Bedeutung des Textes:
Der vorliegende Text mag beeindrucken durch seine weit ausgreifende Zusammenschau von heilsgeschichtlichen Zusammenhängen und kultureller Gegenwartsbedeutung des Verhältnisses von Mann und Frau. Maria, die Sendung der Frau, die sexuelle Identität von Mann und Frau, die Auseinandersetzung zwischen dem Reich des Teufels und dem Gottesreich kommen zur Sprache und werden in einer geistigen Gesamtschau miteinander verbunden.
Vom pädagogischen Gesichtspunkt aus bietet der Text Hilfen an, auf dem Hintergrund einer verunsicherten Gesellschaftssituation männliche und frauliche Identität zu stärken.
Der geschichtliche Hintergrund:
Nach seiner Rückkehr aus dem Exil in Milwaukee hielt sich P.Kentenich zwei Monate lang in Rom auf, ehe er am Heiligabend nach Schönstatt zurückkehren durfte. Die 2.Session des Vatikanischen Konzils war gerade im Gange. Er benutzte den Monat Dezember, um die Obern der verschiedenen Schönstätter Verbände zusammenzurufen und zu schulen. Der ausgewählte Vortrag vom 17.12.1965, Seite 184-195, richtet sich primär an die Frauengemeinschaften (Marienschwestern und Frauen von Schönstatt).
Was im Sinne der heutigen Kultur bedeutungsvoller ist, ist die Frage: Wie erfülle ich als jungfräuliche Frau meine Sendung dem anderen Geschlecht, ja der ganzen Zeit- und Weltkultur gegenüber? Die Frage geht hier also mehr an die Adresse des anderen Geschlechts und im weiteren Sinn an die Adresse der gesamten heutigen Kultur, einer Kultur, die, wie wir ja alle wissen, ungemein in Erschütterung geraten, wurzellos geworden ist.
Ich will zu Beginn ein Wort aus der Heiligen Schrift zitieren, drehe mich dann einmal nach rechts, dann nach links, um in etwa verständlich zu machen, was der liebe Gott durch uns als kleine Maria der heutigen Welt schenken möchte. Ich erinnere an das, was uns in der Heiligen Schrift vom Fall der Engel gesagt wird. Nachdem die Engel gesündigt hatten, schleuderte Michael sie auf die Erde. Was heißt das: er schleuderte sie auf die Erde? Das wird zunächst heißen: er schleuderte sie in die Hölle. Es heißt aber auch: unter die Menschen, damit sie nun unter den Menschen eine eigenartige Sendung erfüllen (9). Ob das der Wortsinn ist? Jedenfalls entspricht es so der Auffassung der Heiligen Schrift und der Tradition über die gefallenen Engel. Es kommt aber vor allem auf das an, was noch hinzugefügt wird: „Als der Drache sich auf die Erde gestürzt sah, verfolgte er die Frau“ (10).
Hier müssen Sie nun stehen bleiben. Er verfolgte die Frau! Eine alte Sage erklärt – wenn es auch eine Sage ist, so steckt doch ein tiefer Sinn darin -, wenn eine Schlange sich in einem Kreis von Menschen verliert, züngelt sie immer zunächst nach der Frau.
1. Was heißt das: er verfolgte die Frau! Unter „Frau“ kann und muss wohl zunächst die Gottesmutter verstanden werden. Er verfolgte die Gottesmutter! Was setzt das voraus? Es steht zwar nicht in der Heiligen Schrift, die Theologen folgern es vielmehr aus dem Gesamtgefüge der Heilsordnung. Es ist das allgemeine Gesetz: Wenn Gott in seiner überquellenden Liebe uns aus seinem Reichtum Geschenke anbietet, pflegt er gemeiniglich zur Verewigung dieser Geschenke ein Prüfungsgebot zu geben. Die Verewigung dieser Geschenke soll davon abhängig sein, ob das Geschöpf das Gebot erfüllt oder nicht.
Wenden Sie dieses Gesetz zunächst auf die Ausstattung der Stammeltern an. Wie reich waren sie ausgestattet! Die Verewigung ihrer Ausstattung war aber vom Bestehen eines Prüfungsgebotes abhängig. Denken Sie an all das, was wir von der Erbsünde, vom vor- und nacherbsündlichen Zustand wissen.
