Im vorausgehenden Text sind wir schon den drei Kriterien begegnet, auf denen Pater Kentenich seine „Prinzipienlehre einer modernen Jugendaszese“ aufbaut: Linie, Taktik und Konsequenz. Die klare Linie bezieht sich dabei auf die ethische Grundhaltung des Erziehers: Priesterliche Väterlichkeit, beziehungsweise priesterliche Mütterlichkeit.
Mit „Taktik“ meint Pater Kentenich die Grundhaltung des erzieherischen Vorgangs. Er ist bestimmt von den beiden Komponenten Liebe und Ehrfurcht. Dabei kommt in der heutigen Zeit der Ehrfurcht eine besondere Bedeutung zu. Deshalb auch der entsprechende Akzent im vorliegenden Text.
Er ist entnommen „Ethos und Ideal in der Erziehung“, Vallendar 1972, 231 – 246.
Die folgenden Vorträge wollen auf die einzelnen Gesetzmäßigkeiten der Taktik eingehen. Ich hebe drei Gesetzmäßigkeiten hervor:
1. die Kunst des Aufschließens. – Wir wissen alle aus Erfahrung, wie wichtig und schwierig diese Kunst ist. Was soll ich aufschließen? Das Herz meines Gegenübers.
2. die Kunst des Hörens, und zwar die Kunst des Zuhörens und des Heraushörens.
3. die Kunst des erleuchteten Führens.
Das sind die drei Gesetzmäßigkeiten der Taktik.
Also heute Abend besprechen wir die Grenzen und Möglichkeiten der Taktik.
Weshalb ich auf die Grenzen der Taktik aufmerksam mache? Aus dem eben angegebenen Grunde: Es muss unbedingt ein Abwehrgefühl da sein, wenn man nur das Wort „Taktik“ hört. Vielleicht wird das Abwehrgefühl schon in etwa gemildert, wenn wir uns sagen: Es ist ein Lehnwort, und in allen derartigen Lehnwörtern liegt meist etwas Extremes.
Überlegen Sie bitte einmal, welche anderen Lehnwörter noch auf die Pädagogik angewandt werden. Wir nehmen das Wort „Taktik“ aus der Kriegswissenschaft, sprechen vom Erzieher als Baumeister, als großer Gärtner, als guter Hirt. Wenn Sie alle derartigen Bilder und Lehnwörter auf sich wirken lassen, dann werden Sie bald finden: Es sind ganz wenige Ausdrücke, die aus der Tierwelt genommen werden. Bei einem Wort liegt es auf der Hand: der gute Hirt. Aber darin liegt etwas Gütiges.
Wenn wir die drei Seinsstufen unterscheiden – animalisches, sensitives und intellektuelles Leben -, dann sollte man meinen, es würde näher liegen, die Lehnwörter aus dem sensitiven Leben zu nehmen. Weshalb haben wir Abwehrgefühle bei Vergleichen mit Tieren? Da klingt etwas mit wie „Tierbändiger“. Da ist die Gefahr sehr groß, dass wir mit der Zeit Menschenbändiger werden wollen. Das darf nicht sein. Menschenformer, Menschenbildner wollen wir sein und organisch von innen heraus wachsen lassen, von innen heraus formen helfen.
Also wie gesagt, diese Überlegung mildert vielleicht in etwa das Abwehrgefühl. Es soll aber ganz beseitigt werden durch eine philosophische Überlegung:
Wo liegen die Grenzen? Denken Sie an die Doppellinie Väterlichkeit und Ideal. Die beiden Pfosten sind da. Was ist Taktik? Die Kunst, die Doppellinie richtig anzuwenden und ineinander überfließen zu lassen.
Darf ich diese objektive Grenze psychologisch analysieren? Wo liegen in meiner Seele die Grenzen für die Anwendung der Taktik? Die Antwort heißt: Ehrfurcht und Liebe. Woraus fließt die Liebe? Aus der Väterlichkeit. Woraus fließt die Ehrfurcht? Aus der Hingabe an das Ideal des mir Anvertrauten.
