Unter einem Gesichtspunkt hätte der vorliegende Text auch bei den autobiografischen Schriften eingeordnet werden können. Den Brief, aus dem hier zitiert wird, hat P. Kentenich zu seiner Verteidigung geschrieben; Anlass für ein wunderbares Selbstzeugnis seiner erzieherischen und pastoralen Tätigkeit. Im Jahre 1962 – nach schon zehnjähriger Verbannung – kamen Informationen zu Pater Kentenich, dass die Hauptanklage bei der Glaubenskongregation – Hauptgrund der Verbannung also – darin bestehe, die schönstättische Spiritualität sei von der Psychoanalyse Siegmund Freuds abgeleitet/abhängig.
Die Antwort Pater Kentenichs auf diese Anklage ist mehrfach bemerkenswert:
Zunächst macht er deutlich, dass er durchaus dessen kundig ist, was im Bereich der Tiefenpsychologie alles läuft.
Dann aber lässt er die verschiedenen Schulen der Tiefenpsychologie hinter sich und formuliert das, worum es dieser Wissenschaft eigentlich geht oder zu gehen hat: Reinigung und Erfassung der Tiefenseele. Dabei macht er deutlich, dass er und seine Spiritualität von keiner dieser Schulen abhängig ist, dass aber das Anliegen der Tiefenpsychologie auch das seinige ist und er unter diesem Gesichtspunkt mit ihr deshalb verwandt ist. Ihm geht es dann vor allem darum, die Tiefenseele mit Gott zu verbinden – und dadurch übersteigt er natürlich den Horizont der Tiefenpsychologie.
Die Verwandtschaft zeigt er schließlich auf – vielleicht auch zur Überraschung einiger Schönstätter -, indem er aufzählt, welche Elemente der schönstättischen Spiritualität darauf angelegt sind, die Tiefenseele zu erfassen, auch wenn die Terminologie meist nicht der der Fachwelt entspricht: Freiheitserziehung, die Bedeutung des Hl. Geistes, Inscriptio, Kindlichkeit, Demutserziehung, Marienverehrung und Immaculata-Atmosphäre, Betrachtungsmethode, „Lebensroman“ in den Terziaten, Strömungen und Gemeinschaftsgeist; also durchaus ein Thema, um den Gründer zu studieren.
Der Text ist zitiert aus „Kleine Dokumenten- Sammlung“ 1963, masch., A 4 ,169-179.
Das Bischofswort stellt Tiefenpsychologie und Psychoanalyse nebeneinander. Man lese:
„Beachten Sie, dass die Kirche nicht nur das Vaterprinzip an sich (wie es sich in der Familie ausgebildet hat), sondern auch die ihm zugrundeliegenden Prinzipien, die wohl aus der modernen Tiefenpsychologie und Psychoanalyse entnommen sind, missbilligt hat!“
Das Nebeneinander ist hier nicht angebracht. Tiefenpsychologie ist der generelle Begriff, der mannigfache Unterabteilungen umschließt. Eine Form der Tiefenpsychologie ist die Psychoanalyse: Sie ist nur eine von vielen anderen. Das sei zur Klärung des Begriffes gesagt. Wo heute von Tiefenpsychologie die Rede ist, ist das Wort allezeit – wenn nicht das Gegenteil ausdrücklich gesagt wird oder aus dem Zusammenhang zu deuten ist – in diesem modernen Sinne zu fassen. Dabei will sodann genauer festgestellt werden, ob es sich dabei um die Psychoanalyse Sigmund Freuds (und dessen Schule) oder um die Neopsychoanalyse verschiedenster Prägung handelt. Dabei kommt vornehmlich die Individualpsychologie von Alfred Adler oder die Schule von Karen Horney oder von Erich Fromm oder von Harry Stack Sullivan oder von Harald Schultz-Hencke oder von Thomas French oder von Sandor Rado oder von Abram Kardiner in Betracht. Was alle diese Schulen miteinander verbindet, ist ihre ausgeprägt naturwissenschaftlich orientierte tiefenpsychologische Einstellung. Von ihnen unterscheiden sich die philosophisch orientierten tiefenpsychologischen Theorien. Hier nimmt den ersten Platz C.G. Jung ein. Dazu gesellt sich die Theorie von Otto Rang, ferner die Existenzphilosophie von Ludwig Binswanger mit ihrer Daseinsanalytik, ferner die Lehre von der Partnerschaft und Übertragung im Sinne von M. Buber, M. Scheler, K. Loewith, E. Michel, P. Christian, ferner das System von Viktor von Weizsäcker.
Angeklagter weiß um die hier berührten modernen Strömungen, hat sich aber allezeit zur Genüge davon distanziert und seine Selbständigkeit bewahrt. Das Anliegen, um das es jedoch dabei geht, war von Anfang an für ihn eine Herzenssache. Es ist es bis heute geblieben. Es musste so sein und bleiben, wenn Schönstatt seine zeitgemäße Sendung als ausgeprägte Erzieher- und Erziehungsbewegung in einer vollkommen gewandelten Zeit im Sinne des neuesten Zeitenufers gottgefällig lösen wollte.
