Geschlechtlichkeit

Geschlechtlichkeit

Christa Mücke

1. Der Mensch als Organismus
2. Eigenwert und Symbolwert
3. Geschlechtlichkeit und ihre Verwirklichung als Körpertrieb, als Seelentrieb und als schöpferischer Gestaltungs- und Entfaltungstrieb
3.1. Geschlechtlichkeit als Körpertrieb
3.2. Geschlechtlichkeit als Seelentrieb
3.3. Geschlechtlichkeit als schöpferischer Gestaltungs- und Entfaltungstrieb
4. Geschlechtlichkeit im Lebensvollzug

Die Bedeutung der Geschlechtlichkeit wird ersichtlich aus der Tatsache, dass es den Menschen “an sich” nicht gibt, es sei denn in seiner konkreten Ausformung als Mann oder Frau. “Als Mann und Frau schuf er sie” (Gen 1,27). Geschlechtlichkeit ist somit untrennbar mit menschlichem Sein verbunden und gibt ihm seine je eigene Dynamik und Färbung. Dies gilt vom Augenblick der Geburt an bis zum Tod. Geschlechtlichkeit bedeutet mehr als das Vorhandensein der primären Geschlechtsmerkmale. Sie meint bestimmte Eigenheiten der körperlichen, aber ebenso der seelischen und geistigen Verfasstheit eines Menschen. Neuere wissenschaftliche Erkenntnisse widerlegen Thesen wie etwa, dass Geschlechtsunterschiede zwischen >>Mann und >>Frau im seelischen und geistigen Bereich lediglich als Produkt der Erziehung verstanden werden müssten. Vielmehr bedingt die Steuerung des menschlichen Organismus durch Geschlechtshormone offenbar auch geschlechtsspezifische Strukturen im Denken und Empfinden. Die Bewusstmachung dieser Unterschiede gehört zu einer gelungenen Erziehung ebenso wie die Akzeptanz der eigenen Geschlechtlichkeit und die Bereitschaft, sich durch das andere Geschlecht ergänzen und im je individuellen Menschsein bereichern zu lassen. Diese Wertung und Deutung von Geschlechtlichkeit findet sich bei Pater Kentenich: “Das Geschlechtsleben gehört zum Kern, zum Wesen der Person… Das besagt, dass die Persönlichkeit den Geschlechtstrieb regulieren sollte. Personale Geschlechtlichkeit heißt dann aber auch, dass die Entfaltung des Geschlechtslebens nichts Unwürdiges ist. Es gehört ja zum Wesen der Persönlichkeit… Das kann in verschiedenen Formen geschehen: in der Form des ehelichen Lebens und in der Form des ehelosen Lebens… Das ist das Ideal, dass der Geschlechtstrieb sich in Abhängigkeit von der Geistigkeit der Persönlichkeit entfaltet und gleichzeitig die Persönlichkeit vollendet.” (WT 1967, 85 f.).

1. Der Mensch als Organismus

Die der griechischen Antike entlehnte und als methodisches Gerüst durchaus zulässige Einteilung des Menschen in Körper, Geist und Seele hat im Christentum durch viele Jahrhunderte hindurch dazu geführt, dass die Geschlechtlichkeit relativ ausschließlich nur dem Bereich “Körper” zugerechnet wurde. Ihre Interpretation beschränkte sich damit auf den natürlich-triebhaften Aspekt, ihre Sinnhaftigkeit schien mit der Zeugung von Nachkommenschaft erschöpft.

Nach der >>Organismuslehre Pater Kentenichs ist es nicht möglich, den Menschen in dieser Weise als ein Konglomerat von Einzelbereichen zu verstehen, die unabhängig voneinander betrachtet werden dürfen. Vielmehr müssen die verschiedenen Aspekte seines Wesens als einem organischen Ganzen zugehörig interpretiert werden, in dem alles mit allem in Verbindung steht. Diese organische Ganzheit “Mensch” steht ihrerseits wieder in dialogischem Austausch auf natürlicher und übernatürlicher Ebene.

Auf diesem Hintergrund wird Geschlechtlichkeit als eine den ganzen Menschen durchwirkende und bestimmende Kraft verständlich. Sie zu verdrängen oder zu negieren bedeutet eine Verkrüppelung der menschlichen Natur, und zwar in doppelter Hinsicht: Nicht zugelassene und verwirklichte Geschlechtlichkeit führt zu Mangelerscheinungen bei der Entfaltung des individuellen Menschseins bis hin zu Krankheiten im körperlichen, geistigen oder seelischen Bereich. Andererseits erfährt der Mensch aufgrund seiner Geschöpflichkeit seine Geschlechtlichkeit auch als geheimnisvolle Anteilnahme am Wesen und der schöpferischen Dynamik Gottes.

