Der folgende Text ist der Auszug eines Briefes Pater Kentenichs an Pater Menningen vom 9.12.1953. Veröffentlicht in: Mach heimisch in ihr Führerfähigkeiten (Hg. Heinrich Hug), Berg Sion 1997, 42-49.
Der Brief sucht die Frage zu beantworten: was muss derjenige tun, der die Familie nach Gottes Plan führen will und soll? Die Antwort: er muss „einerseits den Blick ständig hineingesenkt halten in das Seelenleben der Gefolgschaft, andererseits aber auch in die geistigen Strömungen der Zeit.“ Es geht also darum, Gottes Wunsch in den Seelen und in den Zeitströmungen zu entdecken.
Die Aussagerichtung des Textes ist eine dreifache:
1. Für die Erkenntnis des Willens Gottes geht es methodisch darum, die Stimmen der Zeit aufmerksam zu beobachten und richtig zu deuten. Zeitendeutung kann zu einem gewissen Grad erlernt werden. Wie das möglich ist, dazu gibt der Brief konkrete Hinweise.
2. Inhaltlich geht es bei der Deutung der damaligen Zeit darum, den von P.Kentenich vorgelegten großen hermeneutischen Schlüssel festzuhalten, weil er für die Zukunft aktuell sein und bleiben wird. Auf lange Zeit geistert die Mentalität eines „mechanistischen Denkens“ durch unsere Kultur. Sie zeigt sich in der mangelnden Fähigkeit gesund und ganzheitlich zu lieben. Für die pastorale Führung liegt darin die Herausforderung einer Erziehung, die konsequent vom Wissen zum Lieben führt.
Auf das mechanistische Denken, Leben und Lieben hatte P.Kentenich mutig hingewiesen in seiner „Epistola perlonga“ vom 31.Mai 1949 als Antwort auf die Ausstellungen der Visitation der Schwestern. Damit hatte der Gründer seine Analyse des Zeitgeistes, die damit verbundenen Gefahren für die Kirche und die Sendung Schönstatts auf den Punkt gebracht.
3. Diese Herausforderung einer Erziehung zum organischen Lieben bezieht sich vor allem auf die führenden Kräfte der Bewegung. Pater Menningen soll sie schulen und dafür mehr befähigen. Alle Mitglieder der Pars centralis et motrix, vorab die Schönstattpatres, mögen sich durch die Lektüre dieses Dokumentes besonders angesprochen fühlen.
Um Gottes Planung mit Person und Gemeinschaft zu ermitteln, genügt aber dieser Blick ins Seelenleben der einzelnen Glieder und das Hinüberleiten der dort lebendigen Strömungen ins Gemeinschaftsleben nicht. Es muss die richtige Zeitenschau und Zeitendeutung hinzukommen.
Zwei Gründe lassen sich dafür vor allem anführen.
1. Der erste ist uns sehr geläufig. Er wittert Gottes Stimme in den Zeitenstimmen. Deswegen das bekannte Wort: vox temporis – vox Dei (177) . Und weil der Vorsehungsglaube das außergewöhnlich stark ausgeprägte Fundament unserer Familie ist, sind wir auf diese Zeitenrufe in besonderer Weise angewiesen. Die Familiengeschichte weist ohne Schwierigkeiten nach, wie sie tatsächlich auf diese Weise allezeit ihr originelles Gesicht erhalten hat.
2. Der zweite Grund: Zeitendeutung ist aber auch deswegen für uns bedeutungsvoll, weil die Menschen, die wir formen dürfen, und weil auch wir nicht im luftleeren Raum leben. Sie und wir sind Kinder unserer Zeit, sind in tiefgreifender Weise deswegen sowohl vom Zeitgeist als vom Geist der Zeit abhängig. Sie haben mit uns die große Aufgabe, den Zeitgeist zu überwinden und den Geist der Zeit sich anzueignen.
Wenn Du mich nun fragst, wie die Zeitströmungen heute im einzelnen zu sehen, zu sichten und zu deuten sind, so erlaube ich mir, Dich darauf aufmerksam zu machen, dass unsere Zeitenschau und unsere Zeitanalyse, die wir ungezählt viele Male im Laufe der verflossenen 40 Jahre angestellt haben, noch nicht überholt, sondern auch heute noch bis in alle Einzelheiten gültig ist.
Das heißt, ich weise Dich und Deine Mitarbeiter nachdrücklich auf diese Zeitenschau hin.