Sein ganzes Leben hindurch schwebte ihm ein einziges großes Ideal vor Augen: Gott und die Seelen. Alles andere war für ihn Nebensache. Es wurde zielstrebig dieser einen großen Lebensidee ein- und untergeordnet. Es ging ihm immerdar darum, die Seele für Gott zu öffnen und sie mit ihm unzertrennlich in Verbindung zu bringen. Das verlangte aber unabdinglich, dafür zu sorgen, dass die Seele womöglich bis in die letzten Tiefen für Gott und Göttliches geöffnet würde und geöffnet blieb. Darauf legte er – die bevorstehende Problematik des Seelenlebens gleichsam mit einem mutigen Griff vorwegnehmend – vom ersten Augenblicke seiner Erziehertätigkeit (seit 1912) gebührend Gewicht. Es geschah also mehr als ein Jahrzehnt vor der Zeit, wo langsam die Öffentlichkeit anfing, sich damit zu beschäftigen. Seit 1919 weitete die göttliche Vorsehung seinen Arbeits- und Einflusskreis. Das geschah von da ab Jahr um Jahr in wachsendem Maße. So kam es, dass sich ungezählt viele Seelen aus allen Ständen und Klassen, aus allen Altern und Geschlechtern ihm weit öffneten. Tag und Nacht – so darf man wohl mit Recht sagen – lebte er so und wirkte in seiner eigenartigen geheimen Werkstatt ausschließlich für die Seelen. Niemals wurde er müde, ihre Geheimnisse in sich aufzunehmen und den Wegen hin zu Gott nachzutasten: mochte es sich dabei um urgesunde, um angekränkelte und kranke, um mystisch begnadete oder um Seelen handeln, die berufen waren, den Kuhweg zum Gipfel der Heiligkeit zu wandeln. Es wurde ihm klarer und klarer, dass nur die Seele, die sich bemüht, bis in die letzten Tiefen mit Gott tief innerlich verknüpft zu sein, fähig ist, dem Sturmesgewitter der heranziehenden wurzel- und bindungslosen oder bindungsflüchtigen Zeit Widerstand zu leisten und standfest und wurzelecht und wurzelstark zu bleiben.
Ein schlichtes Bild mag veranschaulichen, was gemeint ist. Bei Gelegenheit hatte der Angeklagte einer Gruppe von Jungen das erwählte Gruppenideal zu erklären. Der Leiter kam vorher zu ihm und erklärte ihm kurz das Ideal. Er brachte einen jungen Eichensprössling mit: Eichen wollten ja die Jungen werden im Garten der MTA. Der Leiter machte darauf aufmerksam, dass die Wurzeln des jungen Sprösslings dreimal größer und länger seien, als der Sprössling selbst. Damit war der Inhalt des Vortrags bestimmt. Wer im Sturme der Zeit wetterfest sein und erstarken will wie eine Eiche, muss die Wurzeln seiner Seele in ihren tiefsten Tiefen schier unlöslich mit Gott verbinden.
Das Bild gibt treffend wieder, was dem Angeklagten als Ideal für Erziehung und Seelenführung vor Augen schwebte. Es genügte ihm nicht, den Willen an Gott zu binden und das helle Bewusstsein der Seele zu reinigen, zu durchlichten und zu vergöttlichen. Es wurde ihm sehr bald klar, dass der Mensch gemeiniglich mehr das tut, wonach das Herz sich ausstreckt und was im unterbewussten Seelenleben als unverdauter Eindruck oder als Voreinstellung lebt und wirkt.
Von hier aus wird verständlich, weshalb er in seinem ersten programmatischen Vortrag als Parole für seine gesamte Erziehung und für die von ihm gegründete Erziehungsbewegung das Ideal des freien Menschen ausrief. Dieses Ideal leuchtet durch alle pädagogischen Unternehmungen und Verlautbarungen der Folgezeit hindurch und bestimmt das Leben und Streben. An jeder bedeutsamen Wegscheide oder an jedem Scheidewege blitzt es urwüchsig neu auf und lässt Geister, die ihn verstanden haben, nicht mehr zur Ruhe kommen. Das tritt besonders dort in Erscheinung, wo die menschliche Freiheit durch Druck von außen und durch Vergiftung von innen tödlich bedroht wurde. Man vertiefe sich in die Dachau-Literatur, man durchforsche Himmelwärts: allüberall leuchtet das Ideal der Freiheit in hellsten und wärmsten Farben immer wieder von neuem auf. Es geht dabei um möglichst vollkommene Freiheit von etwas und für etwas: um Freisein – soweit das mit der Gnade angängig ist – von allem Un- und Widergöttlichen, um im selben Grade frei zu werden für Gott und alles Göttliche – und das alles im Interesse und zum Wohle der Braut Christi, die in den heraufbrausenden Stürmen nicht nur Heroen des Willens, sondern auch und vor allem Genies des Herzens (mit allen Verzweigungen und Auswirkungen) notwendig hat, wenn sie nicht den Stürmen zum Opfer fallen will.