Wenn wir also diese beiden engen Pfosten tief in der Seele haben und wenden die Taktik an, dann werden wir niemals einen Menschen als Mittel zum Zweck benutzen; dann wenden wir niemals die Taktik im üblen Sinne an; dann werden wir niemals jemand „psychologisch behandeln“. Das ist grundverkehrt. Ein edler Mensch kann das nicht ertragen, sich psychologisch behandeln zu lassen.
Damit haben wir allerdings einen Gedanken angeschnitten, der wesentlich ist für den echten Erzieher.
Wo Ehrfurcht und Liebe im Erzieher wirksam sind, da erzeugen sie auch im Zögling als Gegenakt Ehrfurcht und Liebe. Wo diese beiden Pfosten auf beiden Seiten vorhanden sind, leisten sie Unmögliches. Wo diese Ehrfurcht und Liebe beantwortet wird durch Ehrfurcht und Liebe des Zöglings, ist leicht ein ganz feines Verhältnis vorhanden. Vielleicht darf ich hinzufügen: Jede Art von Erziehung, sowohl des Kleinkindes als auch des Erwachsenen, setzt immer diesen doppelten Affekt voraus: Ehrfurcht und Liebe. Mag sein, dass der Affekt einmal mehr die Betonung so oder so trägt, mag sein, dass einmal mehr die Ehrfurcht und ein andermal mehr die Liebe in den Vordergrund gerückt wird; aber beides muss immer vorhanden sein. Also auch in der Beziehung zum Kleinkind, zum Wickelkind. Beides muss beim Erzieher vorhanden sein: nicht nur Liebe, sondern auch Ehrfurcht; und nicht nur in etwa eine gewisse Ehrfurcht. Die höchste Ehrfurcht gehört dem Kinde.
Wo wir Mütter zu erziehen haben, sollten wir sie darauf hinweisen, dass sie ihren Kindern, auch dem kleinsten Kind den Ausdruck einer gesunden mütterlichen Liebe nicht versagen.
Individualpsychologen wollen die Lebensbeobachtung gemacht haben, dass viele Menschen im späteren Leben eingeklemmte Affekte mitschleppen, weil sie als Kleinkind minderwertig behandelt worden sind. Sie sind nicht bewusst, sondern triebhaft, instinktiv minderwertig im Selbsterleben, weil sie das nicht geben und empfangen durften, was allein das Kind in dem Alter geben und empfangen kann: entsprechende mütterliche oder kindliche Zärtlichkeiten. Also sollen auch die Eltern dem Kind diese Zärtlichkeiten schenken, auf der einen Seite Ausdruck der Liebe, auf der anderen Seite Zeichen der Ehrfurcht.
Damit ist nicht gesagt, dass wir die Eltern anleiten sollten, das Kind ständig „abzuküssen“. Das wäre eine Liebe, die nicht von der Ehrfurcht gestrafft ist. Beides muss also zu allen Zeiten vorhanden sein: Ehrfurcht und Liebe.
Das gilt auch von dem Lebensalter, von dem wir jetzt sprechen: den Reifejahren. Auch da müssen wir dem Mädchen beides entgegenbringen: sowohl Ehrfurcht als auch Liebe. Und wenn es uns glückt, als Antwort diesen doppelten Affekt zu erhalten – wiederum Ehrfurcht und Liebe -, dann ist die Erziehung gesichert. Dann werden wir unter allen Umständen etwas Großes und Tiefes bei unseren Kindern erreichen. Das große Meisterstück liegt allerdings darin: Wie können wir gerade in diesem Alter einerseits Ehrfurcht und Liebe dem Mädchen gegenüber bewahren und andererseits Ehrfurcht und Liebe auch für uns gewinnen?
Um schnell zum Ziele zu kommen, wollen wir die Liebe einmal ausschalten. Nicht, als wäre die Liebe nicht notwendig. Die ist absolut notwendig, auch in diesem Alter. In der Behandlung unseres ganzen Gedankenkreises wollen wir uns augenblicklich mehr konzentrieren auf die Ehrfurcht. Denn mir scheint: Ehrfurcht ist notwendiger als Liebe.