2. Eigenwert und Symbolwert

Insofern es eine Ähnlichkeit zwischen göttlichem und menschlichem Sein gibt, lässt sich die Struktur des Menschen auch definieren als Abbild (>>Zweitursache) des Urbildes Gott (>>Erstursache). Der Mensch in seiner geschlechtlichen Konkretisierung als Mann oder Frau ist somit ein inkarnierter Gottesgedanke. “…je nachdem mein Sein konstituiert ist, ob ich Mann oder Frau bin, so oder so geartet bin, ist es eine Erkenntnisquelle… Fassen wir jedes geschaffene Ding auf als ein Wort von und über Gott, so dürfen alle geschaffenen Dinge, sowohl die natürlichen wie die übernatürlichen, als ein großes Bilderbuch Gottes, als ein Lesebuch über ihn, als eine lebendige Gotteslehre angesprochen werden” (TxtVG, 214 f.). Nach der Auffassung von P. Kentenich geht es um die “gläubige Durchsichtigmachung alles Geschöpflichen und alles Geschlechtlichen” (OW 1967, 115), oder in anderen Worten um die gläubige Deutung der Geschlechtsorgane, des Geschlechtsaktes und des gesamten Geschlechtstriebs.

Alle Formen des männlichen und weiblichen Körpers einschließlich der Geschlechtsorgane haben, was ihr Aussehen und ihre Funktion betrifft, ihren Eigenwert, ihre Sinnhaftigkeit auf der rein natürlichen Ebene. Zudem weist ihr Symbolcharakter auf das Wesen Gottes hin: Offenheit, partnerschaftliches Mitwirken, bergender Halt, Aufgenommensein, In-die-Freiheit-entlassen-werden (Geburt!) sind in den weiblichen Geschlechtsorganen dargestellt; parallel dazu versinnbilden die männlichen Geschlechtsorgane schöpferische Dynamik, überströmendes Sich Verschenken, kraftvolles Planen und Vorwärtsstreben. Die Durchsichtigmachung des Geschlechtsaktes als Zeichen gegenseitiger Befruchtung, Bereicherung und Ergänzung verweist auf seelische und religiöse Grundveranlagungen des Menschen, wie sie in seiner Beziehung zu Gott zum Tragen kommen. Ähnliches gilt für Zärtlichkeiten und alle Formen der Zuneigung im seelischen oder geistig-geistlichen Bereich. Die intensive Freude, die der Mensch bei der Verwirklichung seiner Geschlechtlichkeit in vielfältiger Weise erfährt, lässt ihn Gott als die letzte Ursache dieser Gefühle begreifen und verhilft ihm so zu einer vertieften Freude an Gott.

Nach der Überzeugung von Pater Kentenich verfügt der Mensch in seiner gebrochenen Natur aber nicht mehr automatisch über die Fähigkeit, alles Wahrnehmbare auf Gott hin durchsichtig zu machen. Darüber hinaus erschweren “widergöttliche Kräfte” (P. Kentenich) den Zugang zu einer so intensiven Quelle der Gotteserfahrung und Gottesliebe, wie er sich im Bereich der Geschlechtlichkeit eröffnet. Es kann darum nicht verwundern, wenn im Lauf der Geschichte und auch in der Lebensgeschichte des einzelnen Menschen die Schätze der Geschlechtlichkeit oft nur schwer zu erschließen waren und sind.

3. Geschlechtlichkeit und ihre Verwirklichung als Körpertrieb, als Seelentrieb und als schöpferischer Gestaltungs- und Entfaltungstrieb

Nach dem Weltgrundgesetz (>>Weltgesetze) hat Gott aus Liebe dem Menschen die Geschlechtlichkeit geschenkt und ihm damit ein Instrument zur Verfügung gestellt, das ihn in hervorragender Weise befähigt zur Liebe zu sich selbst, zu anderen Menschen und letztlich zu Gott. Als eine der elementarsten Triebkräfte im Menschen will Geschlechtlichkeit so aus, durch und für Liebe entfaltet und verwirklicht werden. Dies geschieht nach der Auffassung von P. Kentenich in der “Dreigabelung des Geschlechtstriebes” (WT 1967, 114):

3.1. Geschlechtlichkeit als Körpertrieb

Auf dieser Ebene manifestiert sich Geschlechtlichkeit als Triebkraft, die den eigenen Körper zum Körper des anderen Geschlechts hinzieht, konkretisiert als Kontakt-, Berührungs- und Spieltrieb. Die im Zusammenwirken von Mann und Frau gegebene Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit wird im körperlichen Bereich besonders deutlich erkennbar. Alle Sinneswahrnehmungen können dabei mit einbezogen sein. Dadurch ist ein so intensives Erleben möglich, dass, wie im Fall der beim Geschlechtsakt erlebten Ekstase, die Realität der Umwelt nicht mehr wahrgenommen wird. Die Erfahrung einer solchen ganzheitlichen liebenden Vereinigung verweist – in sonst auf dieser Erde kaum erreichbarer Dichte – auf unser zukünftiges Leben in seliger Vereinigung mit Gott.

