kann zu psychischen Erkrankungen führen. [195]

Kentenich nennt keine explizites Kriterien für die fehlerfreie Erkenntnis der Seinsstimmen und die Vermeidung eines „naturalistischen Fehlschlusses“.

Es liegt nahe, dass er hier der Offenbarung einen großen Wert beimisst sowie auf seine eigene pastorale Erfahrung vertraut. Auch eine „Unterscheidung der Geister“ ist möglich. Diese wird unten bei „Zeitenstimmen“ und „Seelenstimmen“ noch ausgeführt.


[183] J. Kentenich, USA-Terziat, 1952, zit. n. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 47.

[184] Die Liebe drängt mich. J. Kentenich, Oktoberwoche, 1951, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 421,

Hervorhebung und Übersetzung im Original.

[185] J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. ebd., S. 456.

[186] S. Schlosser, Neuer Mensch 1971, S. 79.

[187] Hier unterscheidet Kentenich Erfahrungen der eigenen Schwäche (aszetische Vorerlebnisse); Erfahrungen

von Reinheit, Wahrhaftigkeit und Ehrfurcht (psychologische Vorerlebnisse) sowie Erfahrungen unmittelbar

vorgelebter Ideale (experimentelle Vorerlebnisse). (Vgl. Kentenich, Grundriß 1971, S. 58f)

[188] Gerber, Berufen 2008, S. 169.

[189] Kentenich, Grundriß 1971, S. 82.

[190] Hier stützt sich Kentenich auf den scholastischen Grundsatz „Ordo essendi est ordo agendi.“ Vgl. etwa

Ebd., S. 81; Kentenich, Philosophy of education 1971, S. 131 (Frei übersetzt: „Die Ordnung des Seins

und Ordnung des Handelns sollen einander entsprechen.“)

[191] S. auch Ammann, Unterwegs 1977, S. 41.

[192] Vgl. Läge, Persönliches Ideal 1985, S. 116.

[193] vgl. Mk 12,30f parr; das Adjektiv „geordnet“ bezeichnet hier die Reinigung von selbstsüchtigen Motiven

(s.o. 3.4.3)

[194] Vgl. J. Kentenich, Allgemeine Prinzipienlehre, 1928, zit. in: Gerber, Berufen 2008, S. 230.

[195] Vgl. Läge, Persönliches Ideal 1985, S. 116.


Zeitenstimmen    In Priesterexerzitien zum Persönlichen Ideal stellt Kentenich fest:

„Die Zeit ist für uns heute eine außergewöhnliche Erkenntnisquelle für unsereAufgabe. Ich muss es nur verstehen, aus ihr Gott zu hören und zu verstehen.“ [196] Kentenich geht von einem objektiven „Geist der Zeit“ aus, einer für jede Epoche ganz spezifischen Kraft, die die das Werden der Geschichte vorantreibt. [197]

Diese „soziologische Wirkgröße“ [198] wird durch die verschiedenen großen und kleinen aktuellen Geistesströmungen und Ideenbewegungen getragen. Der Mensch muss jedoch unterscheiden zwischen gottgewolltem Geist der Zeit und negativem Zeitgeist. [199] Letzterer stimmt nicht mit der objektiven Seinsordnung überein. Kentenich vertraut bei einer solchen „Unterscheidung der Geister“ auch auf subjektive Kriterien wie Intuition und einen gewissen Wagemut. Die kirchliche Lehre kann als Orientierung von außen dienen.  [200]

Auf diese Weise ist der neue Mensch jemand, der nah am „Puls“ seiner Zeit lebt [201]. Seine Reaktion auf die Zeitenstimmen besteht sowohl im Aufgreifen von Strömungen des Geists der Zeit wie auch in der Abgrenzung zum Zeitgeist.

Das Bewusstsein, welches die Zeitenstimmen mit dem Wirken Gottes in Verbindung bringt, bezeichnet Kentenich auch als „praktischen Vorsehungsglauben“. Er ermöglicht Ausgeglichenheit zwischen den Extremen von passivem Geschehenlassen und rücksichtslosem Aktivismus. [202]

Die Weltgeschichte wird verstanden als Zusammenspiel von vielen konkreten Situationen. „Gott hat uns z.B. hineingeführt, in eine Lage, ohne unser Zutun, ohne unsere Schuld. […] Da sind jedesmal Fügungen und Führungen Gottes, durch die mir meine Aufgabe klar kundgetan wird.“ [203] In den einzelnen Situationen hat der Mensch den Auftrag, die Weltgeschichte zu gestalten. In der Gründungsurkunde Schönstatts bemerkt Kentenich mit Hinblick auf die geschichtliche Situation des Ersten Weltkrieges:

„Ich bin vielmehr der festen Überzeugung, daß jeder von uns mitkämpfen und mitsiegen

und mitraten kann im obersten Kriegsrat und mitbauen an derWeltgeschichte.

Wir sind keine überflüssigen Nummern, zu träger Untätigkeit verurteilt, sondern

wesentliche Faktoren, auf die Vieles ankommt.“ [204]

Die Grundhaltung, in jedem erlebtenAugenblick GottesAuftrag zu erkennen und nach ihm zu handeln, wird auch als „Werktagsheiligkeit“ bezeichnet. Kentenich redet auch von der „prophetischen“ Gebundenheit der Pläne Gottes an Dinge und Menschen.