Nun angewandt auf die Engel: Auch hier muss wohl das allgemeine Gesetz gelten. Sie waren reichlich, überreichlich ausgestattet! Sie mögen das in der Dogmatik unter dem Kapitel über die Engel nachlesen. Darum auch hier ein Prüfungsgebot. Worin es bestand, steht nicht in der Heiligen Schrift. Das will aus dem Gesamtgefüge der Heilsordnung einigermaßen verständlich werden. Es gibt nicht wenige Theologen, die sich auf den Boden stellen, der ewige Vatergott habe den Engeln seinen Heilsplan erschlossen und ihnen seine Absicht mitgeteilt, eine Kreatur so hoch über sie zu erheben, dass sie der inkarnierte Gottessohn sein sollte. Welche Kreatur sollte das sein? Die menschliche Natur des Gottmenschen! Und aus welcher Person sollte die Person des Gottmenschen die menschliche Natur annehmen? Aus der Person der lieben Gottesmutter! Diese Mitteilung war für die Engel gleichzeitig eine Art Prüfung. Es mag verständlich sein, was die Theologen uns sagen: Luzifer sei mit seinem Anhang aufgestanden und habe sich gegen die Pläne Gottes gesträubt aus dem Gedanken: Wenn Gott sich schon mit einer geschöpflichen Natur verbindet, dann kann das nur die meine sein.
Wenn Sie diese Gedanken festhalten wollen – das dürfen wir ja, weil kein Verbot besteht, die Heilsordnung selbständig zu durchdenken -, verstehen wir, was das Wort nunmehr zu besagen hat: „Und er verfolgte die Frau!“ Die Frau, das heißt die Gottesmutter, aus der die zweite Person der Gottheit die menschliche Natur annehmen sollte. Er verfolgte die Frau und in der Frau die Gottesmutter. Was als Zwischengedanke zu erörtern wäre, wäre dies: Der Teufel wusste nicht, wann die Gottesmutter auf der Welt erscheinen würde. Als die erste Frau kam, glaubte er, Eva sei die Frau, die er verfolgen müsste. Deswegen wandte er alle Macht und Tücke an, um diese Frau auf seine Seite zu bringen, aus der, wie er glaubte, die zweite Person der Gottheit die menschliche Natur annehmen sollte.
Er verfolgte die Frau! Vergessen Sie aber nicht – und das sagt uns nicht nur die Theologie, sondern auch die Philosophie und Psychologie -, von welcher Bedeutung die Frau für den Mann ist. Es wird ja gerne darauf hingewiesen, in welcher Weise Eva Adam beeinflusste und in welchem Ausmaß Adam vom Einfluß der Frau abhängig war.
Er verfolgte die Frau! Wir haben ein Recht zu sagen: Er verfolgte nicht nur die Gottesmutter, sondern alle Abbilder, alle Geschlechtsgenossinnen der Gottesmutter. Er verfolgte die Frau! So verstehen wir auch, dass der Teufel, wenn er Einfluss ausüben will auf die gesamte Kultur und die gesamte Menschheit, in erster Linie die heutige Frau verfolgt. Wenn er sich selber einigermaßen treu bleiben und als Kenner der Naturgesetze die innere Beziehung zwischen Mann und Frau berücksichtigen will, halten wir es für selbstverständlich, dass er im Interesse des Falles der Männer ungeheuerlichen Einfluss auf die Frau ausübt. Hat er die Frau, hat die Frau sich in seine Netze verstrickt, bietet sie sich an als Werkzeug in seiner Hand, dann wird sich das Ereignis des Sündenfalles ungezählt viele Male wiederholen. Er verfolgte die Frau!
Wenn wir diese Gedanken innerlich als richtig anerkennen, spüren wir, welche Sendung wir haben, ob es sich um die eigene Familie oder um unsere Geschlechtsgenossinnen handelt. Als Frauenbewegung haben wir ja zunächst die Aufgabe, der heutigen Welt die kleine Maria in ungezählt vielen Gestalten vorleben zu helfen. Wir insgesamt haben die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass aus der heutigen Frau wieder und wieder eine kleine Maria „geschnitzt“ wird. Die große Aufgabe, die kleine Maria der heutigen Welt vorzuleben, ist gleichzeitig ein lebendiger, flagranter Protest gegen alle Diabolisierung des eigenen Geschlechtes durch den Teufel. – Das war der erste Gedanke.
2. Ein zweiter Gedanke! Es geht immer um den Einfluss der Frau auf den Mann und damit auf die gesamte Kultur. Dazu zwei Worte.
