Organisches Denken

Organisches Denken

Herta Schlosser

1. Organisches Denken in der Spiritualität Schönstatts
2. Zum Begriff Denken
3. „Organisches Denken“ – ein neues Paradigma
4. „Organisches Denken“ nach Pater Kentenich
4.1. Historischer Aspekt
4.2. Systematische Aspekte
4.2.1. Organisches Denken ratione objecti
4.2.2. Organisches Denken ratione subiecti
4.2.3. Organisches Denken – ganzheitlich und perspektivisch
4.2.4. Organisches Denken – synthetisierendes Denken

1. Organisches Denken in der Spiritualität Schönstatts

Schönstatt hat nach Pater Kentenich einerseits „organisches Denken zur Voraussetzung“ (Txt 31.5.1949), 110) und sieht andererseits eine Dimension seiner spezifischen >>Sendung darin, für das organische Denken einzutreten (>>Heilsgeschichtliche Sendung des Abendlandes; 31. Mai 1949; dritter >>Meilenstein). Organisches Denken ist in Zusammenhang mit dem Organismusgedanken (>>Organismuslehre) zu sehen, den Pater Kentenich als den „archimedischen Punkt“ (ebd.) versteht, von dem aus Lösungsangebote möglich sind in den „allseitigen verwirrenden Lebenskrisen“ (ebd.) der heutigen Welt. Mit unverbrüchlicher Treue kämpfte er – wie er selbst sagt – „für den Organismusgedanken in Lehre und Leben“ (ebd., 99). Er diagnostiziert „Wurzellosigkeit der menschlichen Natur“ (ebd., 228) als Grundproblem unserer Zeit, das nach ihm durch tief greifende Wurzelfestigkeit zu überwinden ist. In der „organischen Geistigkeit“ sieht er das Heilmittel (ebd., 99). Daher ist nach Pater Kentenich >>Psychologie der Zweitursachen nur „ein anderer Ausdruck für organisches Denken: das organische Denken in Anwendung“ (ebd., 145). Außerdem ist zu beachten, dass Pater Kentenich organisches Denken häufig im Zusammenhang mit Lieben (>>Liebe) und >>Leben nennt, es geht um „organisches Denken, organisches Lieben und organisches Leben“ (ebd., 228). Nur in diesem Kontext der Spiritualität ist „organisches Denken“ zu verstehen.

2. Zum Begriff Denken

Die Auseinandersetzung mit dem Terminus „organisches Denken“ erfordert einleitend einige Vorbemerkungen, denn der Begriff Denken ist vieldeutig schon in der Umgangssprache. Denken hat aber auch unterschiedliche Bedeutung als philosophischer Grundbegriff entsprechend dem jeweiligen philosophischen Ansatz. Von einem seinsphilosophischen Ansatz ausgehend, wird Denken als „die auf Seiendes als solches und dessen Sinnbeziehungen gerichtete unanschauliche Erkenntnisweise“ (Willwoll) verstanden.

Als geistige Tätigkeit geht Denken über die Sinneserkenntnis hinaus (Abstraktionen und Verallgemeinerungen) und ist ein aktiver, zielgerichteter Erkenntnisprozess. Sofern es sich beim Denkprozess um einen methodischen Ablauf handelt, ist Denken Gegenstand der formalen Logik. Das begriffsbildende Denken gelangt zu seiner Vollendung im urteilenden und schlussfolgernden Erkennen (Wahrheitsfindung). Denken findet seine vollständigste Ausprägung durch Theoriebildung in den Wissenschaften. Als transzendierendes Denken gelangt es zu natürlicher Gotteserkenntnis. Das widerspricht nicht der These: Denkend gelangt der Mensch an die Grenzen des Denkens (Thomas von Aquin).

