KR-3 DE 56

56. Prinzipien der Erziehung

Erziehung“ ist ein Hauptwort in der schönstättischen Spiritualität und in der Praxis Pater Kentenichs. Es gibt praktisch nichts in der schönstättischen Spiritualität, was nicht eine pädagogische – und meist sogar sehr reflexive – Dimension hätte. Schon der junge Kentenich, obwohl bester Schüler, hatte Probleme in der Schule, weil er sich innerlich gegen die damals vorherrschende Schulpädagogik auflehnte. Er begann seine eigene Tätigkeit als Lehrer, indem er zunächst die Pädagogik änderte
Als er schließlich 1912 einen pädagogischen Posten erhielt, den des Spirituals im Studienheim Schönstatt, formulierte er sofort sein pädagogisches Programm: „Unter dem Schutze Mariens wollen wir lernen, uns selbst zu erziehen zu festen, freien, priesterlichen Charakteren.“ (78)
Eine ganz wesentliche Ausfaltung der schönstättischen Spiritualität leistete Pater Kentenich durch die pädagogischen Kurse der zwanziger, dreißiger – damals Seelenführerkurse genannt – und ersten fünfziger Jahre; zunächst unterbrochen durch die Hitlerzeit, Krieg, Gefangenschaft und Auslandsreisen und schließlich abgebrochen durch die Exilszeit.
Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er Schönstatt eine „Erzieher- und Erziehungsbewegung“ nennt.
Die vielfältige Ausfaltung der Pädagogik und ihre konkrete Anwendung auf Alters- und Berufsgruppen, auf Anfragen und Herausforderungen der Zeit führt schließlich notgedrungen zu der Frage: Was ist der Kern dieser Pädagogik? Welches sind seine wesentlichen und deswegen mehr zeitlosen Prinzipien?
Der vorliegende Text möchte auf diese Fragen eine Antwort geben. Sie ist sehr gestrafft, wenig ausgefaltet, bietet aber den Schlüssel zur Pädagogik Pater Kentenichs an und zeigt außerdem auf, wie sich die pädagogischen Prinzipien, die „Leitsterne“, auf die Grundlagen unserer Spiritualität beziehen.
Der Text entstammt der Pädagogischen Tagung 1950, „Grundriss einer neuzeitlichen Pädagogik für den katholischen Erzieher“, Schönstatt 1971 und gibt die Seiten 151-160, 185-190 mit einigen Verkürzungen wieder.
Leider hat Pater Kentenich in dieser Tagung die letzten beiden Leitsterne nicht mehr ausgeführt. Es ist deshalb hier ein kurzer Text angefügt, der angibt, was Pater Kentenich unter Bewegungspädagogik und Vertrauenspädagogik versteht und worauf es ihm bei diesen pädagogischen Vorgängen ankommt.
Die Textstelle ist entnommen der „Epistola Perlonga“ aus dem Jahre 1949, veröffentlicht in: „Von menschlicher oder prophetischer Klugheit.“ Briefstudie. Brief an P. Menningen, Milwaukee, 24. März 1964. Bearbeitet von Heinrich M. Hug, Vallendar-Schönstatt 1996/2004, S. 144f.


Nun müssten wir dazu übergehen, dieses ganze System in die heutige pädagogische Situation einzubauen. Es handelt sich ja um ein neuzeitliches pädagogisches System, also um die ewigen Grundsätze, wie wir sie erarbeiten müssen in Anwendung auf das heutige Menschentum. Es bliebe sodann als Aufgabe übrig eine wissenschaftlich geschlossene Entfaltung des ganzen Systems zu erarbeiten. Eine überaus dankenswerte, schöne Aufgabe!
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Bevor ich nun anfange, die angesagten Gedanken vor Ihnen auszubreiten, lassen Sie mich erst ein Geständnis machen: Alles menschliche Erkennen ist Stückwerk (79); so auch hier. Alles menschliche Tun in der Erziehung ist Stückwerk! Und wenn wir all das, was wir miteinander überlegt haben, meisterhaft zu handhaben verstehen, so wissen wir doch: Der Erziehungsvorgang bleibt ewig fragwürdig. Ohne den wesentlichsten Erziehungsfaktor, ohne Gott und seine überreiche Gnade, werden wir niemals ein Gotteskind, noch viel weniger ein Genie der Naivität im besagten Sinn großziehen können.
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So steht denn die zweite Teilaufgabe vor uns: Einbau des Systems in die pädagogische Situation.