Dies führt King aus: „Alles wird zum Propheten, zum Engel Gottes, durch welche Gott sich mitteilt.“ [205]

Der ganze nächste Abschnitt widmet sich den Seelenstimmen, die eine subjektive Komponente in die Erkenntnis bringen. Im Bezug auf das Persönliche Ideal sind sie die wichtigste Erkenntnisquelle. Sie hängen jedoch eng mit den Seins- und Zeitenstimmen zusammen, da diese ja auch eine Reaktion in der Seele auslösen und über diesewahrgenommenwerden können.


[196] J. Ketenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 426.

[197] Damit rezipiert Kentenich vielfach neuzeitliche Geschichtsphilosophie wie Herder, Hegel, Dilthey u.a.

(vgl. Strada, Zeitenstimmen 1996, S. 439)

[198] Ebd., S. 440.

[199] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 204.

[200] Vgl. ebd.

[201] Vgl. Strada, Zeitenstimmen 1996, S. 441.

[202] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 204.

[203] J. Ketenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 426.

[204] J. Kentenich, Gründungsurkunde Schönstatts, 18.10.1914, zit. n. Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 298.

[205] King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 109.


4.2 Seelenstimmen

Die Seelenstimmen lassen den Menschen am stärksten Gottes Plan für die eigene Persönlichkeit erkennen. Folgendes Zitat verdeutlicht, welchen Erkenntniswert Kentenich dieser Instanz zurechnet:

„Gott hat die Natur geschaffen und hat der Seele durch die ihr gegebenen Anlagen

seinenWillen gleichsam eingeschaffen. Er hat das, was er mit mir vorhat, grundgelegt

in meiner Seele.Wenn ich also aus den Grundanlagen meiner Seele und ihrer Richtung

mein Ziel erkenne, ist dieses erkannte Ziel keine willkürliche subjektiveKonstruktion,

sondern ist objektiv, weil Gottes Wille.“ [206]

An anderer Stelle spricht er von Samenkörnern, die Gott gepflanzt hat und die sich in der Seele entwickeln. [207 ] In der Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben erfährt der Mensch sich in seiner Geschöpflichkeit und Originalität als ein freies und gewolltes Wesen.

4.2.1 Sensibel werden für die Vorgänge der Seele

Bereits der Vorgründungsurkunde macht Kentenich die Schüler des Studienheims auf den „inneren Reichtum“ ihrer Persönlichkeit aufmerksam. [208] Diese wachsen in einer pädagogischen Atmosphäre auf, in der Misstrauen vor dem Seelenleben herrscht.

Dies bedeutet oft eine heftige seelische Belastung – insbesondere für die Schüler im Alter der Pubertät, in deren Innern es „wie in einem Hexenkessel“ „brodelt und gärt“, wie Kentenich bemerkt. [209]

In dieser Situation will er, dass die Schüler ein positives Verhältnis zu sich selbst entwickeln. Sie sollen lernen sich als „Mikrokosmos, eine Welt im kleinen, das Zentrum der ganzen Schöpfung“wahrzunehmen. [210] Diesen inneren Erkenntnisprozess vergleicht er mit großen wissenschaftlichen Errungenschaften der Moderne: „Ein jeder von uns muss ein Kolumbus oder ein Kopernikus seiner eigenen Innenwelt werden.“, fordert er. [211]

Kentenich spricht auch von der Seele als dem „Kampfplatz“ der Selbsterziehung. Ein erfahrener Feldherr muss vor der Schlacht, die Gegebenheiten des Schlachtfeldes auskundschaften, um sie geschickt nutzen zu können. [212] Als Orientierungshilfe dient hier dasWissen über die menschliche Seele, das Kentenich in seinen Vorträgen vermittelt (s.o. Abschnitt 3.1).

Hilfen zur Einordnung der eigenen Persönlichkeit bieten etwa die Lehre von den zwei Hauptleidenschaften (s. S. 17) oder die von den vier Temperamenten. [213]

Es erfordert Zeit, eine immer feinere Sensibilität für die eigene Seele und Persönlichkeit zu entwickeln. Es handelt sich hier um keinen durchweg rationalen Prozess, Kentenich bezeichnet ihn mitunter auch als „Tasten und Suchen“. [214] Die wesentlichen Teile des Persönlichen Ideals macht er in den unterbewussten Seelenschichten aus. Diese müssen erst ins Bewusstsein gehoben werden, um genutzt werden zu können. [215]

Welche Verbindung die Seelenvorgänge mit dem P.I. haben, macht Kentenich mit einer – wie er sie nennt –„psychologischen“ Definition [216] deutlich:

Das Persönliche Ideal ist der gottgewollte Grundzug oder die gottgewollte Grundstimmung

der begnadeten Seele, die getreulich festgehalten, in organischer, gnadenvoller

Entwicklung sich ausreift zur vollen Freiheit der Kinder Gottes.“ [217]

Wenn der Mensch in Feinfühlung mit seiner Seele ist, kann er spüren, wie der momentane Grundzug diese in eine bestimmte Richtung zieht. [218] Hierin drückt sich ihre Entelechie, das Persönliche Ideal aus. Grundzug und Grundstimmung sind einer ständigen Dynamik unterworfen und mal zeigt sich in ihnen das Ideal mehr, mal weniger deutlich. [219]

Mit der Zeit nimmt eine Vorstellung des eigenen Persönlichen Ideals immer klarere Konturen an.

Im Folgenden besprechen wir einige praktische Möglichkeiten, sich mit den eigenen

Seelenstimmen auseinanderzusetzen.


[206] J. Kentenich, Seelenführerkurs, 1926, zit. n. ebd., FN 108, Hervorhebung im Original.

[207] Vgl. J. Kentenich, in: ebd., FN 181.

[208] J. Kentenich, Antrittsvortrag vom 27.10.1912, zit. n. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 65.