Dem ersten großen Sturmesbrausen – das die nationalsozialistische Verfolgung verursachte – ist die Familie nicht im geringsten zum Opfer gefallen. Im Gegenteil! Die Eiche hat ihre vielverzweigten Wurzeln unzerreißbar tief ins Herz Gottes und der Gottesmutter hineingesenkt, und göttliche Führungsweisheit hat fürsorglich sich dafür eingesetzt, dass die Gelegenheiten zum Tieferhineinwachsen ins Göttliche und Ewige sich dauernd mehrten. Denkt man an die Stürme seit 1949 und lässt man auf sich wirken, dass die Eiche immer noch nicht geknickt ist, dass sie im Kerne vielmehr gestärkt und gefestigt dasteht, so sieht man sich unwillkürlich vor die Frage gestellt: wie ist das alles möglich in einer Zeit, wo der Glaube vielfach bloß im Kopf steckenbleibt und nicht das Herz und den ganzen Menschen so erfasst, wie Paulus das wünscht, wenn er sagt: Mein Gerechter lebt (nicht nur nach, sondern) aus dem Glauben. (84)
Es ist schwer verständlich, weshalb man sich nicht bemüht, hinter das Geheimnis für die unerschütterliche Standfestigkeit der einzelnen Gliederungen, vornehmlich der Schwestern zu kommen. Täte man das, so müsste man unwillkürlich angeregt werden zu erforschen, welche Mittel und Methoden angewandt worden sind, um die Tiefen der Seele zu erfassen, zu läutern, zu reinigen, zu durchgeistigen, zu durchsittlichen und zu durchgöttlichen, dass als Resultat eine eigenartige göttliche Instinktsicherheit und ein bewundernswerter göttlicher Witterungssinn zu buchen ist. Es wäre dann leicht nachzuweisen, dass es dabei um Dinge geht, die das Anliegen der Tiefenpsychologie in echt katholischer Sicht sich aneignen, ohne im geringsten kryptogamen, d.h. geheim wuchernden Häresien zum Opfer zu fallen, die sich vielmehr nachweisbar sehr eindeutig davon distanzieren….
So mag es denn der Mühe wert sein, sich darauf zu besinnen, wie der Angeklagte das bewusste und, – wenn man den Ausdruck so wählen will, – das un- und unterbewusste Seelenleben im besagten Sinne zu erfassen pflegte.
Das eine, bewusste, wie das andere, unbewusste, darf als Frucht eines ausgesprochenen sentire cum Ecclesia (85) angesprochen werden. Denkt man im ersten Fall vornehmlich an ein agere a proposito (86), so ist es berechtigt, im zweiten Fall stärker an ein agere a natura (87) zu sprechen. Wie aus dem Text ersichtlich wird und wie die Lebenserfahrung nachweist, bedingen beide Arten einander. Vorsatzmäßiges Handeln ist – wenn es sich richtig vollzieht – geeignet, die Natur bis ins Unterbewusste zu erfassen, zu läutern und zu durchseelen, und die geläuterte Natur erleichtert und beschwingt und sichert das vorsatzmäßige Handeln.
Weil hier im Vordergrund die Frage nach gottgefälliger Erfassung der Seelentiefe steht, soll nur vom agere a natura im angedeuteten Sinn kurz die Rede sein. Umfassende Darstellung verlangt eine ausführliche Studie. Die kommt hier nicht in Betracht. Es kann sich nur um einige skizzenhafte Hinweise handeln, die zum Nachdenken anregen und in den Stand setzen wollen, Schönstatt in seiner zeitgemäßen Einfühlungskraft bei aller unerschütterlichen Verwurzelung in bewährtem katholischem Traditionsboden verständlich zu machen.
Darum gebe man sich damit zufrieden, auf Berührung, Erfassung und Durchdringung menschlicher Seelentiefen – im erbsündlich belasteten Zustand – einige theologische, einige psychologische, einige soziologische und einige pädagogische Streiflichter fallen zu lassen.