Um wenigstens eine konkrete Anweisung zu geben, mache ich darauf aufmerksam, dass auch heute noch – wie vor Jahren und Jahrzehnten – der Kampf um die Menschenbilder geht: um das vitalistische, mechanistische, materialistische, liberalistische und existentialistische Menschenbild. Allen gegenüber schwebt uns der Schönstattmensch und die Schönstattgemeinschaft als Ideal vor Augen.
Statt mich erneut damit auseinanderzusetzen, sage ich lieber ein paar Worte über die Methode, die man anwenden kann, um hier selbständig schöpferisch tätig sein zu lernen.
Wer eine psychologische Nase hat, ist von Hause aus mit einem eigenartigen Witterungssinn ausgestattet, der jede Schwankung im Lebensgefüge und Lebensgefühl einer Zeit wahrheitsgetreu signalisiert, in sich aufnimmt und verarbeitet und dem philosophisch und theologisch geschulten Verstand zur näheren Verarbeitung überweist. Wer so veranlagt ist, braucht keine besondere Methode und Schulung. Er greift ohnehin richtig. Was für andere Lebensfrage ist (178), mag ihm als neue Kontrolle oder erhöhtes Sicherheitsventil für die Gesundheit seines Instinktes gelten.
Es sind hier vor allem zwei oder drei Mittel, die wir ohne sonderliche Anstrengung anwenden können.
1) Das erste Mittel besteht in der sorgfältigen und stetigen Anwendung der von uns bevorzugten Betrachtungsgmethode: im Nachprüfen und Nachkosten, im Vorprüfen und Vorkosten der göttlichen Erbarmungen und der persönlichen Erbärmlichkeiten in unserem Leben.
Wenn solche Durchsichtigmachung des Göttlichen in der kleinen persönlichen Lebensgeschichte zur zweiten Natur geworden ist, dann fällt es nicht schwer, auch das gesamte Zeitgeschehen in ähnlicher Perspektive zu sehen und zu deuten.
2) Ein zweites Mittel besteht im inneren Erfassen charakteristischer Aussprüche, die urplötzlich wie Leuchtkugeln aufsprühen und weiteste Kreise der Zeitenlage belichten.
Darf ich zwecks Schulung einige kurz anführen?
Pinsk (179) hat sich kürzlich über Fatima ereifert, weil die Gottesmutter dort auf den Rosenkranz und nicht auf das Messopfer hingewiesen hat. Aus demselben Grunde schüttelt er den Kopf über die Handlungsweise des jetzt regierenden Hl. Vaters. (180)
Ist das nicht ein deutliches Symptom für eine bestimmte geistige Haltung innerhalb der Kirche? Was sagt sie uns, und worauf macht sie uns aufmerksam?
Für den Kundigen ist die Antwort leicht. Er hat sehr bald heraus, dass es sich überall – bald so, bald so – um Haupt und Heiligtum in ihrem Eigenwert und in ihrem Symbolgehalt handelt.
Es fällt nicht schwer, diese Behauptung auf den berührten Fragenkomplex anzuwenden. –
Weiter: Bischof Paul Rusch von Innsbruck schreibt in seinem Buche: „Wachstum im Geiste“:
„Hast Du die große Liebe in Deinem Leben gefunden? Die Liebe, ohne die alles Leben unerfüllt und unentfaltet bleibt? Eine Dame fragte einmal einen Priester: ‚Hochwürden, haben Sie eigentlich jemanden richtig gern?‘ Der Priester senkte die Augen, er wollte sich erinnern. Die Antwort unterließ er. Er wusste es nicht.“
Der Vorgang spricht Bände. Er beleuchtet schlagartig den Seelenzustand ungezählt vieler religiöser Menschen – an die un- und areligiösen mag ich gar nicht denken. Es geht hier vor allem um das Heer unserer Intellektualisten oder unserer philosophischen Idealisten. Es geht um die große Anzahl der Menschen, die in ihrem Denken und in ihrem Leben mechanistisch eingestellt sind, die eine Zeitlang krampfhaft um Gottesliebe ringen, dann aber mit einem Ikarussturz rechnen müssen, weil sie ihre Flügel an der Sonne verbrannt haben. Genauer gesagt: weil sie niemals gelernt haben, auf der natürlichen Ebene entweder als Vorbereitung oder als Auswirkung echter göttlicher Liebe wahrhaft zu lieben. Auch hier geht es wiederum um den Bindungsorganismus, will heißen um den natürlichen und übernatürlichen Bindungsorganismus in sich und in gegenseitiger Wechselwirkung.