[209] J. Kentenich, Vorträge im Anschluss an das Programm, 1912, zit. n. Kastner, Schutz Mariens 1940, S. 43.

[210] J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. ebd., S. 68.

[211] J. Kentenich, Vorträge im Anschluss an das Programm, 1912, zit. n. ebd., S. 44.

[212] Vgl. J. Kentenich, Vorträge zur Seelenkunde und Charakterschule, 1912/13, zit. n. ebd., S. 69. An anderer

Stelle betont Kentenich: “Ohne Kenntnis der Leidenschaften keine Menschenkenntnis. Ohne Kenntnis

seiner eigenen Leidenschaften keine Selbsterkenntnis. Ohne Selbsterkenntnis keine Selbsterziehung.“

(J. Kentenich, zit. n. ebd., S. 121)

[213] Diese auf der Vier-Säfte Lehre des Hippokrates aufbauende, seit der Antike immer wieder rezipierte

Lehre teilt die Menschen in vier Typen ein: Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker und Melancholiker.

In der Jugendarbeit muss dieses Modell mit Bedacht eingesetzt werden, um vorschnelle Typisierung und

Etikettierung zu vermeiden. (S. auch Frömbgen, Temperamente 1996)

[214] J. Kentenich, Nordamerika Bericht (I), 1948, zit. n. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 133.

[215] Vgl. J. Kentenich, Vorträge (6), 1936, in: King, Durchblick 5 1998, S. 410. Diesen Vorgang vergleicht

Kentenich auch mit dem Märchen vom schlafenden Dornröschen. Dieses kann erst geweckt werden und

die Kraft der Liebe damit wirksam werden, wenn sich der Prinz durch die Dornenhecke hindurchgekämpft

hat. Ein anderes Vergleichsbild ist das eines Goldgräbers, der das Gold aus den Tiefen der Erde

hinaufbefördern muss. (Vgl. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 125)

[216] vgl. King, Durchblick 5 1998, S. 407.

[217] J. Kentenich, Allgemeine Prinzipienlehre, 1927, zit. n. ebd., S. 408, Hervorhebung im Original.

[218] Siehe auch Seite 17; dort wurden Grundzug und Grundstimmung näher behandelt.

[219] Kentenich macht dies an einem Beispiel deutlich: „Einer unserer Jungen war noch klein. In welcher Form

möchtest Du Dich später betätigen? Ich möchte Provinzial werden. Das ist an sich kein Ideal, das ist ein

Durchgangsstadium. Das darf ich zulassen, weil ich weiß, dass später in der Seele eine andere Strömung

durchbrechen wird. Nach einiger Zeit will er nicht mehr Provinzial werden, sondern lieber Präfekt

werden. ‚Da kann man etwas Gutes tun‘. Es dauert nicht lange, da möchte er Spiritual werden. Jetzt hat

sich die Lebensform entwickelt. Ich zeige ihm, was er alles gewollt (hat) und frage ihn, was in seinen

Wünschen das Gemeinsame ist. Er wird es wohl selbst erkennen: Möglichst viel Gutes tun. Ich könnte

den Jungen gleich von Anfang an darauf aufmerksam machen, dass das, was er da wünscht, überspannt

ist. Aber lassen wir den Jungen doch phantasieren. – Was ich also jetzt vom Grundzug erkenne, das

ist das Ideal.“ (J. Kentenich, Allgemeine Prinzipienlehre, 1928, zit. n. Gerber, Berufen 2008, S. 227,

Zeichensetzung wie im Original)


4.2.2 Das Persönliche Ideal als Offenbarung mitten im Leben

Zur Erforschung des Persönlichen Ideals darf die Seele nicht isoliert betrachtet werden, sondern in ihrem Zusammenspiel mit dem äußeren Leben. Kernaussage des Vorsehungsglaubens ist, dass sich Gott mitten in der konkreten Lebenssituation offenbart. Die Offenbarung erschließt sich dadurch, wie die Seele je nach ihrer Eigenart auf die widerfahrenen Erlebnisse anspricht. [220]

Die Seele offenbart sich etwa, wenn sie in bestimmten Situationen Gefühle aufsteigen lässt. Seelische Regungen können sich auch in körperlichen Reaktionen zeigen, etwa Herzklopfen. Besonders zu beobachten ist, in welchen Momenten oder Tätigkeiten man Begeisterung und Freude verspürt. [221]

In Anlehnung an Kentenich schlägt King vor nach der eigenen Lieblingsmusik, Lieblingsbildern, Lieblingssätzen, Hobbys oder Freizeitbeschäftigungen zu fragen. [222] Hierbei muss aber beachtet werden, dass diese Präferenzen wirklich die eigenen sind und nicht nur einer aktuellen, von außen kommenden Mode entsprechen wollen. Kentenich verwendet den Begriff „Wertempfänglichkeit“, um auszusagen, dass jeder Mensch für ganz spezielle Werte zugänglich ist. Das Persönliche Ideal definiert er auch als „originelle natürlich und übernatürliche Wertempfänglichkeit“.