Gewiss, wenn wir den doppelten Affekt als Organismus vor uns sehen, dann wissen wir: Es gibt keine Liebe ohne Ehrfurcht und keine Ehrfurcht ohne Liebe. Wollen wir beide aber unterscheiden und in die heutige Mentalität hineinstellen, dann können wir behaupten: Heute ist das Wesentliche in der Erziehung, zumal beim Jugendlichen, die Ehrfurcht; die Ehrfurcht meinerseits, die als Echo von der anderen Seite wiederum Ehrfurcht erzeugt.
In diesem Zusammenhang darf ich vielleicht zwei Fragen aufwerfen und in allgemeinen Linien beantworten:
1. Wie erziehe ich mich zur Ehrfurcht, auch dem Teenager gegenüber?
2. Wie erziehe ich den Jugendlichen in seinen schwierigsten Jahren zur Ehrfurcht mir gegenüber?
Sie dürfen nicht meinen: Jetzt werden „Mittelchen“ angegeben, wie man andere bewusst zur Ehrfurcht erziehen soll. Damit kommen wir nicht zum Ziel. Wenn wir das bewusst tun, dann wird ein edler Jugendlicher nie Ehrfurcht vor uns haben. Also:
Sie dürfen den Gegenstand sofort erweitern. Was ich als Antwort gebe, ist allgemein anwendbar, also auch auf die Erwachsenen, mit denen ich umgehe, denen ich Vater oder Oberer sein darf. Es ist auch anwendbar und muss anwendbar sein auf das Kleinkind.
Ich darf zunächst eine dreifache Antwort geben. Allerdings ist das ein Antwortkomplex, der vor allem eine innerseelische Umformung bezweckt. Was soll ich also tun?
Was heißt erziehen? Selbstlos fremder Eigenart dienen. Das ist die Kunst der Künste, Menschen zu erziehen, Menschenseelen zu formen und zu gestalten.
Sie dürfen nicht etwa sagen wie Goethe in seinem Prometheus: „Hier sitz‘ ich, forme Menschen nach meinem Bilde.“ Ach wo! Ich bin nicht das Ziel der Erziehung. Das Ideal der Erziehung heißt: Hier sitze ich und forme Menschen nach deinem Bilde.
Gott hat in jedes Menschenleben eine seiner Ideen hineingebaut. Durch jeden einzelnen Menschen will Gott einen Gedanken verkörpern und verwirklichen. Und meine Aufgabe als Erzieher besteht darin, diesen Gedanken Gottes ausfindig zu machen und meine Kraft dafür einzusetzen, dass dieser Gedanke Gottes im Leben des Menschen verkörpert und verwirklicht wird.
Verstehen Sie, was ich sagen will? Je mehr ich mich innerlich durchdringe von dem wahren Sinn der Erziehung, desto stärker wird meine Ehrfurcht.
Sie muss sich auswirken in ehrfürchtiger Behandlung, in ehrfürchtiger Seelenhaltung.
Diese Ehrfurcht muss ich also haben
1. vor jedem Menschen
2. vor jedem Menschenschicksal
3. vor jeder Originalität und Fähigkeit.
Es klingt hier immer wieder mit: Der große Gedanke Gottes steht im Mittelpunkt. Gott hat den Menschen als eine Idee von sich hineingeworfen in das Universum und möchte diese Idee mehr und mehr sich verkörpern und vollenden sehen.
Also erstens: praktische und taktische Ehrfurcht vor jedem Menschen. Und wenn es auch der verlumpteste Mensch wäre! Und wenn es der kränkste Mensch wäre, wenn er seelisch und körperlich wer weiß wie krank wäre! Ehrfurcht vor jedem Menschen!
Zweitens: Ehrfurcht vor jedem Menschenschicksal. Und wenn ich ein Menschenschicksal vor mir habe, das durch tiefste Nacht, durch tiefste Schuld hindurchgegangen ist! Ehrfurcht vor jedem Menschenschicksal! Ich weiß ja gar nicht, welche Kinderstube dieses Menschenkind gehabt hat. Ich weiß ja gar nicht, welche Erbanlagen das arme Geschöpf mitbringt.