Das eine Wort – es stammt von Goethe – ist uns bekannt: „Das Ewig-Frauliche zieht hinan!“ (11). Lassen Sie mich das Wort so deuten, wie ich vermeine, dass es den Kern trifft. Dann muss ich so sagen: Das Ewige in der rau zieht hinan! Man mag in der Frau etwas Ewiges und etwas Zeitbedingtes unterscheiden und das Zeitbedingte als diabolisch betrachten. Wenn ich jetzt die Frau unter der Herrschaft des Diabolischen, sehe, dann ist es klar, dass die Frau nicht hinan-, sondern hinunterzieht. Was ist das Ewige in der Frau? Das ist das, was ich mit den drei Ausdrücken umrissen habe: Ganz Seele, ganz Hingabe, ganz Reinheit. Dieses Ewige in der Frau zieht den Mann hinan, zieht ihn nach oben.
Lassen Sie mich den Gedanken einmal anders formulieren. Dann hole ich das Wort aus dem Sprachschatz des heiligen Bernhard von Clairvaux hervor. Er drückt den Gedanken klarer, religiöser, katholischer aus: „Non erigitur vir nisi per feminam!“ Der Mann wird nicht erlöst, es sei denn durch die erlöste Frau. Das will als allgemeines Gesetz gesehen werden.
Natürlich werden Sie jetzt kritisch fragen, wie der Ausdruck unmittelbar gemeint ist. Der Mann ist der Sünde verfallen, er ist aus der Erlösungsordnung herausgerissen. Wodurch? Durch die Frau. Das hätte zwar auch anders sein können, aber tatsächlich ist er gefallen durch die Frau. Freilich lässt sich nachweisen, dass der Mann selbst die Entscheidung getroffen hat. Das ist klar. Aber der Anlass dazu war halt doch letzten Endes die Frau. Weil also der Mann nicht gefallen ist ohne die gefallene Frau – non erigitur vir nisi per feminam -, wird er im Vollsinn auch nicht erlöst, es sei denn durch die Frau, durch die Gottesmutter.
Mir scheint, wir sollten solche Gedanken zu unseren Lieblingsgedanken machen, wir sollten sorgen, dass sie nicht nur den Kopf beherrschen, sondern auch hineinsinken in das Herz, ja in die Hände und Füße. Wenn wir nicht lebendige Verkörperungen der objektiven Wahrheiten werden, dürfen wir nicht damit rechnen, dass wir unverwundet durch die heutige Welt hindurchkommen. Wiederum ein Grund, der uns anregt, das „esse in se“ (12) zu betonen, beieinander zu sein, unsere Welt miteinander zu leben und zu lieben, die Wirklichkeiten geistig zu durchdringen und bei aller Urwüchsigkeit und Ursprünglichkeit einander vorzuleben, wie eine erlöste Frau, eine kleine Maria für heute aussieht.
Natürlich liegt das Problem in dem Wort „für heute“. Was täte die Gottesmutter, wenn sie heute existierte, und zwar nicht wie damals in Nazareth, sondern – sagen wir einmal – in Berlin, überall in den Zentren der heutigen Kultur? Was täte sie?
Non erigitur vir nisi per feminam! Das Wort gilt auch für mich, gilt für uns alle. Ich mag Gott weiß was für eine Mannesgestalt darstellen, ich werde nicht erlöst ohne die Gottesmutter. Der Mann ist nicht gefallen ohne die Frau, er wird auch nicht ohne sie erlöst.
Ich gehe jetzt einen Schritt weiter. Non erigitur vir nisi per feminam! Ob Sie es gleich verstehen, wenn ich jetzt sage: Der Mann wird nicht erlöst, es sei denn durch die kleine Maria!? Die erlöste Frau, die wirklich erlöste Frau muss zunächst durch ihr Sein mithelfen, auch den Mann zu erlösen. Wenn Sie wollen, dürfen Sie das Wort, das wir aus dem paulinischen Sprachschatz kennen, jetzt umprägen und sagen: Nicht mehr ich lebe, sondern die Gottesmutter lebt in mir (13). Die große Maria lebt in der kleinen Maria.
Nicht wahr, wenn wir diese Zusammenhänge so ganz tief fassen und geistig durcharbeiten, so dass wir gar nicht mehr anders denken können, so dass das nicht nur angeklebte Gedanken sind, die ich mühsam wieder aus meinem Gedächtnis hervorhole, wenn ich darin lebe wie ein Fisch im Wasser, wie der Vogel in der Luft, wenn diese Welt so meine Welt geworden ist, dann bin ich einfach beheimatet, dann bin ich letzten Endes der Bürger einer anderen Welt. „Euer Wandel soll im Himmel sein!“ (14). Dann bin ich beheimatet in dieser großen Weltauffassung, Zeitauffassung, Kulturauffassung, in der ewigen, der unendlichen Liebe. Non erigitur vir nisi per feminam! Wenn Sie das festhalten, spüren Sie dann nicht, dass Sie neue Normen für die Selbstbewertung und Selbstbeurteilung haben, auch wenn es sich um kleine und kleinste Dinge handelt? So leichtfertig werden Sie dann nicht sagen: Der und jener macht das und das, warum kann ich das denn nicht auch tun, zumal heute alles am Wanken ist? Wem kann ich denn heute noch trauen, wem noch glauben?