[223] Hier kann betrachtet werden, welche Ideen, Themen und Gedanken über einen längeren Zeitraum Wichtigkeit erlangen. Dies gibt Aufschluss über aktuellen Grundzug und Grundstimmung. Als weiteren Weg nennt King „Erlebnis- und Informationsaszese“, also eine Enthaltung von starken Eindrücken der Außenwelt (etwa von Medien). [224]

Besinnliche Momente schaffen der Seele Raum, um unverarbeitete Eindrücke an die Oberfläche des Bewusstseins zu bringen. „Innere“ Bilder geben Aufschluss darüber, was sich im Unterbewusstsein abspielt. Diese zeigen sich als Tag- oder Nachtträume:

„Man sucht das Triebleben dort zu erfassen, wo es nicht unter der Herrschaft des

Willens steht, wo es sich ganz frei und spontan äußern kann. Was träume ich im

Schlaf, was träume ich in unbewachten Stunden? Welches ist mein erster Gedanke

beim Aufstehen? Durch solche und ähnliche Fragen werde ich der schlechten, aber

auch der guten Richtungen meiner Hauptleidenschaft gewahr.“ [225]

Alle kreativen Tätigkeiten sind besonders geeignet, solche Eindrücke ins Bewusstsein zu bringen.

Die seelische Bedeutung von Lebensereignissen erschließt sich nach Kentenich auch durch die Meditation. Dabei sollen wichtige vergangene, aktuelle und zukünftige Momente besonders vergegenwärtigt werden. Dies nennt er „Nachkosten“, „Verkosten“ und „Vorauskosten“. [226]

Ein wichtiger Bestandteil des Persönlichen Ideals sind Kernerlebnisse. [227]

Dies sind Momente des Lebens, die so prägend sind, dass sie das Erleben von weiteren Ereignissen färben. [228] Die sogenannte „keimhafte Definition“ bringt den Stellenwert des momentanen Erlebens auf den Punkt:

„Das P.I. ist eine persönlich oder erfahrungsgemäß erlebte kleine Wahrheit.“ [229]

Unter der Perspektive des Vorsehungsglaubens wird schließlich die gesamte Lebensgeschichte zu einem Spiegel des Persönlichen Ideals. Gott stellt den Menschen in eine Epoche hinein und lässt ihn in einem bestimmten Milieu aufwachsen.

Orte, Landschaften und Erfahrungen der Kindheit sind bedeutsam. Hier haben jedoch auch die Brüche im Leben einen Platz. In seinem P.I. kann sich der Mensch auch gerade in seinem Scheitern als bedingungslos von Gott geliebt und begnadet erfahren. [230]

Uneingestandene Schuld oder Schwäche aus der Vergangenheit bewirkt, dass wesentliche Kräfte in der Seele blockiert werden. [231]

Nur indem jene angenommen wird, kann die echte Persönlichkeit zum Vorschein kommen. Kentenich betont, dass solche Lebensbrüche durch Kernerlebnisse geheilt werden können. Er unterscheidet „Nacherlebnis“, „Gegensatzerlebnis“ und „Ergänzungserlebnis“. [232]

Damit knüpft er auch an seine eigenen biographische Erfahrungen an. Seine fehlenden Kindheitserfahrungen mit einem Vater konnte er dadurch ausgleichen, dass er später zur Vaterfigur für andere wurde. [233]

Dies bezeichnet er als „Ergänzungserlebnis“. [234]

Bereits früh machte Kentenich die schwere Erfahrung der Trennung von seiner Mutter. Hier half ihm die Beziehung zu Maria, die ihm positive Erfahrungen schenkte, die das negative Erlebnis überstrahlten. Dies nennt er „Gegensatzerlebnis“.

Als „Nacherlebnis echter Kindlichkeit“ bezeichnet das Nachholen von fehlenden Erlebnissen aus der Kindheit etwa durch Vater- oder Mutterfiguren, die einem im späteren Leben begegnen.

Für Kentenich sind es gerade auch die Krisen, in deren Annehmen und Durchleben sich der Mensch eine feste, freie Persönlichkeit ausbildet. Wie King einwendet, sollen die eigenen Grenzen nicht krampfhaft überwunden, sondern als Ausdruck der Individualität gesehen werden. King schreibt:

„Die Grenze ist dort, wo meine Gestalt aufhört, meine Originaltät sozusagen ihre Haut hat.“ [235]


[220] Dies trägt auch Kentenichs Verständnis von der menschlichen Seele Rechnung, wie in Abschnitt 3.1 dargestellt.

[221] Ammann stellt die Frage: „Wo komme ich seelisch ans Klingen?“ (Ammann, Unterwegs 1977, S. 31) Hier

lässt sich das Bild der akustischen Resonanz als gute Analogie anbringen: Ein klingender Körper (z.B.

Saite, Becken) kann von einer äußeren Schwingung zu einer eigenen Schwingung angeregt werden. Dies

geschieht aber nur dann, wenn die äußere Schwingung genau die Eigenfrequenz des Körpers trifft. Der

Auslöser der Schwingung kommt somit aus der Umgebung. Der Grund für die Schwingung liegt aber in

der Seele selbst.

[222] King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 126f.. vgl. auch Kentenich, Grundriß 1971, S. 168f.

[223] J. Kentenich, Der heroische Mensch, 1936, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 393.

[224] Vgl. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 115.

[225] J. Kentenich, Tagung für Lehrer, 1926, zit. n. ebd., FN 43.

[226] Vgl. ebd., FN 115.

[227] Vgl. hierzu auch die Bedeutung von Vorerlebnissen, siehe Fußnote 187.

[228] Vgl. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 132.

[229] J. Kentenich, Der heroische Mensch, 1936, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 393.

[230] Diese Liebe und Gnade ist auch von Jesus Christus in seinem Umgang mit den Sündern zugesagt, vgl. z.B. Mt 21,31.

[231] Vgl. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 58. Dies folgt auch der Forderung nach organischer Entwicklung der Person wie in Abschnitt 3.2 dargestellt.

[232] Siehe Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 101-104.