Paulus macht darauf aufmerksam, dass es der Heilige Geist ist, der mit unaussprechlichen Seufzern in uns „ABBA, Vater“ spricht. Der Heilige Geist ist es also, der die ganze menschliche Natur bis in letzte Tiefen ergreift und – soweit das in statu viae (88) möglich ist – vom Kindsein vor Gott und vom übernatürlichen Kindessinn durchdringt. So will das Wort von den unaussprechlichen Seufzern (89) verstanden werden. Er tut es – wie die Dogmatiker uns sagen – durch seine sieben Gaben. Weiter: Wie der Herr vom Geiste getrieben wurde, so erlebt sich auch der Gerechte, in dem die übernatürlichen Triebkräfte als Gegengewicht gegen die ungeläuterten naturhaften Triebe wirksam sind. Wo die übernatürlichen Triebkräfte unbeachtet bleiben, ist es auf die Dauer unmöglich, verwilderte und hemmungslos ausbrechende Naturtriebe zu meistern. Es dürfte nicht schwer sein, diese Hinweise auf die Seelentiefen in der rechten Weise anzuwenden. Weiter: „Es sind diese Gaben, die verborgensten und feinsten Fäden, Handhaben und Tasten, durch welche der Hl. Geist die geheiligte Seele regiert, in ihr wirkt, was er will … Durch diese Gaben wird die Seele ein erwähltes Werkzeug des Hl. Geistes, er wird so echt ihr Erzieher und Lehrmeister.“ (Meschler). Die hier gemeinten verborgensten und feinsten Fäden greifen in letzte Seelentiefen hinein. Darum nennt man wohl auch die Gaben des Heiligen Geistes übernatürliche „Seelenorgane“ oder „Anschlusskräfte“ (Ruderer), die die Seelen instandsetzen, nicht nur etwa humano modo (90), sondern divino modo (91) zu handeln, die sie wecken, die sie treiben, die sie emporreißen wie im Fluge empor zum Heroismus, zum Vollalter Christi. „Die Seele wird durch sie unmittelbar von Gott ergriffen, wird willig und lenksam allem Übernatürlichen gegenüber und tut sich leichter zu Gott hin“ (Franke). Der hl. Thomas erklärt: „Die Gaben des Hl. Geistes sind bleibende, ganz vom Himmel stammende Beschaffenheiten, durch die der Mensch vervollkommnet wird zu schnellerem Gehorchen gegen den Hl. Geist … Sie sind besondere übernatürliche Fähigkeiten, die uns gelehrig machen, auf dass wir jene ausgezeichneten Werke verrichten, die unter dem Namen Seligkeiten bekannt sind.“ Es dürfte abermals nicht schwer sein, herauszuhören und herauszulesen, in welchem Ausmaße hier auf das Erfasstwerden der Seelentiefen vom Heiligen Geiste abgehoben ist. Das meint auch Laros, wenn er hervorhebt: „Die Gaben des Geistes sind letzthin das vom Geiste Gottes gewirkte Spontan-Geniale in der Menschenbrust. Dieses drängt mit innerer Anziehung, mit einer Art Gravitation (92) auf Gott hin und wirkt für ihn.“ Andere geistliche Lehrer vergleichen die Gaben mit den Segeln von Schiffen oder mit den Flügeln der Vögel, um die Leichtigkeit des Wirkens gegenüber unseren sonstigen Fortbewegungsmitteln zu beleuchten.
Es dürfte nicht schwer sein, die hier gezeichneten Zusammenhänge in unserer Familiengeschichte überall wirksam zu sehen. Man braucht sich nur zu erinnern an das individuelle und gemeinsame Streben nach heroischer Heiligkeit. Hält man vor Augen, dass ein solches Streben nur möglich ist, wo die Gaben der Hl. Geistes sich ungehindert auswirken können, so versteht man, weshalb und in welchem Maße Schönstatt seine Glieder und Gliederungen anleitet und fördert bei Erfassung und Durchdringung, bei Läuterung, Durchseelung und Durchgöttlichung der Seelentiefen. Zu welchem Resultat kommt man, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die göttliche Führung die gesamte Familie immer wieder und wieder drängt zum Heroismus der göttlichen Tugenden (und der Kardinaltugenden). Die Gottesgelehrten weisen nach, dass die Vollendung der göttlichen Tugenden ausschließlich die Aufgabe und Funktion der Gaben des Hl. Geistes ist. Darum abermals die Folgerung: wie tief mögen die Seelen bis ins Unterbewusste von Gott und Göttlichem erfasst und durchdrungen sein!
Nochmals: Wo wir zur Inscriptio oder zum Englingakt anleiten, pflegen wir immer wieder hervorzuheben, die bedingte Bitte um jegliches Kreuz und Leid habe die Aufgabe, die negativen Voreinstellungen und Vorurteile gegen Kreuz und Leid zu überwinden und – unter dem Einfluss des Heiligen Geistes – positiv umzuwandeln. Klassisches Beispiel für die Wandlung sind die Apostel vor und nach der Herabkunft des Heiligen Geistes. Vorher waren sie trotz der Nähe des Herrn triebhafte Menschen, die vor Kreuz und Leid flohen. Wo man sie nicht genügend beachtete, waren sie bereit, Blitz und Donner herabzurufen. (93) Nach Herabkunft des Heiligen Geistes freuten sie sich, vor die Richterstühle gezogen, missachtet und misshandelt zu werden. (94) So sieht der neue Mensch in Christus Jesus aus, den die Gottesmutter von ihren Heiligtümern aus in besonderer Weise der heutigen Kirche schenken möchte.
Um nicht missverstanden zu werden, sei hervorgehoben, dass die Momente, die nunmehr zur Diskussion gestellt werden wollen, sowohl vom theologischen als auch vom psychologischen Standpunkte aus betrachtet und bewertet werden wollen. Hier wird nur die psychologische Seite hervorgekehrt; die theologische will jedoch immer mitverstanden werden.