Weiter: Wenn Düsseldorf (181) für die Jugend als Jahresparole die Freude ausgerufen hat, was bedeutet das denn? Gibt es denn überhaupt wahre, erquickende, befreiende und befriedigende Freude, ohne die Beheimatung in Menschenherzen und im Gottesherzen?
Du verstehst sicher, wie ich das alles meine. Die Zeit gibt Ansatzpunkte, lässt Leuchtkugeln aufsteigen, von denen aus wir wieder und wieder das Gelände um uns herum richtig sehen und deuten lernen.
Höre hinein in die Zeit und lausche den wehmütigen Klängen ungezählt vieler Menschen, die in tiefster Einsamkeit und Vereinsamung sich winden und trotz äußeren Wohlstandes und Zusammenlebens an gemeinsamem Tisch innerlich nie zur Ruhe kommen und es nicht verstehen, ineinander zu sein und miteinander zu Gott emporzusteigen.
Denke an das Heer existentialistisch eingestellter Menschen, denke an die Aufsplitterung der christlichen Gesellschaftsordnung. Stelle schroff gegenüber – ich spreche nunmehr in der Sprache des hl. Augustinus – das Corpus Christi Mysticum und das Corpus Diaboli (182). Das Corpus Diabolicum zerstört heute fast mit unwiderstehlicher Macht und Gewalt jegliche innere Bindung, jegliches seelische Ineinander, während das Corpus Christi Mysticum aus innerer vitaler Tendenz heraus das seelische In-, Mit- und Füreinander, aber gleichzeitig das seelische Miteinander zu Gott hin in den Vordergrund stellen möchte.
Leider müssen wir beifügen: Von führender Seite wird die darin steckende und elementar wirkende göttliche Triebkraft mit Gewalt zurückgehalten, sie wird in eine negativistische Verneinung, Veroberflächlichung, Vermaterialisierung und Vereinsamung hineingetrieben und so zur verheerenden Quelle eines chaotischen Zustandes in Menschenherzen und in der Gesellschaft. Denke an all das, was ich früher mit einem harten Ausdruck Wegbereiter der bolschewistischen Geistigkeit oder Atombombe im Reiche Gottes genannt habe.
Vergiss nicht, dass Liebe zunächst und unmittelbar nicht Sache des kalten Verstandes, auch nicht bloß des nüchternen Willens, sondern gleichzeitig des Herzens ist. Dass es also eine affektive und eine effektive Liebe gibt, und dass die Liebe in eigenartig tiefgreifender Weise den Verstand gefangen nimmt und erleuchtet.
Studiere noch einmal die Gesetze, die wir früher so ausführlich miteinander besprochen haben. Als wir die Doppelfrage erörterten: ist Erkennen das Maß der Liebe, und wie kann das Erkannte zum Gegenstand der Liebe werden? Franz von Sales macht ja nachdrücklich darauf aufmerksam, dass die Erkenntnis der ersten Liebe immer vorausgehen muss, dass aber der Grad des Wissens beileibe nicht den Grad der Liebe bestimmt. Damals unterschieden wir in populärer Weise: kleines Wissen mit großer Liebe und großes Wissen mit kleiner Liebe. Wir sprachen von Wasserkopf mit eingeschrumpftem Herzen.
Da stehen wiederum Welten vor uns, in die wir uns einmal hineingewagt und hineinverliebt haben, die aber verzweifelt wenig Gemeingut der leitenden Kreise der Familie geworden sind. Viel weniger hat die Familie als solche ihr Leben aus der Liebe genügend gestaltet. Wie würde ich mich freuen, wenn Du geistig wach würdest und als Erbe all dieser großen Wirklichkeiten und früheren Traditionen auf die Bühne unserer Familiengeschichte trätest. Wie wäre ich froh und glücklich, wenn Deine unmittelbaren Mitarbeiter sich mit Dir zusammensetzten, um das große, unbekannte und unverarbeitete Geistesgut der vergangenen Jahrzehnte zurückzuerobern, innerlich persönlich zu verlebendigen und zur strategischen Leitlinie für Erziehung und Führung zu machen.