[233] Vgl. Schlickmann, Freiheit 1995, S. 158.

[234] Eltern berichten auch gelegentlich davon, dass durch Beschäftigung mit ihren Kindern wieder in ihnen Gefühle aus der eigenen Kindheit auftauchen.

[235] King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 58.


4.2.3 Arbeit mit den Seelenstimmen

Im Zusammenhang mit der menschlichen Schwäche taucht die Frage nach dem Handlungsspielraum des Menschen auf:

Wie soll ich mit meinen Schwächen umgehen, ohne einerseits in passive Resignation, andererseits in ein krampfhaftes Überwinden-Wollen zu verfallen?

Was kann ich überhaupt aus eigener Kraft tun? Hier kann erneut das Bild eines wachsenden Baumes als Veranschaulichung dienen. In der Natur verläuft dessen Entwicklung von selbst ganz ohne menschliches Zutun. Der Mensch kann aber die Rahmenbedingungen des Wachstums verbessern, indem er düngt, beschneidet und vor Schädlingen schützt.

Analog bildet bei der Seele das Bewusstwerden über die Wachstumsrichtung die Voraussetzung, um diese auch willentlich zu fördern und zu stabilisieren. King fordert dementsprechend ein Denken, das am seelischen Leben entlang formuliert ist. [236]

Das P.I. entspricht in diesem Bild der idealen Vorstellung vom voll entwickelten Baum. Hier muss die Bedingung „gottgewollt“ in der psychologischen Definition des P.I. hervorgehoben werden (s.o. Seite 33). Mithilfe einer Unterscheidung der Geister soll der Mensch heraushören, was in den jeweiligen Seelenstimmen der von Gott (im Rahmen der Seinsstimmen) angelegten Richtung entspricht.

„Zu dem Ideal gehören nicht die Auswüchse meiner Triebe. Meine Triebe sind durch

die Erbsünde krank geworden. Ihre Regungen sind nicht von Gott gewollt, sondern

werden bloß von Gott zugelassen.“ [237]

In Anlehnung an die Medizin unterscheidet Kentenich zwei Methoden, um kranke Triebe zu heilen. Er warnt davor, sie radikal abzuschneiden, d.h. die eigene Wahrnehmung gegen sie abstumpfen zu lassen („chirurgisches Verfahren“). Stattdessen befürwortet er das sanftere „heilende Verfahren“. Hier wird entweder im „negativen Heilverfahren“ der Trieb entlarvt; damit verliert er an Kraft. Im „positiven Heilverfahren“ dagegen wird ein falscher Wert, auf den die Seele ausgerichtet ist, mit anderen stärkeren positiven Werten überstrahlt. [238]

Kentenich geht es somit darum, die aus der Seele kommenden Kräfte nicht zu hemmen, sondern sie konstruktiv in die Persönlichkeit einzubinden, d.h. sie als Zugpferde für die Entfaltung der eigenen Handlungen zu nutzen. [239]

Ferner sollen die einzelnen Grundzüge in eine einheitliche gottgewollte Grundstimmung integriert werden. [240]

Das bedeutet, dass sich mit der Zeit stabilere Handlungsmuster entwickeln, denen eine relativ gleichbleibende religiöse Lebensperspektive zugrunde liegt.

Ich möchte versuchen, das soeben Dargestellte an einem selbst erdachten Beispiel zu konkretisieren: Es gibt Menschen, denen es schwerfällt,wenn sie auf etwaswarten müssen.

Dieser Trieb kann sich negativ in FormvonUngeduld und unruhigem Drängen äußern. Hier würde es nicht helfen, das Gefühl einfach zu ignorieren und „auszusitzen“. Dies würde die innere Unruhe noch verstärken. Doch könnte man hier möglicherweise einen Scheinwert

entlarven: Der Trieb ist ausschließlich nach egoistischen Motiven ausgerichtet. Wenn man es fertig bringt, den Trieb in eine religiöse Perspektive von dankbarer Abhängigkeit zu integrieren, dann wandelt sich das Gefühl der Ungeduld womöglich bald hin zu tief empfundener Vorfreude.


[236] Vgl. ebd., FN 81.

[237] J. Kentenich, Allgemeine Prinzipienlehre, 1929, zit. n. King, Durchblick 1 1998, S. 247.

[238] Vgl. J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, in: King, Durchblick 5 1998, S. 413.

[239] Die Terminologie Kentenichs spricht oft von der „Veredelung der Leidenschaften“. (Vgl. z.B. ebd.)

[240] Vgl. Läge, Persönliches Ideal 1985, S. 54.


4.3 Hilfreiche Faktoren für die Arbeit an der Persönlichkeit

Auch wenn Kentenich nie einen systematischen „Trainingsplan“ für die Persönlichkeit erstellt hat, kann man seinen Texten dennoch einige Voraussetzungen entnehmen, die eine Entfaltung des P.I. begünstigen. Diese sollen hier kurz vorgestellt werden.

Eigene Entschlossenheit   Wichtige Voraussetzung für die Läuterung der Triebe ist die innere Einstellung, beständig (jedoch nicht verbissen) an sich zu arbeiten. Ein von Kentenich in diesem Zusammenhang genutztes Hilfsmittel ist das Partikularexamen (kurz „P.E.“).

Es besteht darin, über einen längeren Zeitraum hinweg Vorsätze für das eigene Handeln zu fassen. Deren Einhalten soll regelmäßig (ggfs. schriftlich) überprüft werden.