Wenn wir ehrlich sind, wenn wir nur ein wenig objektiv wahr sind innerlich, dann werden wir uns sagen: Wenn ich in dieser Haut steckte, wenn ich diese Vergangenheit hinter mir hätte, wahrhaftig, wie stände es dann mit mir? Deswegen: Ehrfurcht vor jedem Menschenschicksal.
Drittens: Auch Ehrfurcht vor jeder Fähigkeit. Das ist das Große: Wahre Väterlichkeit stellt sich nicht in den Mittelpunkt, möchte nicht selber wachsen. Wenn Gott eine Fähigkeit in den Menschen hineingelegt hat, dann drängt alles in der wahren Väterlichkeit, diese Fähigkeit zur Reife zu bringen, selbst wenn der Betreffende mich nachher überflügelt.
Es gibt überhaupt nichts Größeres in der Erziehung, als wenn ich sehe: Diejenigen, die ich erzogen habe, stehen auf meinen Schultern. Ich bin überflüssig geworden.
Diese Ideale dürfen Sie aber nicht als schöne Phrasen ansehen, sondern aus innersten Zusammenhängen heraus sie auch wahrmachen und sich daran orientieren. Also auch vorsichtig sein, wenn wir über Menschenschicksale zu entscheiden haben. Wenn wir zum Beispiel in einer religiösen Gemeinschaft sind, dürfen wir nicht einfach sagen: Hier ist ein Loch, da muss jemand hinein. Dann ist da wieder ein Loch auf, also wieder jemand hinein in das Loch. Wie oft wird das gemacht! Und dann spricht man von individueller Behandlung. Wie viel Unseligkeit und Unglück wird so geschaffen und geformt! Sie dürfen nicht etwa sagen: Der heilige Gehorsam verlangt das. Der heilige Gehorsam verlangt wohl, dass wir uns innerseelisch auf eine solche Behandlung einstellen. Er verlangt aber auch, dass die Vorgesetzten vernünftige Menschen sind, dass sie ihre Macht nicht mißbrauchen. Wenn die anderen uns ihren Willen geschenkt haben, haben wir die heilige Pflicht, dass jeder nach seinen Fähigkeiten bewertet wird. Darum Ehrfurcht vor jeder Fähigkeit.
Natürlich können Sie den Gedanken auch anwenden auf das Verhältnis untereinander. Wie oft müssen wir sehen: In katholischen Kreisen kommt eine Originalität nicht recht hoch. Stellen Sie sich vor: Irgendjemand hat etwas Nettes geleistet, meinetwegen ein Büchlein geschrieben und setzt den Namen darunter. Die Kollegen sagen von vornherein: Das ist nichts. Wenn aber kein Name oder ein Deckname darunter stände, dann würde es heißen: So etwas Feines! Oder wenn jemand die Fähigkeit hat, Gedichte zu schreiben oder Vorträge zu halten. Die nächsten Nachbarn dürfen es nicht hören, denn dann ist es sicher nichts. Es gehört schon eine ganz starke Veranlagung dazu, wenn man sich gegen derartige Widerstände durchsetzen soll. Und das kommt selten vor. Solche Fähigkeiten brauchen eine liebevolle Pflege. Das setzt allerdings eine große Selbstlosigkeit voraus. Dann dürfen wir nicht kreisen um uns selbst, sondern um Gott und um das Wohl derer, die der liebe Gott uns anvertraut und in den Weg geführt hat.
Viertens: Wir müssen uns hüten vor dem Todfeind wahrer Ehrfurcht.Wissen Sie, was das ist? Das ist die Schablone. Nur keine Schablone in die Erziehung hineinbringen!
Der heilige Thomas hat im Mittelalter das Wort geprägt: Die Prälaten sollen nicht so viele Gesetze machen. Nur ja nicht zu viel Gesetzeskram! Nur ja keine Schablone! Denn wo Schablone regiert, haben wir den Tod der Originalität, den Tod der Individualität und der wahren Ehrfurcht.
Meine ich damit, wir sollten nicht eine kraftvolle Gesetzestreue auf unseren Schild schreiben? Das ist selbstverständlich: Wo eine Gemeinschaft ist, überhaupt wo Menschen beieinander sind, müssen Gesetze sein. Es dürfen aber nur wenige Gesetze sein; und die wenigen Gesetze müssen auch mit drakonischer Strenge durchgeführt werden. Das erwartet jeder edle Mensch. Aber Schablone besagt etwas anderes.