3. „Organisches Denken“ – ein neues Paradigma –

Gegenwärtig wird ein Wandel im Denken festgestellt beziehungsweise gefordert. Dieses „neue Denken“ wird unter anderem auch als „organisches Denken“ gekennzeichnet. „Organisches Denken“ ist kein neuer Begriff. Bereits Paul Krannhals gebraucht ihn (1928) und meint mit „organischem Denken“ die Autonomie des Lebens und die Priorität des Irrationalen sowie des Willens und der Tat. Das Phänomen des Wechsels in der Denkform vom mechanistischen zum organischen Denken wird auch als Paradigmenwechsel charakterisiert. Sowohl bei Walter Birnbaum als auch bei Fritjof Capra heißt es (1982), die Anfänge des Wandels weg vom mechanistischen Denken seien bereits überall sichtbar. Im mechanistischen Denken wird die Wurzel der heutigen Krise gesehen. Das „organische Denken“ löse „unser bankrottes mechanistisches Weltbild“ ab. Während Birnbaum Impulse zur Lösung des Problems im Denken der Romantik (besonders der Frühromantik) sieht, nimmt Capra das ostasiatische Ganzheitsdenken mit den polaren Größen Yin und Yang zum Ausgangspunkt (vgl. Schlosser, Organisches Denken, 169-180).

4. „Organisches Denken“ nach Pater Kentenich

Eine systematische Darstellung des „organischen Denkens“ aufgrund des reichhaltigen Materials in Pater Kentenichs Nachlass liegt noch nicht vor. Von diesem Sachverhalt ausgehend, ist der folgende fragmentarische Abriss zu verstehen.

Pater Kentenich ist weder Erkenntnisoptimist noch Erkenntnispessimist. Er geht davon aus, dass das Denken an Grenzen stößt, an das Hell-Dunkel des Geheimnisses, in das der Mensch um den Preis ernster denkerischer Arbeit nur ein wenig einzudringen vermag. Ferner sieht er „organisches Denken“ eingebunden in den gesamten Lebensprozess und berücksichtigt die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit und in allen Dimensionen (>>Erkenntnisquellen). „Gesundes Denken ist organisch, symbolhaft, zentriert, ganzheitlich.“ (PT 1951, 72; vgl. auch 109). Gelegentlich nennt Pater Kentenich auch statt ganzheitlich die Eigenschaft universell (vgl. LS 1952 I, 206). In einem anderen Kontext erörtert er sein Bemühen „um ein perspektivisches, um ein ehrfürchtiges und um ein organisch-ganzheitliches Denken“ (WT 1967, 81 f.). Organisch als kennzeichnend für sein Denken ist daher in Zusammenhang zu sehen mit weiteren Aspekten: symbolhaft (>>Symbol), zentriert, ganzheitlich, universell (>>Universalismus), perspektivisch und ehrfürchtig. Die Grenze des Denkens anerkennen nennt er ehrfürchtiges Denken, und damit ist als Ausgangspunkt seine grundsätzliche Denkhaltung charakterisiert.

4.1. Historischer Aspekt

Schon 1936 schreibt Pater Kentenich: „Im deutschen Katholizismus ringen ähnlich wie in der europäisch orientierten Gesamtkultur zwei geistige Strömungen miteinander: die eine neigt stark zum Rationalisieren, Mechanisieren und Sezieren und wirkt sich deshalb vielfach, ohne es zu wollen, als lebensfremd und Leben ertötend aus. Für die andere ist charakteristisch das ernste Ringen um organisches Denken und Leben. Sie versucht füglich überall lebensnah und Leben erweckend und fördernd zu werden.“ (RS 1936 II, 1). Damit meint Pater Kentenich >>mechanistisches und organisches Denken. Der unerschrockene persönliche Einsatz für diese Überzeugung hatte ein vierzehnjähriges Exil (1951-1965) zur Folge. In den Jahren nach dem Exil bis zu seinem Tode 1968 hat er diese Denkform, die er auch „konstruktiv-organische Denkweise“ (Txt 31.5.1949, 99) oder „konstruktiv-organische Geistigkeit“ (ebd., 102) nennt, in vielfältigen Reflexionen vertieft und abgerundet.

4.2. Systematische Aspekte

Organisches Denken – so Pater Kentenich in einer gedrängten Skizze – „kann unter einem doppelten Gesichtspunkte betrachtet werden: unter dem Gesichtspunkte des Denkobjektes oder des Denkgegenstandes (ratione objecti) und des Denksubjektes oder Denkträgers (ratione subjecti).“ (Txt 31.5.1949, 102 f.). Die folgenden kurzen Ausführungen sind strukturiert nach den von Pater Kentenich genannten Gliederungspunkten – organisches Denken ratione objecti, ratione subjecti, ganzheitlich und perspektivisch – ergänzt durch einen in anderem Zusammenhang herausgestellten Aspekt: organisches Denken – synthetisierendes Denken.