Als erstes Moment will die Lehre des heiligen Thomas von der potentia oboedientialis für das Göttliche, für das Übernatürliche genannt werden. Es geht hier um die Aufnahmefähigkeit der menschlichen Natur für das Göttliche, für das Übernatürliche. Man kann dafür auch sagen, es geht – mit einem Seitenblick auf die Gottesmutter – um die ausgesprochene Fiathaltung, um das Weit-geöffnetsein für Gottes Wort und für Gottes Werk, also um die ausgesprochene weibliche Grundeinstellung dem Ewigen, dem Unendlichen gegenüber; und das alles im Gegensatz zu unartikuliert männlicher Volo-Einstellung (95), die zumal in der heutigen virilistischen (96) Zeit wähnt, sich als actus purissimus, als absolut unabhängiger Schöpfer geben zu können und zu sollen.
Man betrachte in diesem Zusammenhange die ganze Welt der Kindlichkeit, wie wir sie lehren und zu leben uns bemühen. Sie ist ein flammender Protest gegen diesen extremen Virilismus und ein warmes Bekenntnis zur Fiathaltung der lieben Gottesmutter. Wir halten unerschütterlich fest, dass die ewige Frau und der ewige Mann allezeit wurzeln im ewigen Kind. Kindliche Aufgeschlossenheit und kindliche Hingabe bleiben allezeit ein konstitutives Element männlicher und weiblicher Vollendung. Diese Kindlichkeit mag hüben und drüben andere Formen annehmen, sie mag sich in unterschiedlichen Graden auswirken, niemand aber darf ihr entraten. So will das Wort des Herrn gedeutet werden: “Wenn ihr nicht werdet wie die Kinder…“ (97)
Will man den hier dargestellten Lebensvorgang von anderer Seite betrachten, um ihn stärker noch mit den Seelentiefen in Verbindung zu bringen, so tausche man das Wort Kindsein mit dem gleichbedeutenden Wort Kleinsein aus. Inwiefern Kindsein die Seelentiefen aufschließt, braucht kaum besonders hervorgehoben zu werden. Das Geöffnetsein gehört ja schlechthin zum Wesen des Kindes. Unreife Kindlichkeit ist hemmungslos geöffnet. Darum spricht man vom „enfant terrible“. Sie mag ein Durchgangsstadium sein. Das Ideal ist jedoch und bleibt die reife, die abgeklärte Kindlichkeit. Diese ist hemmungslos und bedingungslos vor Gott geöffnet. Im Übrigen aber nach rechts und links ein sorgsam gehütetes Geheimnis, ein versiegelter Quell, ein verschlossener Garten. Ferner sei an das oben Gesagte erinnert. Ist Kindlichkeit – wie gesagt – Gott gegenüber vorbehaltlos offen, so ist damit zu rechnen, dass der Heilige Geist durch die geöffnete Tür in die kindliche Seele nicht nur in etwa hinab, sondern möglichst tief in ihre Abgründe hineinsteigt. Wo der Heilige Geist aber in solcher Weise wirksam ist, spricht er mit unaussprechlichen Seufzern. Da hat er keine Ruhe, bis er in den Seelentiefen eine unantastbare Wohnung sein eigen nennt.
Grignion von Monfort erschließt uns in diesem Zusammenhang einen anderen Gesichtspunkt. Er hebt hervor, dass der Hl. Geist „in Gott selbst nicht fruchtbar ist, aber in Maria fruchtbar geworden sei, mit der er sich vermählt. Mit ihr und in ihr hat er sein Meisterwerk, den Gottmenschen hervorgebracht; mit ihr und in ihr bringt er täglich bis zum Ende der Welt die Kinder Gottes und die Glieder am Leibe dieses anbetungswürdigen Hauptes hervor. Je mehr er darum seine treue und unzertrennliche Braut Maria in einer Seele findet, desto mehr kann er in dieser Seele wirken, desto besser kann er Christus in ihr hervorbringen… Einer der Hauptgründe dafür, dass der Hl. Geist heutzutage keine auffallenden Wunder in den Seelen wirkt, ist die Tatsache, dass er sie zu wenig mit seiner treuen Braut vereinigt findet.“ Solche und ähnliche Beobachtungen veranlassen Grignion, als eine Gesetzmäßigkeit der göttlichen Seelenführung festzustellen: „Zusammen mit dem Heiligen Geist hat Maria den Gottmenschen hervorgebracht… ihr ist die Bildung der großen Heiligen vorbehalten… denn nur diese einzigartige Jungfrau kann zusammen mit dem Heiligen Geist Einzigartiges hervorbringen… Wenn der Heilige Geist Maria in einer Seele gefunden hat, dann eilt er zu ihr hin, zieht mit seiner ganzen Fülle in diese Seele ein und teilt sich ihr überreichlich mit, und zwar in dem Maße, als die Seele seiner Braut Raum gewährt.“ So wiederholt sich allezeit das Wort: Et incarnatus est de Spiritu Sancto ex Maria Virgine, er hat Fleisch angenommen vom Hl. Geist aus Maria der Jungfrau. Wo der Hl. Geist Maria in den Seelen findet – so lautet die Voraussetzung für die besondere Wirksamkeit des Hl. Geistes – findet er sie dort, wo er in der Seele mit der innigen Liebe zu seiner Braut auch deren ausgesprochene Fiatgesinnung wahrnimmt.