Schablone besagt ständiger Zwang, der immer wieder durch neue Gesetze einzwängt, wie man das etwa zur Zeit Jesu mit den Überlieferungen der Alten hatte. Da ist das Gesetz erklärt worden, und die Erklärung bekam Gesetzescharakter. Und diese Erklärung wurde wieder erklärt und bekam wieder Gesetzescharakter. Und so ging das fort, so dass man einen ganzen Wall von Gesetzen und Gesetzlein hatte und man nicht mehr aufzuatmen wagte.
Wenn Sie das Gesagte festhalten, haben Sie damit einige Linien, wie wir unsere Ehrfurcht vor den uns Anvertrauten bewahren und vertiefen können.
Nun eine zweite Frage. Die mag vielleicht dem äußeren Scheine nach wichtiger sein. Wie erziehen wir die uns Anvertrauten zur Ehrfurcht uns gegenüber?
Wenn ich die Antwort gebe, verstehen Sie auch besser, wie weitsichtig und vielschichtig ich das Wort „Taktik“ anwenden möchte. Das ist nichts Lauerndes, sondern es ist der umgekehrte Fall. Ein edler Mensch kann das Lauernde nicht aushalten.
Auch hier wieder drei Antworten.
Dadurch, dass ich das Ideal des Betreffenden selber darstelle.Das ist eine Grundhaltung, kein lauerndes Mittelchen. Wenn ich selber das Ideal des Jugendlichen darstelle, dann sollen Sie sehen, was für eine Ehrfurcht dies erzeugt.
Im übrigen dürfen Sie es nicht übelnehmen, wenn einmal ein junger Mensch aus der Rolle fällt. Das ist Temperament. Da dürfen Sie auch nicht sonderlich empfindlich sein. Das gilt übrigens allgemein, auch wenn wir es mit reifen Menschen zu tun haben. In dem Maße, als ich mich ehrlich bemühe, die Verkörperung der Ideale der anderen zu sein, in dem Maße erziehe ich zur Ehrfurcht vor mir. Wenn ich das aber nicht tue, dann kann ich mir nicht gut vorstellen, wie dieses feine Band beide Teile mehr und mehr miteinander verknüpft und verbindet.
Zweitens – das ist nun etwas ganz Wesentliches: Den Glauben an das Gute im Jugendlichen unter allen Umständen bewahren.
Oder wenden Sie es allgemein an: Den Glauben bewahren an das Gute im Menschen. Das sind keine Mittelchen im Sinne des lauernden Überlegens, im Sinne des Überlistens. Ach wo! Den Glauben bewahren an das Gute im Menschen! Ich darf hinzufügen:
1. trotz vielfacher Enttäuschungen, die wir erlebt haben
2. trotz vieler Verirrungen, die wir erleben müssen
3. trotz ständiger Kämpfe, deren Zeugen wir bei unseren Kindern sein müssen.
Es darf gar nichts geben, was den Glauben an das Gute in den Menschen unterminiert.
Soll ich den Grund angeben?
Die Dogmatik lehrt uns: Die menschliche Natur ist zwar durch die Erbsünde schwach geworden, aber nicht unterwühlt. Es gibt noch viel Gutes im Menschen. Es ist also etwas Ehrliches, Sachliches, wenn wir den Glauben an das Gute im Menschen bewahren. Wir haben es doch meist zu tun mit begnadeten Jugendlichen und Kindern, mit solchen, die aufgrund der Taufe das göttliche Leben in sich haben. Das ist wieder ein neuer Grund, nur ja nicht den Glauben zu verlieren an das Gute im Menschen.