Damit ist uns ein Doppeltes aufgetragen: Wir müssen uns zuerst unser pädagogisches System in großen Umrissen zum Bewusstsein bringen und dann das Gehörte einbauen in die pädagogische Situation. Diese Situation ist unter einem fünffachen Gesichtspunkt äußerst fragwürdig. Ich setze die Gesichtspunkte an den Anfang, damit Sie spüren, wie unermesslich groß die geistige Welt ist, die vor uns steht. Das ist kein Spielen mit Klickern. Es ist ein Hineinwachsen in die große Aufgabe, die der liebe Gott uns gegeben hat. Fragwürdig ist
der Erziehungsraum
das Erziehungssubjekt
das Erziehungsobjekt
das Erziehungsziel
der Erziehungsvorgang.
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Wir unterscheiden in unserer Pädagogik Leitsterne und Grundformen.
Die Leitsterne heißen:
Idealpädagogik
Bindungspädagogik
Bündnispädagogik
Bewegungspädagogik
Vertrauenspädagogik.

Fünf reich mit Inhalt gefüllte Ausdrücke!

Die Grundformen unserer Erziehung liegen in der dreifachen „Botschaft von Schönstatt“: die Botschaft
vom praktischen Vorsehungsglauben
vom Liebesbündnis Gottes mit der Kreatur
von der göttlichen Sendungsergriffenheit.

Pädagogisch ausgewertet, heißen die Grundformen unserer Pädagogik:
Glaubenserziehung
Liebeserziehung
Sendungs- oder Apostolatserziehung.
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1. Idealpädagogik

Zunächst ein kurzes und doch verständliches Wort über Idealpadagogik als Gesinnungs-, als Haltungspädagogik.
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Bei einem normalen Menschen wachsen die Akte immer aus Haltungen und bewirken, wenn sie einigermaßen wertgesättigt sind, eine Vertiefung der Haltung. Habitus fit per repetitionem actuum (80). Beim heutigen Menschen ist das nicht der Fall. Heute ist alles eindrucksmächtig, alles aktmächtig. Akt steht neben Akt, ohne dass die Akte eine Mentalität schaffen, ohne dass die Akte aus einer Mentalität, aus einer Haltung herausfließen. Das ist das Sonderbare. Es ist fast ein Geheimnis. Sehen Sie: Beim modernen Menschen haben die Akte „unterirdisch“ keine Fühlung miteinander, sie wachsen nicht aus einer Wurzel, aus einem Persönlichkeitskern. So kann man an sich auch die Diskontinuität des Denkens, des Empfindens, des Wollens erklären. Ein SS-Mann zum Beispiel, der viele Menschen niedergeknallt hat, dreht sich um und „umarmt die ganze Welt“. Seine Handlungen wachsen nicht aus einem gemeinsamen „Boden“ heraus. Das ist ein Mensch, der eigentlich kein Mensch mehr ist. Da ist der Persönlichkeitskern total entwertet. Ich typisiere, das heißt: in dieser krassen Weise wird das selten der Fall sein. Aber im Großen und Ganzen sehen Sie den heutigen Menschen so vor sich. Deswegen unsere Hilflosigkeit.
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Die mentalitätsbildenden Gesetze müssen heute wieder reflexiv klarer gesehen werden. So lässt sich verstehen, dass es keinen Fortschritt in der bisher üblichen Religionspädagogik geben kann, weil sie solche Zusammenhänge übersieht. Die seelischen Belange sind anders als früher. Die Schichten der Seele stehen in einem total anderen Grundverhältnis zueinander als früher. Nehmen Sie zum Vergleich Benediktus, Franziskus, Ignatius! Nehmen Sie die modernen Ordensstifter! Sie haben alle nach der Idealpädagogik gehandelt, nur war die Gesetzmäßigkeit nicht reflexiv klar. Heute aber muss man – wegen der totalen Umorientierung der menschlichen Seelenschichten – reflexiv die Gesetzmäßigkeiten kennen.
Was das besagt? Wir müssen heute die Idealpädagogik mehr als früher pflegen. Aber wir müssen bewusst auf christliche Haltungen hinarbeiten und die Gesetzmäßigkeiten der Metaphysik klar vor Augen haben. Wie viele aus unseren Reihen tun das? Wie viele Seelsorger versuchen das bald mit mehr, bald mit weniger Geschick?
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2. Bindungspädagogik