Die psychologische tritt wieder stärker in den Vordergrund, wo wir statt Kindsein das Wort Kleinsein einsetzen. Wir verstehen darunter die bestrickend einfältige Demut des Kindes. Es gibt wohl kaum eine sittliche Tugend, die so wenig gesund existieren kann ohne innigste Vermählung mit warmer und innigster Gottesliebe wie die Demut. Demut ohne Liebe wird über Nacht zu krankem Minderwertigkeitsgefühl und endet letzten Endes in seelischem Zusammenbruch oder in Selbstvergötzung, die mit Nietzsche wiederholt: Wenn es schon einen Gott gäbe, dann könnte ich es nicht ertragen, es nicht selbst zu sein. Oben ist bereits ein Wort von unverstandener und uneingestandener Schuld und Schwäche gesagt, die den modernen Menschen seelisch oft so unermesslich krank und brüchig macht. Das Wort ist gleichbedeutend mit einem Loblied auf urgesunde Demut, die in ihrer Schwäche den wirksamsten Lockruf für kindliche Hingabe in Gottes Vaterarme findet. Nur wer wie Paulus triumphierend bekennen kann: Ich rühme mich meiner Schwächen – nicht formell meiner Sünden, sondern der Armseligkeit, die darin wie in ungezählt vielen anderen Schwächen zum Ausdrucke kommt -, weil dadurch die Kraft Christi in mir offenbar wird, (98) ist gegen eine Unsumme moderner seelischer Erkrankungen geschützt und ist fähig, gesund zu werden und den steilen Weg zu Gott gefahrlos zu gehen.
Den inneren Zusammenhang zwischen göttlicher Ohnmacht und menschlicher Allmacht stellt die Werktagsheiligkeit so dar:
„Wie wenig wissen die Menschen von heute, selbst wir Christen, von dieser trostvollen Wahrheit! (Von der unermesslichen Vaterliebe Gottes zu uns, seinen schwachen Kindern.) Wie könnten wir uns sonst so verlassen und einsam fühlen und von Tür zu Tür um Hilfe und Trost betteln gehen und unseren Himmelsvater vergessen! Geht nicht ein Kind zu seinem Vater, wenn es in Not ist? Und weckt nicht das Kind, gerade das kleine und hilflose, allen Helferwillen und alle Gebefreudigkeit des Vaters? Der Vatergott ist der Mitteilsame, er will sich liebend verschenken und verschenkend lieben, er ist ja die Liebe! Aus seinem großen Liebeswillen haucht er den Heiligen Geist. Diese starke, mitteilsame Kraft ließ ihn aber nicht ruhen. Deswegen verband er seinen Sohn mit einer begnadeten menschlichen Natur. Der Vater, möchte ich fast sagen, will ohne Kind, ohne möglichst viele Kinder nicht sein. Er ist ja die Liebe und will sich darum mitteilen. Deus quaerit condiligentes se: Gott will geistige Wesen, die er lieben kann und die mit ihm lieben, was und wie er selbst liebt. Und so hat er seinen Eingeborenen Mensch werden lassen und uns durch die heilige Taufe ihm eingegliedert. Wir sind in Wahrheit seine Kinder geworden. Der Vatergott hat eine eigenartige ‘Schwäche’, er kann der erkannten und anerkannten Hilflosigkeit seines Kindes nicht widerstehen. Kindlichkeit bedeutet ‘Ohnmacht’ des großen Gottes und wiederum ‘Allmacht’ des kleinen Menschen. Hier liegt der tiefste Grund für die Fruchtbarkeit der Demut im Reiche Gottes. Die Gottesmutter hat darum im Magnificat jubelnd gesungen: ‘Die Niedrigen erhöht er’ (99), und der göttliche Heiland bestätigt seiner Mutter Wort immer wieder, wenn er sagt: ‘Wer sich erniedrigt, wird erhöht werden’ (100), und ‘Wer unter euch groß sein will, der sei ein Diener, und wer der erste unter euch sein will, der sei euer Knecht’ (101).“ (102)
Das „Sich-Gefallen“ oder „Sich-Rühmen“ ob seiner Schwächen und Grenzen – welcher Art sie auch immer sein mögen – kennt drei Grade, die ebensoviel Grade von Größe vor Gott und von Befreiung von störenden Nebengeräuschen und Zwangsnöten bedeuten. Mündet das Erlebnis des Kleinseins vor sich und anderen nicht in das Erlebnis des Großseins vor Gott aus, so verwickelt es sich früher oder später in krankhafte Minderwertigkeitskomplexe.
Der erste Grad des Kleinseins oder der Demut besteht darin, dass man sich selbst seine Schwächen willig und freudig eingestehen lernt und sie benutzt, um tieferen Anschluss an Gott zu erhalten. So werden Demut und Liebe miteinander verbunden. Demut weckt Liebe, und Liebe ermöglicht und erleichtert die Demut. Dabei mag es sich um körperliche oder um geistige oder um seelische oder um moralische oder um religiöse Grenzen handeln. Leicht ist es freilich nicht, rein diesseitige, in der Öffentlichkeit maßgebliche Wertmaßstäbe zu zerbrechen und göttliche Wertmaßstäbe sich zu eigen zu machen und danach sein Denken, Fühlen und Handeln zu normieren. Ohne ein hohes Maß von Gnade ist das wiederum nicht möglich.