4.2.1. Organisches Denken ratione objecti

Organisches Denken unter dem Gesichtspunkt des Denkobjektes, des Denkgegenstandes ist eine Sicht, die Erst- und Zweitursache verbindet. In seiner Auffassung vom Verhältnis zwischen Erstursache (Gott) und Zweitursache (Welt) geht Pater Kentenich von der analogia entis aus. Dieses Denken hat zwei Dimensionen: Transzendenz und Transparenz. Alles, was dem Menschen begegnet, verweist als geschaffenes Sein (Zweitursache) auf den Schöpfer (Erstursache) und ist somit Impuls für transzendierendes Denken. Es ist aber auch Botschaft vom Schöpfer an das Geschöpf und daher vernehmendes Denken (prophetische >>Dinggebundenheit).

Unter organischem Denken ratione objecti ist ferner eine Denkweise zu verstehen, die Idee und Leben in Wechselbeziehung zueinander sieht und lebensfremde Abstraktionen vermeidet. Was den konkreten Lebensweg der menschlichen Person betrifft, so ist in diesem Zusammenhang die Erkenntnis des >>Persönlichen Ideals (Exemplarursache) von Bedeutung.

Organisches Denken ist eine Erkenntnisweise, die das Leben nicht nur punktuell, sondern in seinen vielfältigen Beziehungen wahrnimmt. Diese Erkenntnisweise verbindet aber auch die Ideen miteinander. Einzelne Gedanken dürfen nicht aus ihrem Zusammenhang gerissen werden. Es ist nach Pater Kentenich ein Meisterstück, die einzelnen Gedankengänge in einen inneren Zusammenhang zu bringen (vgl. Txt 31.5.1949, 185 f.).

4.2.2. Organisches Denken ratione subiecti  

Organisches Denken unter dem Gesichtspunkt des Denksubjektes ist eingebettet in den ganzheitlichen Lebensvollzug der menschlichen Person. Die innere Erfahrung wird durch Denken in der nachfolgenden Reflexion zu deutlicher Erkenntnis. Das heißt, reflexes Bewusstsein nimmt durch explizites Denken die Spannung zwischen den intellektualen und emotionalen Kräften im Denksubjekt wahr. Organisches Denken als Erkenntnisweise lenkt im Denkträger Vernunft, Wille und Gemüt zu Spannungseinheit mit dem Ziel der Ordnungseinheit im Persönlichen Ideal. Das führt zu „Harmonie in Denk- und Lebensweise“ gemäß dem Selbstkonzept, soweit dies – theologisch gesehen – im erbsündlichen Zustand möglich ist. Der Mensch soll vom Persönlichkeitskern her ausreifen zu organischer Ganzheit. Hinsichtlich des organischen Denkens bedeutet das, der Mensch vermag vorzudringen zu intuitiver Wahrheitsschau (vgl. PhErz 1961, 84).

Pater Kentenichs Verständnis des „organischen Denkens“ bezieht demnach alle Dimensionen personalen Seins ein, auch das Irrationale und den Willen. „Wissen soll in Liebe und Leben umgeformt werden“ (LS 1952 II, 149). In diesem Zusammenhang spricht Pater Kentenich von cognitio vitalis, einer lebensmäßig-ganzheitlichen Erkenntnis, in Abhebung von einer einseitigen cognitio intellectualis (vgl. ebd., 148 f.). Besonders in der Beziehung zu Gott geht es nicht nur um eine verstandesmäßige Erfassung, sondern um eine „verlebendigte Erkenntnis“ (ebd., 149) der göttlichen Personen. Da zu organischem Denken wesenhaft die Dimension der Transzendenz gehört, ist die menschliche Person „mit Verstand, Wille und Herz mitschöpferisch mit Gottes schöpferischer Tätigkeit“ (NM, 393). Das heißt, organisches Denken ist schöpferisches Denken.

4.2.3. Organisches Denken – ganzheitlich und perspektivisch –

Pater Kentenich versteht unter organischem Denken ein ganzheitliches Denken, er vermeidet jede Vereinseitigung. Dieses ganzheitliche Denken führt nicht zu Extremen wie etwa Vitalismus, Irrationalismus oder Mystizismus (Krannhals). In bezug auf den Menschen ist der ganze Mensch gemeint, nicht nur seine mentale Innenwelt.