Die Bindungspädagogik antwortet auf die Bindungslosigkeit, auf die allseitige Wurzellosigkeit und Nestentbundenheit des heutigen Menschen. Es sind diese alles Entwurzelungen, die das fruchtbarste Klima für die Zeugung und Entfaltung des Kollektivmenschen darstellen. Verneinung und Nichtbeachtung der menschlichen Bindungen machen in der Wurzel charakterlos, seelenlos und deswegen religionslos.
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Auch für die Bindungen gilt die Orientierung an der objektiven Seinsordnung. Sie weist drei große Wahrheitslinien auf:

Erstens: Es gibt einen Bindungsorganismus in der natürlichen Ordnung,

Zweitens: es gibt einen Bindungsorganismus in der übernatürlichen Ordnung.

Drittens: Natürlicher und übernatürlicher Bindungsorganismus stehen zueinander in einem klaren, gottgewollten, gottgeprägten Verhältnis.

Es fällt uns gar nicht schwer, diese Dinge am gewöhnlichen, alltäglichen Leben abzulesen, vorausgesetzt, dass wir selbst in gesunden Verhältnissen aufgewachsen und fähig sind, Gesundes von Ungesundem zu scheiden.

Nach Gottes Absicht sollte normalerweise ein Kind in einem abgerundeten Bindungsorganismus aufwachsen. Es soll in lokale, personale und ideelle Gebundenheiten hineinwachsen.

Das heutige moderne Leben mit seinem Vagabundieren lässt dem Menschen oft nicht die geringste Möglichkeit, an einem Ort heimisch zu werden. Wie lange braucht zum Beispiel das Kleinkind, bis es an diese und jene Sache gewöhnt ist. Solche Gewöhnungen sind notwendig, damit die Natur hineinwächst in lokale Gebundenheiten. Auch hier müssen Sie die natürliche Entwicklung des Menschen vor Augen haben. Wie ungesund ist in dieser Beziehung der heutige Mensch!

Zur lokalen muss die personale Bindung hinzukommen. Wir wollen sie gleich auf das Grundverhältnis zwischen Erzieher und Zögling anwenden. Verstehen Sie bitte: Wenn nicht tiefergehende personale Beziehungen zwischen Erzieher und Zögling vorhanden sind und wenn nicht gleichzeitig der Erzieher so ganz in der übernatürlichen, jenseitigen Ebene, bei Gott, zu Hause ist, so dass er im Namen Gottes die Forderungen stellen kann und sie erreicht durch das gegenseitige Verhältnis, dann ist es heute unmöglich, mit Forderungen an unsere Jugend heranzutreten. Die persönliche Gebundenheit erleichtert auf der ganzen Linie das gegenseitige Verhältnis. Sie gibt dem Erzieher das, was man vor einem Jahrzehnt das „emporbildende Verstehen“ genannt hat. Ein solches Verstehen bildet bei allen Schwächen und Schwierigkeiten empor. Es kennt den Glauben an das Gute im Zögling, an seine Art und seine Sendung.
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3. Bündnispädagogik

Wenigstens noch ein Wort über Bündnispädagogik.

Worauf antwortet diese Pädagogik, woran orientiert sie sich und was folgt daraus? Die Bündnispädagogik antwortet auf die Sehnsucht unseres Herzens und sucht praktisch den Deismus, den Fatalismus und den Transzendentismus zu überwinden.

Der Deismus ist das schwerste Problem, die Krankheit der heutigen Zeit. Er behauptet, Gott habe zwar die Welt erschaffen, er kümmere sich aber nicht mehr um sie. Damit sind die warmen personalen Liebesbande zwischen Mensch und Gott verneint.

Abfall ist Zerfall! Wie klar durften wir das darstellen! Wir sind zu wenig an Gott gebunden. Das gilt auch für so manche Menschen, die durch eine extreme liturgische Bewegung gegangen sind. Da sieht man zu stark Gott als Idee. Das ist ein religiös gefärbter Intellektualismus, dem eine tiefe persönliche Gebundenheit an den persönlichen Gott fehlt. Da wird nicht die Person, sondern die Idee Gottes geliebt. Damit werden Sie niemals den heutigen Menschen erwärmen können für das Göttliche.