3. Non erigitur vir nisi per feminam! Ich darf das Wort noch einmal anders deuten: Ohne das Frauliche, ohne die Pflege der fraulichen Art auch in der Mannesseele, gibt es für den Mann keine Erlösung. Wir haben schon mehrfach erörtern dürfen, dass der Unterschied zwischen Mann und Frau, zwischen männlicher und fraulicher Seele nicht so groß ist, wie das vielfach vermutet oder vorausgesetzt wird. Wir wissen ja, von Hause aus ist die Seele geschlechtslos. Wenn das tatsächlich der Fall ist, wenn sie nur geschlechtlich wird durch die Einformung in einen männlichen oder Fraulichen Körper, muss in der Mannes- wie in der Frauenseele ungemein viel Gemeinsames sein. Und was ist in der Mannes- und Frauenseele vor allem gemeinsam? Das ist eine frauliche Anlage. Wenn nicht auch in der Mannesseele eine frauliche Anlage wäre, könnte man den Zölibat, die Jungfräulichkeit des Mannes, überhaupt nicht verstehen. Wir als Priester müssen uns bemühen, die Ergänzung durch das Frauliche letzten Endes in uns selber zu finden. Natürlich sagen Sie mit Recht: In etwa gilt das auch von der Frauenseele dem Männlichen gegenüber. Zweifellos! Das sind alles gigantische Zielsetzungen für die heutige Selbsterziehung, für die Rettung der heutigen Kultur.
Non erigitur vir… Ohne lange philosophieren zu wollen, darf ich jetzt sagen: Ich werde nicht erlöst – wenn ich den Ausdruck gebrauchen darf – von meinem unartikulierten Indianertum, wenn nicht das frauliche Element in meiner Seele in entsprechender Weise entfaltet wird. Wir kommen gleich noch einmal darauf zu sprechen, wenn wir die Metaphysik der Frau ein wenig tiefer nach allen Richtungen hin erörtern. Was heißt das? Das „volo“ muss durch das „fiat“ ergänzt werden. Anders ausgedrückt: Die Fiatgesinnung, die Kindesgesinnung muss gepflegt werden. Auch der Mann wird nicht erlöst, wenn nicht das Kind in ihm geweckt wird. Ich kann das so oder so nennen, es ist immer ein Hilfswort für das, was wir suchen. Wir müssen nur wissen, was gemeint ist. Es gilt also auch für mich als Mann: „Wenn ihr nicht werdet wie das Kind!“ Das gilt nicht nur für die Frau. Wenn wir nicht alle eine neue Kindwerdung erleben, erleben wir keine neue Menschwerdung, keine neue Mannwerdung, keine neue Frauwerdung.
Wenn Sie die Dinge so umrissen sehen, bekommen die scheinbar kleinen und geringfügigen Fragen, über die man lächeln möchte, doch eine ungeheuere Bedeutung; etwa wie ich mich kleide, wie ich meine Haare trage, welche Manieren ich habe…. Wir sollten immer versuchen, das Kleinste im großen Zusammenhang zu sehen. Wenn uns das glückt, ist das Kleinste oft das Größte, und was das Größte scheint, oft das Kleinste.
Schönstatt-Lexikon ONLINE: Frau
(9) vgl. Off. 12,9
(10) Off. 12,13
(11) Zitat aus Goethe, Faust.
(12) Wörtlich „In sich sein“. In der Zeit des Konzils und den Jahren danach, in denen sich in der Kirche viele Umbrüche vollzogen, betonte P. Kentenich sehr, die Schönstattfamilie möge sich zunächst auf ihre eigenen Quellen besinnen – zumal Schönstatt die Entwicklungen des Konzils vorweggenommen habe –, sich nicht einseiitig dem Dialog mit der Welt öffnen und nicht so sehr nach all dem schielen, was in diesen Jahren in der Kirche modern erschien und was zuerst auf seine Haltbarkeit in Lehre und Leben überprüft werden müsse.
(13) Vgl. Gal.2,20
(14) Phil. 3,20. Heute meist übersetzt mit „Heimat im Himmel“ oder „Ihr seid Bürger des Himmels“.