Die Werktagsheiligkeit bemerkt:
„Wer diese Lösung von der eigenen Ehre und Genusssucht ernst erstrebt und in seinem Wollen und Denken und Handeln einfältig ist, d.h. nur eine Falte kennt: die Ehre und Liebe Gottes, der wird von vielen hemmenden seelischen Nebengeräuschen befreit und braucht sich vor nervösen Störungen nicht sonderlich zu fürchten. Die Ärzte haben recht, die da meinen, ein vorzügliches Mittel gegen Nervenkrankheiten, sofern sie nicht organischer Art sind, wäre diese tief in Gott gegründete Demut und Liebe.
Das erfährt der Werktagsheilige ungezählt viele Male in seinem Leben. An Arbeit und Leid fehlt es ihm wahrhaftig nicht. Viele andere würden in ähnlicher Lage mit ihren Nerven zusammenbrechen. Er bleibt aufrecht stehen. Wohl mögen seine Nerven schwach sein, aber sie bleiben widerstands- und tragfähig, nicht weil er ständig von Arzt zu Arzt läuft, sondern weil er halt ein Werktagsheiliger ist, der mit seinem gesunden, ernsten und tiefen Heiligkeitsstreben, mit seiner warmen Gottesliebe und Demut das Leben meistert, während andere, die gesund und kräftig sind, den zermürbenden Schwierigkeiten der Zeit nicht gewachsen sind. So weiß man vom hl. Thomas von Aquin, diesem Geistesriesen, dass er seine gewaltigen Bände höchster theologischer Wissenschaft bei fast anhaltender schmerzender Migräne geschrieben hat.“ (103)
Es ist ohne weiteres verständlich, wie die so gesehene und gelebte Dauerverbindung zwischen Klein- und Großsein, zwischen Demut und Liebe fähig ist, die Seelentiefen zu berühren und – mit Hilfe der Gnade – innerlich zu wandeln.
Die zweite Demutsstufe besteht darin, dass man sich darüber freut, von anderen in seinen Grenzen und Schwächen erkannt zu sein und danach bewertet weiß.
Auf der dritten Stufe gefällt man sich darin, von anderen auch in entsprechender Weise sich behandelt zu wissen.
Das alles ist natürlich nicht möglich, wenn nicht gleichzeitig die Liebe zu Gott wächst und die Seele sich so in Gottes Wertwelt beheimatet fühlt oder doch wenigstens weiß, dass sie mit Recht Pauli Wort vom „Wandel im Himmel“ (104) auf sich anzuwenden berechtigt ist. Man spürt, wie stark die Seele in einem solchen Zustand den Schwerpunkt vom eigenen Ich auf den lebendigen Gott verlagert hat. Man ahnt aber auch, in welchem Ausmaße bei solcher kopernikanischer Wende die Seelentiefe umorientiert sein muss. Ein solches Meisterstück bringt der Mensch aus eigener Kraft nicht fertig. Gottes Gnade muss dabei sich wunderbar erweisen und es mag etwas dauern, bis die Seele mit Paulus aus erfahrungs-gemäßem Wissen heraus bekennen kann: „alles vermag ich in dem, der mich stärkt“ (105). Die Wirkung dürfte im Maß beschleunigt und vertieft werden, als die Vermählung zwischen Demut und Liebe schöpferisch beseelten Ausdruck sucht und findet in symbolhaltigen körperlichen Haltungen. Man erinnere sich in dem Zusammenhang erneut an den letzten Sinn des fraglichen Brauchtums.
Als zweites psychologisches Element sei unsere beliebte und häufig bevorzugte Betrachtungsmethode in Erinnerung gebracht. Sie besteht – wie als bekannt vorausgesetzt wird – im Nachprüfen und im Nachkosten, sowie im Vorprüfen und im Vorkosten persönlich empfangener göttlicher Erbarmungen und persönlicher Erbärmlichkeiten. Nach der einen wie nach der anderen Seite sind wir gewohnt, gleichsam die Leiter an jedes Ereignis unseres persönlichen und gemeinschaftlichen Lebens zu legen. Weil wir nicht so schnell gewöhnt sind, Gott auf der Spitze dieser Ereignisse zu sehen, leitet die Betrachtung uns an, das Fehlende nachzuholen. Der Gott des Lebens, der ungezählt viele Male während des Tages durch Worte und Taten zu uns spricht, will beachtet werden. Er will eine Liebesantwort von uns erhalten. Der Verstand klettert gleichsam in der Betrachtungszeit nachträglich die Sprossen der Leiter hinauf, um dort oben Gott zu sehen und Gott zu verstehen. Das Herz klettert mit hinauf und sucht diesen lebendigen Vatergott und seine Fügungen und Zulassungen mit der ganzen Wärme zu umfangen. Nach Gottes Absicht sind Erbärmlichkeitserlebnisse vorzügliche Antriebe, den Weg in Gottes barmherzige Vaterarme zu weisen. Es bleibt immer derselbe Lebensvorgang, der sich ungezählt viele Male wiederholt: alles, was uns begegnet – Freudiges und Trauriges, Beglückendes und Erschütterndes, Positives und Negatives – will als Liebesgabe und Liebeswerben Gottes eine Liebesantwort des echten Vaterkindes erhalten. Es mag etwas dauern, bis die Seele in diese Welt so tief hineingewachsen ist, dass sie förmlich im Erbarmungsmeer Gottes schwimmt und sich dort wohlfühlt. Stück für Stück verarbeitet sie alle unverdauten Eindrücke. Sie tut es so lange, und atmet dabei so tief ein und aus, bis ihr ganzer Lebensrhythmus ausschwingt im Lebensrhythmus Gottes. So steigt sie Sprosse um Sprosse die Leiter der Freiheit der Kinder Gottes empor. Tag für Tag wird sie freier von allem Un- und Wider-göttlichen, um frei zu werden für den Gott des Lebens.