Wichtig ist, dass die Vorsätze in Richtung der Hauptleidenschaft arbeiten und nicht gegen sie. [241]

„Wie kann das geschehen? Nehmen Sie einmal Sinnlichkeit, Hingabevermögen.Wie

kann ich diese Kraft anspannen an denWagen meines Ideals? Indem ich mich bemühe,

in edler Weise andern gut zu sein. Wie kann ich ihnen Freude machen, auch wenn es

für mich Opfer kostet?“ [242]

Allerdings fordert Kentenich im selben Atemzug, dass auch die gegensätzliche Leidenschaft, hier also der Stolz, im P.E. bemüht werden muss. [243]

Selbst wenn diese schwächer veranlagt ist. Nur so gelangt man zu einer ausgeglichenen Persönlichkeit. Es muss beachtet werden, dass das Partikularexamen auch missverstanden werden kann. Wer sich zu sehr auf die Abarbeitung von Vorsätzen fixiert, unterliegt der Gefahr, sich unter einen Formalismus unterzuordnen. Dies würde die freie Entfaltung der Persönlichkeit behindern.

Für Kentenich ist hier die innere Haltung entscheidend: „Die schriftliche Kontrolle soll eine Sicherung sein gegen Vergesslichkeit und Stimmungswechsel. Aber die Kontrolle allein wird nie eine Haltung schaffen“. [244]

Wichtig ist hier, das P.E. als Teil der Gottesbeziehung sowie als Teil des organischen Wachsens zu begreifen. [245]


[241] Vgl. J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, in: King, Durchblick 5 1998, S. 560.

[242] Vgl. J. Kentenich, zit. n. ebd., S. 561.

[243] Vgl. J. Kentenich, in: ebd.

[244] J. Kentenich, zit.n. ebd., S. 564.

[245] Vgl. J. Kentenich, in: ebd.


Vertrauenspersonen   Bei der Suche nach dem Persönlichen Ideal besteht die Gefahr, in eine stark rational-analysierende Haltung gegenüber sich selbst zu verfallen. Das ist nicht, was Kentenich meint. Hier liegt die Aufgabe geistlicher Begleitung darin, eine entsprechende Orientierung zu geben. Dies macht Kentenich 1935 in Exerzitien gegenüber Priestern deutlich. Dort stellt er dem rationalen Weg der Idealerkenntnis einen irrationalen Weg gegenüber, der in der Pastoral für Laien und die Jugend bevorzugt werden soll. [246]

Hier wird weder explizit nach dem P.I. gefragt, noch spielen Modelle zur Erkenntnis der eigenen Persönlichkeit (Temperamentenlehre, Hauptleidenschaften) eine Rolle.

Vielmehr sollen kleine Impulse gegeben werden, um die ganz persönliche Beziehung zu Gott in Aufmerksamkeit zu rufen und zu stärken. Kentenich schlägt vor, nach dem „Lieblingsstoßgebetchen“ zu fragen und dessen häufiges Beten anzuregen. Er fügt hinzu:

„Es brauchen natürlich keine Stoßgebetchen zu sein, die man mit dem Munde formt. Es kann auch einfach nur ein Hinfliegen des Innern zu Gott hin sein.“ [247]

Auch soll die geistliche Begleitung dem begleiteten Menschen nichts vorwegnehmen, wenn sie schon eine klarere Vorstellung von dessen Ideal als er hat.  [248]

„Das hindert nur die Entwicklung.“ [249]

Selbst unfertige oder überzogene Vorstellungen sollen als notwendiges „Durchgangsstadium“ angesehen werden, das nicht einfach übersprungen werden darf. [250]

Hier entwickelt sich jeder Mensch nach eigenem Tempo. Es zählen nur die Seinsstimen, Zeitenstimmen und Seelenstimmen, die aktuell gerade in ihm auftauchen. [251]

In diesem Sinne lässt sich die Rolle des geistlichen Begleiters vielleicht verstehen als „Geburtshelfer“ oder „Verstärker“ dieser Stimmen.

Bezugspersonen   Andere Menschen können in Form von Vorbildern eine wirksame Stütze auf dem Weg zum Persönlichen Ideal werden. Kentenich schreibt:

„Die Sehnsucht wird dann am stärksten geweckt, wenn uns die übernatürliche Welt in konkreter Form entgegentritt in einem ausgeprägt übernatürlich geformten, kraftvoll gestalteten Menschen.“ [252]

Hier geht es nicht darum, dass man Wertvorstellungen seiner Vorbilder unhinterfragt übernimmt, sondern dass die Sehnsucht nach einem Leben aus der inneren Mitte heraus geweckt wird. Kentenich verwendet in seinen Vorträgen zur Seelenkunde und Charakterschule vor den Schülern Beispiele von Heiligen. Heutige Menschen erleben Vorbilder zumeist wohl in Personen des öffentlichen Lebens, in den Medien, der Musik und im Film. Hauptsächlich meint Kentenich hier aber wohl Bezugspersonen aus dem eigenen Umfeld, deren Vorbild am konkretesten erfahrbar wird. Zu Beginn des Lebens sind es fast immer die eigenen Eltern.


[246] Vgl. J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, in: ebd., S. 427.

[247] J. Kentenich, zit. n. ebd., S. 427f.

[248] Vgl. hierzu etwa auch Kentenichs Haltung im Zitat in Fußnote 219.

[249] J. Kentenich, in: King, Durchblick 5 1998, S. 427.

[250] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 228.

[251] Nebenbei bemerkt, deckt sich dies mit den heute gängigen konstruktivistischen Lerntheorien.

[252] Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 152.