Sehen Sie in diesem Zusammenhang die Bündnispädagogik! Der lebendige Gott tritt gleichsam „aus sich heraus“ (81), ist ständig in Bewegung zu uns. Unsere Aufgabe ist: ständige Bewegung zu ihm. Da ist Gott weder theoretisch noch praktisch eine bloße Idee, sondern eine Person, ein Gott der unendlichen Liebe. Er sucht Menschen, die er lieben kann, und er erschafft sie, damit sie ihn lieben und was er liebt. Der Bündnispädagogik liegt ein Gottesbegriff zugrunde, der dem heutigen Menschen „auf den Leib zugeschnitten“ ist, der aber auch in der objektiven Ordnung existiert.
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4. Bewegungspädagogik

Eine Familie, die die denkbar geringsten juristischen Bindungen kennt, ist auf Strömungen dieser Art (82) angewiesen. Arbeitet sie nicht damit, so erliegt sie bald der Gefahr der Versteinerung oder der Veräußerlichung.

Wo wirkliches Leben herrscht, da gibt es ständige Spannungen, da wechselt Ebbe und Flut. Bisweilen mögen die Wogen auch über die Ufer schäumen. So war es stets bei uns, so wird es immer bleiben.

5. Vertrauenspädagogik

Darum sprechen wir nicht nur von Bewegungs‑, sondern auch von Vertrauenspädagogik. Bewegungspädagogik führt auf dem Wege der Bewegung zu klar erkannten Zielen. Vertrauenspädagogik lässt absichtlich die Zügel schießen, auch dann, wenn der Wellengang hochgeht. Sie baut und vertraut nicht bloß auf das Gute im Menschen und das Spannungsgesetz in der Gemeinschaft, sondern auch auf Gottes gnädige Führung. Wohl behält sie die ganze Situation stets im Auge, bleibt aber gerne im Hintergrunde, greift nur dann zu, wenn es notwendig oder förderlich ist. All dem ist bei unserer Vater‑ oder Gehorsamsströmung vollauf Rechnung getragen worden. Das Haupt der Familie hat die Zügel fest in der Hand gehalten. Wenn vorübergehend eine Spannung den Familienkörper durchzittert hat, so ist das methodisch und entwicklungsgeschichtlich zu erklären. Es liegt schlechthin im Wesen unserer Erziehungsmethode. Wir werden immer damit rechnen müssen.

Wenn der ‚Bericht’ (83) deswegen von Fehlentwicklungen spricht, die sich tatsächlich ergeben haben sollen, so sieht er die Situation nicht klar. Er lehnt ab, was wir als schöpferisches Lebensprinzip ersten Ranges bezeichnen und erstreben. Das mag daher kommen, weil er die üblichen Maßstäbe der Zustandspädagogik an eine Familie anlegt, die nach den Gesetzen der Bewegungspädagogik regiert wird.

Die künftige Entwicklung der Welt, die fast keine Abstände mehr kennt und die Menschen entferntester Kontinente leicht und schnell in Verbindung zueinander bringt und deswegen ständig mit fließenden Verhältnissen, nicht mit festen Formen rechnen muss, wird dieser Vertrauens‑ und Bewegungspädagogik nicht entraten können. Auch die Kirche wird sich im eigenen Interesse früher oder später damit auseinandersetzen müssen. Heute schon scheint sie vor diese Notwendigkeit gestellt zu sein.


Schönstatt-Lexikon ONLINE:
Pädagogik – Idealpädagogik – Freiheit – Bindungspädagogik – Bündnispädagogik – Bewegungspädagogik – Vertrauenspädagogik
(78) gemeint: Persönlichkeiten
(79) Vgl. 1 Kor 13,9.
(80) Durch Wiederholung der Akte wird eine Haltung geschaffen.
(81) Phil 2,7
(82) In diesem konkreten Fall handelt es sich um die „Vaterströmung“, die im Gefolge des 20. Januar 1942 und der nachfolgenden Dachauzeit vor allem bei den Marienschwestern aufbrach, die den Gründer als Vater der Familie in den Vordergrund rückte, und die in der bischöflichen Visitation im Februar 1949 durch den Visitator, Weihbischof Stein, in die Kritik geriet. Pater Kentenich verteidigte den Vorgang, indem er auf die Gesetzmäßigkeiten von Bewegungspädagogik und Vertrauenspädagogik aufmerksam macht.
(83) Gemeint ist der offizielle Visitationsbericht von Weihbischof Stein, auf den P.Kentenich am 31.Mai 1949 in der sogenannten „Epistola perlonga“ seine Antwort gab.