Die elementare Kraft des Körpertriebes wird um der von Gott dem Menschen zugedachten >>Freiheit willen allerdings nicht durch Instinkt reguliert, sondern zur schöpferischen Gestaltung in Eigenverantwortlichkeit anvertraut. Der Ursinn des Körpertriebes ist am intensivsten verwirklicht, wenn der Körper zum Ausdruck und Lebensbestandteil der Seele wird, ihr gleichwertig. Der Grad der körperlichen Nähe und Vereinigung entspricht dann dem Grad und Ausdruck der seelischen Nähe und Vereinigung. Die angemessene Haltung dem Körper gegenüber drückt sich dabei aus in Unbefangenheit und ehrfürchtiger Liebe.

3.2. Geschlechtlichkeit als Seelentrieb

Unter diesem Aspekt meint Geschlechtlichkeit die seelische Anziehungskraft zwischen Mann und Frau, die erotische Kraft im weitesten Sinn des Wortes. Männliche und weibliche Seele wollen und sollen sich finden und ergänzen, einander Geborgenheit schenken. Aus diesem Boden erwachsen vielfache Formen von Liebe, die geeignet sind, jeden Menschen in einem weit verzweigten >>Bindungsorganismus zu stützen und seine Liebesfähigkeiten zu entfalten. Dazu gehört die Liebe zwischen Mann und Frau in der Partnerschaftsform der Ehe ebenso wie alle Formen freundschaftlicher, mütterlicher, väterlicher oder kindlicher Liebe. Sie sind gefärbt durch die Geschlechtlichkeit des liebenden ebenso wie die des geliebten Menschen. Es ist nach P. Kentenich “das Normalste von der Welt, dass ich als Mann ein Mädchen, eine Frau, eben das andere Geschlecht, anders empfinde als das eigene” (WT 1967, 89). Gleiches gilt von der Frau. Es ist selbstverständlich, dass jeder Mensch, also auch der zölibatär oder im jungfräulichen Stand lebende, seine Liebeskraft dem anderen Geschlecht gegenüber in warmer Herzlichkeit entfalten darf und soll. Entscheidend ist dabei, dass Beseelung und Durchgeistigung die natürlich-naturhafte Zuneigung tragen und beleben. So sieht P. Kentenich die organische Entfaltung und den gottgewollten Gebrauch der menschlichen Geschlechtlichkeit in allen Formen personaler Selbstverwirklichung.

3.3. Geschlechtlichkeit als schöpferischer Gestaltungs- und Entfaltungstrieb

Geschlechtlichkeit als Teilhabe an göttlich-schöpferischer Gestaltungsmacht äußert sich in einzigartiger Weise im Kind als der Frucht liebender Begegnung. Daneben will aber jede Form von Liebe sich verwirklichen dürfen in Worten, Zeichen und Taten. So wird Geschlechtlichkeit zum Impuls für eine Vielfalt gestaltender Tätigkeiten, angefangen von Gesten, Blicken, Äußerungen im zwischenmenschlichen Bereich über die Gestaltung von Wohn- und Lebensräumen, die Schaffung von Strukturen in Gemeinschaften und Staaten, den engagierten Einsatz in Wissenschaft und Forschung, die Eroberung neuer Gebiete im weitesten Sinn des Wortes, den hingebungsvollen Einsatz im Dienst am Menschen bis hin zur Fülle künstlerischen Schaffens in allen möglichen Bereichen. Auch bei der Verwirklichung des schöpferischen Gestaltungs- und Entfaltungstriebes lassen sich geschlechtsspezifische Akzente feststellen und daraus resultierend ein weites Feld gegenseitiger Anregung und Inspiration. P. Kentenich betont, dass bei freiwilligem oder unfreiwilligem Verzicht auf die konkrete Betätigung des Körpertriebes dessen Kraft zu integrieren ist und dadurch fruchtbar wird in schöpferischer Tätigkeit und Entfaltung.

