Mehrfach bezeugte Pater Kentenich, dass seine Jugend- und Studienzeit stark geprägt war von seelischen Kämpfen, die er selbst als „Zwang“ bezeichnete. Hier sind einige Stellen angeführt, in denen er selbst seine damalige Situation beschreibt. Der psychologische Hintergrund, der hier aufscheint, erleichtert denjenigen, die mit sich selbst zu ringen haben, eine größere Identifikation mit einem geistlichen Vater; er wirft Licht auf die originelle Reifungsgeschichte des Gründers und auf das besondere erzieherische Wirken der Gottesmutter.
Das letzte hier am Schluss wiedergegebene Zitat aus der Apologia ist fortgesetzt im Text 7 über „Väterliche Erziehung heute“. Es empfiehlt sich, diese beiden Texte zusammen zu lesen.
Ich habe später öfters dargestellt: Was ich persönlich erlebt habe, war natürlich ein gewisser psychischer Zwang. Und wie viele Zwänge gibt es heute überall! Das Objekt ist allerdings oft anders als bei mir. Aber so reif muss ja wohl ein Mensch sein und werden, dass er die wesentlichen Strukturlinien des einen Zwanges auf die anderen Zwänge übertragen kann. Ich darf vielleicht auch noch beifügen: Ich habe den Irrtum begangen, den viele begehen, ich habe eine metaphysische Sicherheit verlangt und erwartet. Die gibt es natürlich nicht. Eine philosophisch-metaphysische Sicherheit über die Glaubensgrundlagen gibt es überhaupt nicht. Und wenn ich erst an die einzelnen Wahrheiten denke!
Dazu kam bei mir eine eigenartige Einstellung zum Leben. Wenn man unter solchen Problemen leidet und ein Wahrheitsfanatiker ist, der überall Wahrheit bis zum äußersten verteidigt und bereit ist, dafür alles herzugeben, wenn man darüber hinaus den Sicherheitsgrad so stark übersteigert, dass man überall metaphysische Sicherheit haben will, dann hatten Kleinigkeiten, die jeder von uns durchkostet, für mich damals eine große Problematik im Gefolge.
Ich habe einen Frater bei den obersten Kursen im Sinn. Der war an sich gut begabt. Wenn der so plauderte, da war wenigstens 99% gelogen. Es gibt ja solche Menschen, die können liebenswürdig unterhalten, aber alles ist irgendwie „gelogen“. Vielleicht ist das übertrieben ausgedrückt.
Nehmen wir also einmal an, jemand kann glänzend über dogmatische Wahrheiten und Fragen sprechen. Sofort stieg dann in mir die zweifelnde Frage auf: Glaubt er denn wirklich, dass das wahr ist, was er sagt? Ist er wirklich davon überzeugt?
Sehen Sie, das war ein gewisser Wahrheitszwang in mir.
(Milwaukee-Terziat (1963), 9. Vortrag (Band 1, S. 199f))
Darf ich einmal ein wenig den Schleier von meiner Vergangenheit lösen? Von meinem Eintritt ins Noviziat bis zu meiner Priesterweihe und noch etwas darüber hinaus hatte ich ständig die wahnsinnigsten Kämpfe zu bestehen. Von innerem Glück und Zufriedenheit nicht die geringste Spur. Wurde von meinem Seelenführer nicht verstanden und hatte bei meiner ungesunden rationalistisch-skeptischen Gedankenrichtung nur geringen übernatürlichen Halt. Das waren wahnsinnige innere und äußere, das heißt geistige und dazu noch körperliche Leiden.
(Brief an Josef Fischer (1. Präfekt), 11. Dezember 1916)
Nachdem in mir selbst nach langen, heftigen Kämpfen der Rationalismus und der Skeptizismus des abklingenden 19. Jahrhunderts und die damals herrschende apologetische Auffassung des Christentums innerlich überwunden war, trat Schönstatt in die Geschichte mit einer klaren, unentwegt festgehaltenen Auffassung von christlicher Existenz und christlicher Erziehung ein.
(Studie 1957/58)
Der mit den skeptischen Anfällen der Reifejahre verbundene Kampf auf Leben und Tod um meine geistige Existenz nahm mit der Zeit eine Art Zwangsnot an, die Leib und Seele bis ins Mark erschütterte, schließlich aber doch siegreich überwunden wurde. Diese Erlebnisse befähigten mich in späteren Jahren, jegliche Art von Zwang – auch auf niederer und niederster Ebene – schnell zu durchschauen und mit der Diagnose auch die Prognose mit einiger Sicherheit zu geben. Der Inhalt der Zwangsnot mag je und je verschieden sein, der formelle Ausdruck und Rhythmus ist jedoch im Wesentlichen durchweg derselbe. Ein ausgebildetes Assoziationsvermögen tut sich deshalb nicht schwer, vom einen Fall auf den anderen zu schließen und eine universelle Heilmethode mehr oder weniger selbständig zu erarbeiten und zu künden.
(Apologia (1960), 178)
Die hier zugrundeliegenden und angewandten Prinzipien sind uralt; sie haben deshalb mit Psychoanalyse nichts zu tun, es sei denn, man berufe sich darauf, dass diese junge, umstrittene Wissenschaft sie neu beleuchtet und erhärtet hat. Seit Menschengedenken gilt als Seelsorgsregel, dass ein einwandfrei festgestellter seelischer Zwang nicht durch Zwang überwunden wird, sondern durch demütiges Ertragen und durch erhöhte kindliche Hingabe gelockert und gelöst werden muss. Ungezählt vielen Menschen habe ich durch sinngemäße Anwendung dieser Regel in schwierigsten seelischen Lagen helfen können. Um nur einen Fall hervorzuheben, der gleichzeitig als Anschauungsunterricht betrachtet werden will, mache ich darauf aufmerksam, dass eine im Rufe der Heiligkeit verstorbene Schwester ihr die Bewahrung vor dem Irrenhause und den Aufstieg zu heroischer Heiligkeit verdankt (7). Ich hoffe, an diesem Beispiel einmal die ganze hierher gehörende Welt aufschließen und weiteren Kreisen verständlich machen zu können.
(Apologia (1960), 107)
Schönstatt-Lexikon Online: Tiefenpsychologie
(7) Hier ist Bezug genommen auf Sr. M. Emilie Engel, 1893 – 1955. Biographien: Wolff Margareta, Mein Ja bleibt, Schönstatt-Verlag, 2000. Schönstätter Marienschwestern, Emilie Engel, Ein Leben für Gott und die Menschen, 1998 (Englische Übersetzung: Emilie Engel, Schoenstatt Sister of Mary, 1999).