Wissen Sie, wer nach der Richtung das höchste Ideal sein könnte? Ich meine der heilige Franz von Sales. Dabei sehe ich ab von der Gottesmutter und von Jesus Christus. Das ist die Grundhaltung seiner Aszese. Er hat den Glauben an das Gute im Menschen festgehalten. Deswegen glaubte er, dass der Mensch auch draußen in der Welt heilig werden könne, auch der Mensch an einem fürstlichen Hof. Er hat nicht gemeint: Um heilig zu werden, muss ich ins Kloster gehen. Nein, der Glaube an das Gute im Menschen hat seine Aszese inspiriert. Und was uns wohl am meisten gut tut, ist die innere Überzeugung: Ich glaube auch an das Gute in der Frau. Und weil er an das Gute in der Frauennatur glaubte, deswegen hatte er schon die Idee, Gemeinschaften zu gründen, die ohne den strengen Zwang der Gelübde in der Welt nach Heiligkeit leben und streben sollten und könnten. Er hat es damals wohl nicht durchgesetzt. Aber immerhin, Sie sehen hier die große Haltung: der Glaube an das Gute im Menschen.
Wir wollen den Glauben an das Gute im Menschen festhalten, erstens, trotz zahlloser Enttäuschungen. Vielleicht wissen Sie das aus Erfahrung: Wenn jemand immer sagt oder zu erkennen gibt: „Ich glaube nicht mehr an dich“, dann ist alles in uns blockiert. Deswegen: Suchen Sie doch diesen Glauben an das Gute im Menschen festzuhalten!
Ich sage zweitens: Den Glauben an das Gute im Menschen bewahren, wenn auch eine ganze Menge von Verirrungen zu verzeichnen sind.
Wissen Sie, als Psychologe muss ich sagen: Derartige Verirrungen im jugendlichen Alter sind nicht immer gar zu gefährlich. Sie sind zunächst entwicklungspsychologisch zu deuten. Psychologisch gesehen meldet sich hier auf einmal im Menschen der Durchsetzungswille. Der Jugendliche fühlt auf einmal: Da sind Hemmnisse. Und wer sind die Hemmnisse? Das sind die Eltern, Vater und Mutter. Und was ist die Folge? Man ist abstoßend.
Was kann man da tun?
Nun kommt das wichtige Gesetz: Den Menschen Dummheiten machen lassen; ich darf nicht meine letzte Autorität verpuffen. Ich muss den jungen Menschen wohl bewahren vor Missgriffen, aber Dummheiten und Verirrungen darf ich zulassen. Ich darf nur solche nicht zulassen, von denen ich weiß: Wenn das geschieht, geht es auf die schiefe Ebene. Ist es uns früher nicht auch so gegangen, wenn die Eltern uns dieses oder jenes sagten? Wir haben es nicht geglaubt, bis wir es selber experimentiert haben.
Jedenfalls meine ich, derartige Entgleisungen sollten Sie innerlich nicht als so schlimm bewerten. Äußerlich, der Disziplin halber, muss man schon eingreifen, aber innerlich nur ja nicht zu grimmig werden. Dabei ist wesentlich: Wenn ich weh tun muss, dann tue ich es aus Pflicht und nicht aus ungeordneter Erregung.
Dann noch etwas. Weshalb dürfen Sie diese Dinge oft nicht gar zu tragisch in diesem Alter nehmen? Vielleicht haben Sie die Lebensbeobachtung schon einmal gemacht. Man nennt das psychologisch und pädagogisch die Kontrastbewegung gegen das gelebte Leben. Sie finden sehr oft, dass Kinder nicht gern den Beruf der Eltern ergreifen. Weshalb? Die Eltern haben das Leben gelebt, und die folgende Generation möchte aus der Kontrastbewegung heraus das leben, was die Eltern nicht gelebt haben. So lassen sich von diesem Lebensvorgang aus viele Dinge erklären; vor allem eben: nicht zu tragisch nehmen, wenn die junge Generation mit Abwehrgefühlen vor der älteren Generation steht. Das ist immer und zu allen Zeiten so gewesen, auch im Kloster.
Die Meisterschaft besteht nur darin, die Jugend weiterzuleiten. Sonst erreicht man das Gegenteil. Freilich, das ist wahr: Wir haben eine Zeit hinter uns, da hat die Jugend revoltiert. Das ist aber nicht tragisch.
Der heilige Benedikt meint einmal, im Kapitel sollten die Äbte besonders die jungen Mönche hören, weil die jungen Mönche auch bisweilen den Heiligen Geist hätten.