Einbindung in eine Gemeinschaft   Die Bedeutung von Bindungen wurde bereits in Abschnitt 3.4.3 beleuchtet. Das Persönliche Ideal verweist letztendlich immer auf eine Haltung der Liebe. [253]

Es lässt sich daher gerade innerhalb von starken, frei gewählten Beziehungen verwirklichen.

„Der Gemeinschaft habe ich alles zu geben,was in meiner Seele an Fähigkeiten steckt.

Sie müssen von der Gemeinschaft aufgefangen werden und sich dort schöpferisch

entfalten und auswirken.“ [254]

Dementsprechend hebt Kentenich einen ergänzenden Aspekt des Persönlichen Ideals mit dem Begriff „Aufgabenideal“ hervor.

Die Persönlichkeit entwickelt sich dann besonders gut, wenn der Mensch in eine Aufgabe hineinwachsen kann, in der er sich als wichtig für

andere erfährt und die sein Dasein mit Sinn erfüllt.

„Überlegen Sie ein wenig die Wechselwirkung von Persönlichkeit und Aufgabe.

Ich erziehe mich für eine Aufgabe. Ich werde aber auch durch eine Aufgabe erzogen.

In den meisten Fällen werden wir Erwachsenen mehr durch Aufgaben geformt als durch

direktes Arbeiten an unserer Natur.“ [255]

Ferner findet in einer Gruppe eine ständige Auseinandersetzung mit fremden Wertvorstellungen statt, die für den Reifeprozess des Einzelnen eine entscheidende Rolle spielen. [256]

Gemeinschaftsübergreifende Werte und Zielvorstellungen können auch in einem impliziten oder expliziten Gemeinschaftsideal gefasst werden. Individuelles Ideal und Gemeinschaftsideal stehen miteinander in Wechselbeziehung.

Geistliches Leben   Alles bisher Dargestellte steht unter dem Vorbehalt, dass sich eine organische Entwicklung mit menschlichen Mitteln nicht kontrollieren lässt. Den göttlichen Anteil in diesem Prozess betont Kentenich sehr oft:

„Gott muss bei der Auswahl und Anwendung der Mittel 99% tun. Ich habe nur eine Nebenrolle zu spielen.“ [257]

Gerade im Erleben der eigenen Schwachheit und der von Gott geschenkten Gnade, darf der Mensch eine kindliche Vertrauenshaltung einüben. Er entwickelt ein Gefühl für die eigene Würde und Freiheit, die ihm ermöglicht, die Leidenschaften in gesunder Weise in die eigene

Persönlichkeit einzubinden. [258]

Kentenich zitiert hier das scholastiche Axiom:

„Gratia praesupponit naturam; gratia non destruit sed perficit et elevat naturam.“ [259]

DerWeg zum Persönlichen Ideal ist vor allem ein geistlicherWeg, ein „spannungsreiches Liebesspiel“ zwischen Mensch und Gott, wie Kentenich es ausdrückt. [260] Daher schlägt er vor, das P.I. dort zu suchen, wo es einen im religiösen Leben hinzieht. Als Anhaltspunkte nennt er das schon erwähnte „Lieblingsstoßgebetchen“, eine Lieblingsandacht, einen Lieblingsheiligen oder ein Lieblingsmotto. Für das Lieblingsmotto nennt er ausschließlich religiöse Beispiele. [261]

Als ein wirksames Mittel sieht er auch an, wenn sich der Mensch um eine entsprechende geistliche Atmosphäre in seinem Leben bemüht, in der sich das P.I. optimal entfalten kann. Dies wird in Schönstatt Geistliche Tagesordnung (kurz „G.T.O.“) genannt. Konkret heißt das, „dass wir den Tag auch immer wieder in irgendeiner Weise unterbrechen, um aktuell Fühlung mit dem lieben Gott wieder herzustellen.“ [262]

Dies können regelmäßige kurze Gebete sein, kleine religiöse Handlungen oder das Ausführen von alltäglichen Handlungen unter einer religiösen Perspektive. Entscheidend ist nicht der Umfang der Handlungen und Gebete, sondern ihre Regelmäßigkeit, durch die eine beständige Haltung trainiert werden soll. Nicht unterschätzen sollte man zudem eine andere Voraussetzung, die Kentenich nennt: nämlich, dass sich der Mensch im Alltag genügend Schlaf nimmt. Andernfalls wird die Seele von den täglichen Aufgaben zu stark belastet, um ein gesundes geistliches Leben führe zu können. [263]


[253] “[…] es gibt meier Überzeugung nach nichts, was im Menschen den Persönlichkeitskern so stark entfaltet, wiewahre, echte Liebe.“ (J.Kentenich, ohne Quellenangabe, zit. n. King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 236)

[254] Kentenich, Neue Menschen 1971, S. 119.

[255] Vgl. J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 417, Hervorhebung im Original.

[256] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 233.

[257] J. Kentenich, Der erlöste Mensch, 1935, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 559.

[258] Kentenich veranschaulicht dies: „Nehmen sie an, jemand hat eine Gemütserregung, – eine sexuelle Regung. […] Ich nehme den Trieb ‚in die Hand‘ und lasse die anderen Seinsschichten auch in Aktion treten: den Geist und das Gotteskind im Menschen. Jetzt erlebe ich mich innerlich schwach und hilflos.
Jetzt sehe ich die Begrenztheit in mir und deute diese Hilflosigkeit vom Standpunkt des Gotteskindes: Der Herrgott will mich in Abhängig von sich wissen. Und schlicht und bescheiden stürze ich in seine Arme…
Sehen Sie, dann beherrsche ich den Affekt. Dann ist an die Stelle der Verdrängung eine Beherrschung oder sinngemäße Emporführung getreten.“ (Kentenich, Grundriß 1971, S. 177)

[259] Kentenich, Philosophy of education 1971, S. 135. Zu deutsch: Gnade baut auf der Natur auf; Gnade zerstört nicht die Natur, sondern vollendet und erhebt sie.