Organisches Denken wird von Pater Kentenich auch als dynamisches Denken verstanden. Er formuliert beispielsweise aus der Geschichte (Zeit) gewonnene Erkenntnisse zu Gesetzmäßigkeiten. Nicht nur, aber auch in diesem Zusammenhang nennt er organisches Denken perspektivisches Denken. So weist Pater Kentenich beispielsweise – wie Capra, aber anders akzentuiert – auf den Austausch der Kulturen hin. „Morgenland“ und „Abendland“ müssten sich aus ihrer je eigenen Perspektive im Dialog ergänzen. Der „abendländische Mensch“ sei zersetzt „vor lauter Aktivität“ (KW 1946, 156) und sollte sich daher ergänzen lassen durch kontemplatives, meditatives Denken.

4.2.4. Organisches Denken – synthetisierendes Denken –

Pater Kentenich versteht organisches Denken ferner als synthetisierendes Denken. Die Ergebnisse dieses synthetisierenden Denkens sind vielfältig (vgl. Schlosser, Organisches Denken, 176). Wenn Pater Kentenich in Konsequenz des seinsphilosophischen Ansatzes sein Denken „essentialistisches Denken“ nennt, ergänzt von einem „existentialistischen Denken“ (WT 1967, 184 f.), dann ist zu betonen, dass er im Seinsdenken immer die Transzendenz einbezogen, die Wirklichkeit nicht losgelöst von Gott versteht (vgl. WT 1967, 186). Organisches Denken in diesem Sinne kommt zu einem personalen Gottes- und Menschenverständnis. Das bedeutet, dass Denken zwar unterschieden, aber nicht getrennt wird – sowohl hinsichtlich des Denksubjektes als auch des Denkobjektes – vom personalen Grundakt des Glaubens (>>Praktischer Vorsehungsglaube).

Im Hinblick auf das Ergebnis dieses originellen Denken wird das Bemühen Pater Kentenichs verständlich, die Verbindung herzustellen „zwischen allen Zweigen der Wissenschaft und dem Leben“. Daraus folgt einerseits die Zusammenschau der in vielen Disziplinen gewonnenen Erkenntnisse vom Menschen, andererseits die Praxisnähe seines Forschens. Organisches Denken ergänzt in Bezug auf die >>Methode Empirie und Theoriebildung sowie philosophische Spekulation und Ergebnisse der Einzelwissenschaften, Induktion und Deduktion.


Literatur:

  • J. Kentenich, Texte zum 31. Mai 1949, Santiago de Chile 1974, 102 f., 269 272
  • J. Kentenich, Daß neue Menschen werden. Eine pädagogische Religionspsychologie. Vorträge der Pädagogische Tagung 1951. Bearbeitete Nachschrift, Vallendar-Schönstatt 1971, 264 S.
  • J. Kentenich, Weihnachtstagung 1967. Vorträge vom 27. bis 30.12.1967 an die Delegierten des internationalen Schönstattwerkes, verv.O, A 5, 221 S., 12. 78 f. 184-189
  • Organisches Leben und Lieben, Regnum 9 (1974) 171-183.
  • E. Badry, Zusammenhänge. Ein Beitrag zum „organischen“ Denken, Regnum 24 (1990) 12 25
  • H. King, Ganzheitliches Denken. Eine Zeitenstimme, Regnum 23 (1989) 16-27
  • H. Schlosser, Organisches Denken bei Pater Josef Kentenich, Regnum 20 (1986) 169 180
  • J. Schmiedl (Hrsg.), Auf der Suche nach ganzheitlichem Leben. Organisches Denken und marianische Kultur (Stuttgarter Beiträge 1), Vallendar Schönstatt 1991.
  • W. Birnbaum, Organisches Denken als Weg in die Zukunft, Tübingen 1983
  • W. Brugger, Die Erkenntnis, in: Grundzüge einer philosophischen Anthropologie, München 1986, 75-221
  • F. Capra, Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild, Bern-München-Wien 1983
  • P. Krannhals, Das organische Weltbild. Grundlagen einer neuentstehenden deutschen Kultur, München 1928 (²1936).

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

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