Weshalb ich das sage? Dass wir die gesunde Spannung wiederfinden; also nicht meinen, wir hätten die Weisheit gepachtet. Wir müssen auch andere hören im Verkehr untereinander. – Ich trage das alles zusammen, um Ihnen zu beweisen, dass wir auch an das Gute im Menschen zu glauben haben trotz der Verirrungen. Damit will ich nicht sagen, wir sollten unsere geistlichen Kinder extra fallen lassen. Das nicht. Aber wir sollen es auch nicht so tragisch nehmen, wenn Verirrungen vorkommen.
Endlich: Auch an das Gute im Menschen glauben, wenn die Kämpfe stärker werden und bleiben. Und ich darf hinzufügen: Ersparen wir unseren Kindern die Kämpfe nie! Wenn wir damit anfangen, erziehen wir alle zur Unmündigkeit. Und ich garantiere Ihnen: Wenn Sie die Kämpfe den Ihnen Anvertrauten ersparen – entweder, dass Sie schnell die Schwierigkeiten lösen oder dass Sie ihnen die Kämpfe ersparen dadurch, dass Sie das Übergewicht Ihrer Persönlichkeit, ohne es zu wollen, in die Waagschale fallen lassen -, dann wird die Folge sein: Ein ehrliches Menschenkind dankt Gott auf den Knien, wenn Sie ad patres (40), wenn Sie „zum Kuckuck“ gegangen sind. Das müssen Sie aber ernst nehmen. Nach außen kann man trotzdem noch Gott weiß wie Ehrfurcht und Liebe mimen. Das dürfen Sie aber nicht glauben. Darum sorgen Sie, dass jeder seine Kämpfe und Krämpfe selber auskämpft.
Wohl sage ich: Alles will ich wissen. Aber eingreifen? – Fällt mir nicht ein. Ich greife nicht ein. Die sollen ruhig purzeln. Wenn Sie nur nicht tief fallen. Sonst wird nichts Kraftvolles aus ihnen. Sonst erziehen wir nicht für das Leben. Sonst erziehen wir Puppen, aber keine Menschen, die im Leben stehen.
Das wäre ein zweites großes Mittel, das wir anwenden müssen, um die Zöglinge uns gegenüber zur Ehrfurcht zu erziehen: den Glauben an das Gute im Menschen bewahren.
Dann drittens: Uns auf der ganzen Linie uns überflüssig machen, wenigstens unserer Haltung nach.
Wie tue ich das? Wie wirkt sich das aus? Sobald ich merke, es kann jemand allein gehen, ziehe ich mich zurück. Er soll allein gehen. Dann kann ich ruhig Experimente machen, ob er purzelt. Und wenn er purzelt, schaue ich, ob er wieder allein aufstehen kann. Und dann lasse ich ihn ruhig allein aufstehen. Da „klimpere ich nicht mit der Wimper“. Sie müssen sich auf jeden Fall überflüssig machen. Wenn Sie niemals überflüssig werden wollen, dann müssen Sie sich immer überflüssig machen.
Deswegen erstens: Sobald ich merke, dass jemand allein gehen kann, mich bewusst zurückziehen. Lieber zu früh damit beginnen als zu spät.
Zweitens – und das ist auch wesentlich: Niemals buhlen um die Gunst des Zöglings. Niemals sagen: Ach, schließ dich doch an mich an. Lieber schroff sein: Wenn Sie weg wollen, machen Sie, dass Sie hinauskommen. Wo hat der Schreiner das Loch gemacht? – Wie klingt das? Ich glaube, sehr gesund. Wenn Sie buhlen, dann wird Ihnen ein edler Mensch immer mit dem Gegenteil antworten. Er wird vielleicht äußerlich elegant sein, aber er tanzt Ihnen schnell auf dem Kopf herum. Dann sind nicht Sie diejenige, die erzieht, dann werden Sie erzogen und an dem Narrenseil herumgeführt. Das wäre also die zweite Überlegung.
Damit hätten wir die Grenzen abgesteckt, die Grenzen für die Anwendung der Taktik. Vielleicht überlegen Sie einmal, was ich damit alles gesagt habe.