[260] Vgl. Schlosser, Neuer Mensch 1971, S. 102.

[261] Vgl. J. Kentenich, Oktoberwoche, 1951, in: King, Durchblick 5 1998, S. 431ff..

[262] J. Kentenich, Vorträge, 1963, zit. n. ebd., S. 592.

[263] Vgl. J. Kentenich, in: ebd., S. 599.


4.4 Die Formulierung des Persönlichen Ideals

Bei den vielfältigen Zugängen, die in dieser Arbeit bisher zum P.I. gesucht wurden, darf man nicht aus dem Blick verlieren, dass sie alle auf eine einzige Sache hinauslaufen, auf einen einheitlichen Kern der Persönlichkeit:

Diese Geistesgestimmtheit, dieses persönliche Ideal, ist eben das, was im menschlichen

Leben alle einzelnen Handlungen strafft auf einen Zentralgedanken und eine

Zentralhaltung. Das ist, was den Menschen zu einem ganzen Menschen, zu einem

großen Menschen, zu einem Menschen von Format macht.“ [264]

Diese Zentralhaltung kann der Mensch versuchen in einer prägnanten Formulierung auszudrücken.

Die Suche nach der Formulierung ist kein rein rationaler Vorgang, sondern geschieht unter Miteinbeziehung aller bewussten und unbewussten Stimmen sowie im Dialog mit Gott. Gerber versteht den Formulierungsvorgang als „Akt der dankbaren Liebe“:

In den Gaben und Eigenarten, die seiner Persönlichkeit geschenkt sind, wird der Mensch sich der Zuwendung Gottes bewusst.
Der Dank hierüber mündet in Worte. [265]

Demgegenüber ist auch denkbar, dass die Formulierung selbst als Geschenk Gottes erfahren wird:

Dem Menschen begegnen Worte aus der Bibel, von anderen Menschen oder aus der Tiefe seiner Seele aufsteigend, die in ihm eine starke innere Resonanz auslösen. King schreibt:

„Es ist klar, dass solcheWorte mehr Symbol und Bild als klar umschriebener Begriff

sind. Sie stehen für einen Organismus von Aspekten, die mit-formuliert, mit-gemeint

sind und im Laufe des Lebens sich auch noch mehr entfalten können.“ [266]

Die Formulierung verweist also auf eine „größere und sprachlich nie ganz einzuholende Wirklichkeit“, [267] das vollendete Bild der Person, wie es in den Augen Gottes ist. Die eigene Persönlichkeit bleibt dadurch ein Geheimnis, das der Mensch während seines Lebens nie ganz begreifen kann. In Klarheit erkennt er sich erst, wenn sich sein Leben vollendet.

Auch die Formulierung berücksichtigt diesen langsamen, nie zum Ende kommenden „Ausreifungsprozess“. [268]

So ist es denkbar, dass sie sich im Laufe der Lebensgeschichte langsam wandelt. Oft verwenden Idealformulierungen bildhafte oder metaphorische Elemente, die nach und nach mit weiteren Bedeutungen angereichert werden.

In dieser Hinsicht wäre auch eine nicht-sprachliche Formulierung denkbar, etwa ein Kunstwerk oder ein Gegenstand.

Obwohl die Idealformulierung nie ganz gewiss oder letztgültig sein kann, ist sie enorm hilfreich, da sie eine konkrete Orientierung in der unübersichtlichen Welt der eigenen Leidenschaften und Gefühle schafft. Sie bietet einen Ansatzpunkt, um die verschiedenen Haltungen und Handlungen auf eine Zentralhaltung hin auszurichten. Der Vorgang der Versprachlichung dient hier auch dazu, Elemente der Persönlichkeit aus dem Unbewussten ins Bewusstsein zu überführen:

„Das [Persönliche Ideal] ist etwas, was keimhaft in mir steckt und zum Bewusstsein erhoben wird, kultiviert wird, bis es nachher als Funktion wieder wirkt.“ [269]

Die Formulierung wird also nicht nur aus dem eigenen Leben abgeleitet, sondern kann rückwirkend wieder für die eigene Lebensführung nutzbar gemacht werden.

Gerber bezeichnet sie auch als „hermeneutischen Schlüssel […], mit dessen Hilfe sich dem einzelnen Menschen dieWirklichkeit erschließt.“ [270] Der Mensch soll sich sein P.I. immer wieder ins Bewusstsein rufen, um Situationen einzuordnen, Entscheidungen zu treffen, und schlussendlich das Leben zu meistern. In dieser Hinsicht muss die Formulierung eine gewisse Spannung überbrücken, da sie dem Menschen sowohl gegenwärtiges Wesen als auch die gottgewollte Entwicklungsrichtung vor Augen führen soll.


[264] Kentenich, Ethos und Ideal 1972, S. 210, Hervorhebung im Original.

[265] Vgl. Gerber, Berufen 2008, S. 246.

[266] King, Identitätspädagogik 1988/2008, FN 199.

[267] Gerber, Berufen 2008, S. 245.

[268] Vgl. die Formulierung der psychologischen Definition, siehe Seite 33.

[269] J. Kentenich, Vorträge, 1963, zit. n. King, Durchblick 5 1998, S. 410, Hervorhebung im Original.

[270] Gerber, Berufen 2008, S. 245.

 

 

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