Weiter: Da klagt ein deutscher Priester: Was der Hl. Vater in einer persönlichen Gefühlsanwandlung getan hat, brauchen wir nicht nachzuvollziehen. Es handelte sich um die Weihe an das Unbefleckte Herz Mariens.
Das Marienjahr wird Führer und Gefolgschaft in ähnlicher Weise ungezählt viele Male vor die Frage nach der objektiven Stellung der Gottesmutter im Heilsplan und den inneren Beziehungen zwischen Marienliebe und Christusdienst stellen. Damit ist der Weg aufgerissen für die in den Studien häufig dargestellten Grundbeziehungen zwischen den höheren und niederen Ordnungen. Ohne gegenseitige Schulung wird es uns schwer möglich sein, eine Anzahl gewiegter, selbständig denkender und richtig greifender Führerpersönlichkeiten großzuziehen und in die Schlacht hineinzuwerfen.
Für mich persönlich war es immer eine Selbstverständlichkeit, vor einem Kurs wenigstens mit einem Teilnehmer auch nur ein paar Worte zu wechseln, um auf diese Weise Gelegenheit zu bekommen, schnell auf den Grund der Seele zu schauen, um herauszufinden, welche geistigen Strömungen dort lebendig sind. Und während des Vortrags war es mir zur zweiten Natur geworden, aus dem Aufleuchten der Augen herauszulesen, was in den Seelen vor sich ging, um dort anzuknüpfen, um die Linien weiterzuziehen und weiterzuzeichnen und langsam aber sicher eine große Gemeinschaftsatmosphäre schaffen zu helfen, in der der einzelne sich wohlfühlte, und von der er mitgerissen und geformt wurde.
Man sage nicht, das ist eine Kunst, die man nicht lernen kann. Ich möchte demgegenüber behaupten: führt man selber ein Innenleben, wendet man die oben genannte Betrachtungsmethode getreulich an, leitet man die Seelen, so wie wir das kurz angedeutet haben, bemüht man sich um eine philosophische Zusammenschau letzter Wahrheiten und Wirklichkeiten und um standhafte Beheimatung darin, ringt man gleichzeitig um inneres Gelöstsein von sich und Geöffnetsein für fremde Art und Unart, für fremde Not und fremdes Ringen, so bekommt man früher oder später eine Gewandtheit, wie das auf allen psychologischen Gebieten zu konstatieren ist, wo sich das Gesetz verwirklicht: habitus fit per repetitionem actuum (183). Kommt eine tiefe Liebe zum Gegenüber hinzu, so ist die rätselhafte Kunst schnell gelernt.
3) Als drittes Mittel nenne ich das Studium der Bücher, die in ihrer Art sich die Aufgabe gestellt haben, die Zeit verständlich zu machen.
Hierher gehört mehr oder weniger auch die Fühlungnahme mit dem Volke, vor allem mit der Dauergefolgschaft, für die man Verantwortung trägt.
Andere werden uns sagen: Lesung von Zeitromanen oder Benutzung von Film und Television sind heute unumgängliche Mittel, um die Menschen verstehen zu lernen. Ich persönlich habe mich jahrzehntelang um diese Art von Mitteln nicht bemüht; habe sie im Gegenteil sorgfältig vermieden und so Zeit und Kraft gewonnen, um Denken und Fühlen, Lieben und Leben meiner Gefolgschaft unausgesetzt in mich aufzunehmen. Ich bin so in vorzüglicher Weise mit den oben angegebenen Mitteln zu Streich gekommen.
Schönstatt-Lexikon Online: Zeitenstimmen
(177) Die Stimme der Zeit – die Stimme Gottes
(178) Gemeint ist wohl: womit andere sich vorsatzmäßig beschäftigen und was sie sich mühsam aneignen müssen.
(179) Johannes Pinsk war bekannt als Pastoraltheologe. Sein Spezialgebiet war die liturgische Homilie. Siehe dazu sein Buch: Gedanken zum Herrenjahr, hgg. Theodor Schnitzler, Mainz (Grünewald-Verlag) 1963.
(180) Papst Pius XII. (1939-1958). Die Kritik dürfte sich auf die Weltweihe desPapstes an das Unbefleckte Herz Mariens beziehen.
(181) Zentrum des „Bundes der Katholischen Jugend“ (BdKJ)
(182) Der „Geheimnisvolle Leib Christi“ und der „Leib des Teufels“
(183) Eine Gewohnheit entsteht aus der Wiederholung von Akten.