4. Geschlechtlichkeit im Lebensvollzug

“Geschlechtliche Erziehung ist zutiefst organisch-ganzheitliche Liebeserziehung.” (WT 1967, 90). Auf dem Hintergrund dieser Devise vollzieht sich für P. Kentenich die Verwirklichung der Geschlechtlichkeit im menschlichen Leben. Bereits das Kleinkind lernt aus dem unbefangenen und ehrfürchtigen Umgang der Eltern mit seinem (und ihrem) Leib ganz selbstverständlich seinen eigenen Körper und damit die ihm innewohnende Geschlechtlichkeit schätzen, achten und lieben. So gelingt relativ mühelos die Identifikation mit der eigenen Geschlechtlichkeit “Ich will Geschlechtswesen sein, wie der liebe Gott mich geschaffen hat” (WT 1967, 89). Begleitet wird diese erste Erfahrung von einer dem Alter des Kindes entsprechenden Vermittlung von präzisem Sachwissen, das Geschlechtlichkeit vor allem als ein wunderbares Geschenk Gottes an den Menschen interpretiert. Besonderen Wert legt P. Kentenich dabei auf die Pflege des Schamgefühls, auf das wir stoßen, wenn wir “den eingewurzelten Urtrieben nachgehen bis in die feinsten Verästelungen” (WT 1967, 95). Die Pubertät erfordert oft eine sehr radikale Auseinandersetzung mit der neuen Leiblichkeit und Triebhaftigkeit, mit denen der Jugendliche erst umgehen lernen muss. Hinzu kommt, dass die körperliche Geschlechtsreife heute früher eintritt als noch vor einigen Jahrzehnten, während die seelische Reife sich verzögert. Das erschwert die Lenkung des Triebes durch geistig-seelische Elemente.

Im konkreten Lebensvollzug gelingt diese Integration nicht leicht und ist in unterschiedlichen Situationen je neu zu erringen. Versagen innerhalb dieses Prozesses wertet P. Kentenich nicht vorschnell als schwere Sünde. Vielmehr versucht er das positive Gegenbild – das Ideal geglückter ganzheitlicher Liebe – vor Augen zu stellen. Dieses Ziel wird erreichbar über die Gnade der Gotteskindschaft, die den Zwiespalt zwischen Trieb und Geist auflösen kann. Das bedeutet jedoch niemals die Negierung des Geschlechtlichen. Ausdrücklich wendet sich P. Kentenich gegen jegliche Tabuisierung der Geschlechtlichkeit im Namen der Religion. Entsprechend seiner Berufung bejaht und lebt so der Mensch in allen Altersstufen seine Leiblichkeit und Geschlechtlichkeit und bemüht sich um Vollendung seiner Persönlichkeit durch die Einbeziehung gegengeschlechtlicher Werte. Durch die Pflege aller Formen wahrer Liebe reift er heran zum “Meister der Liebe” (Anspr 14.8. 1966, 12).

Aber auch den zölibatär oder jungfräulich lebenden Menschen will P. Kentenich nicht als “Hungerkünstler der Liebe” (Anspr 14.8. 1966, 12) durchs Leben gehen sehen. Er ist zu gleicher Meisterschaft aufgerufen wie der eheliche Mensch. Deshalb pflegt auch er alle Formen der Liebe, die dem jungfräulichen Menschen aufgetragen sind: kindliche, brüderliche/schwesterliche, partnerschaftliche, väterliche/mütterliche Liebe und vor allem seine Liebe zu Gott. Lediglich die Formen der ehelichen Liebe bleiben ausgeschlossen. Dafür entfaltet er umso intensiver seine Geschlechtlichkeit als schöpferischen Gestaltungstrieb im Einsatz für andere Menschen oder die vielfältigen Belange der Sache Gottes in Kirche und Welt.


Literatur:

  • J. Kentenich, Desiderio desideravi. Milwaukee-Terziat (1962-1963), verv., A 5, elf Bände IX-XI
  • J. Kentenich, Exerzitien für das internationale Studentat in Münster (22.-25.8.1967), verv., A 5, 260 S., 187-219
  • J. Kentenich, Ansprache bei der Einkleidungsfeier (3. September 1967), verv.W, A 5, 32 S.
  • J. Kentenich, Weihnachtstagung 1967. Vorträge vom 27. bis 30.12.1967 an die Delegierten des internationalen Schönstattwerkes, verv.O, A 5, 221 S., 74-125
  • G.M. Boll, Geschlechtlichkeit im Verständnis Pater Kentenichs, Regnum 18 (1983) 99-115

Schönstatt-Lexikon:

Herausgeber: Internationales Josef-Kentenich-Institut für Forschung und Lehre e.V. (IKF)

Verlag: Patris-Verlag, Vallendar-Schönstatt – All rights by Patris-Verlag – www.patris-verlag.de

Online-Präsentation: Josef-Kentenich-Institut e.V. (JKI) – www.j-k-i.de

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