Es dürfte wiederum unschwer verständlich sein, wie tief der Einfluss einer solchen Betrachtungsweise auf die Seelentiefe ist.
Die Funktion, die die tägliche Betrachtung für unmittelbare Vergangenheit und Zukunft hat, weitet sich vor allem in den Terziaten auf das ganze Leben. Nicht nur dadurch, dass eine gemeinsame Lapidatio (106) die Seele in ihrer Tiefe in Bewegung setzt; es kommt hinzu, dass das gesamte Leben von Kindheit an noch einmal überschlagen und in Einzelheiten im besagten Sinne durchkostet wird. Wie tief ein solches Nachkosten aus religiös hochgelagerter Einstellung heraus die Seelentiefe bis in letzte Wurzeln berührt und umzuwandeln geeignet ist, erhärtet vieljährige Erfahrung. Die Wirkung ist dann besonders nachhaltig, wenn die ganze Lebensgeschichte vor einem wohlwollenden und verständigen Transparent Gottes ausgebreitet wird, das im angedeuteten Sinne mithilft, die Sprossen der Leiter für Verstand und Herz emporzusteigen und vorhandene unverdaute Eindrücke vollkommen zu verarbeiten. (107)
Je tiefer die Seele in die Familie hineinwächst und sich dafür verantwortlich weiß, desto mehr fühlt sie sich gedrängt, dieselbe Betrachtungsweise auf die gesamte Familiengeschichte anzuwenden und alle Ereignisse als persönliche Einschnitte ins eigene Leben aufzufassen und nachzukosten.
Wer sich in diesen drei Kreisen liebes- und lebensmäßig dauernd bewegt, spürt recht bald, wie tief Gott hineingreift in letzte Tiefen der Seele.
Als drittes psychologisches Element will unsere dreidimensionale Spiritualität bewertet werden. Es ist überflüssig, darauf aufmerksam zu machen, dass diese wiederum von zwei Seiten aus betrachtet werden kann: von der theologischen und der psychologischen. Erstere kommt hier nicht in Betracht, sie wird als bekannt vorausgesetzt. Es geht also nur um die psychologische Seite, aber auch hier nur so weit, als die Seelentiefe berührt wird. Was darüber zu sagen ist, leuchtet dem Wissenden ohne längere Auseinandersetzung ohne weiteres ein.
Unsere Bündnisfrömmigkeit kennt eine möglichst vollkommene Gegenseitigkeit der Partner. Sie kreist hüben und drüben um eine erleuchtete und gleichgeschaltete organische Liebes- und Opferbewegung. Die Liebe umgreift Diesseits und Jenseits, das heißt jede Form der Liebe, die Gott wohlgefällig ist: ob es sich dabei um die naturhafte, um die natürliche oder um die übernatürliche Liebe handelt. Alle drei Formen sucht sie harmonisch miteinander in Verbindung zu bringen. Wie das fruchtbar geschehen kann, zeigt der 3. Teil der Werktagsheiligkeit. Wer versteht, was dort ausgeführt wird, wer es praktisch zu leben sich bemüht, wird recht bald inne, wie tief auf solche Weise die menschliche Natur in ihrem urgewaltigsten Urtrieb – dem Liebestrieb – erfasst und mit der unendlichen Liebe verbunden wird. Weitere Ausführungen erübrigen sich an dieser Stelle.
Unter Werktagsheiligkeit verstehen wir die gottgefällige Harmonie zwischen affektbetonter Gott-, Werk- und Menschengebundenheit in allen Lagen unseres Lebens. In unserem Zusammenhange, wo es sich um die Seelentiefe handelt, will als Schlüsselwort die Affektbetontheit der vielfältigen Gebundenheit betrachtet werden. Was vorher von der Liebe gesagt worden ist, müsste hier wiederholt und nicht nur auf Gott, sondern auch auf Dinge und Menschen angewandt werden. Geschieht das in der rechten Weise, so ist wiederum ersichtlich, wie weitgehend bei solcher Praxis die Seelentiefe berührt, gewandelt und emporgebildet wird. Es geschieht das in allen Lagen und in allen Situationen des Lebens.
Unsere Werkzeugsfrömmigkeit legt Gewicht auf die unzertrennliche Verbindung zwischen Werkzeug und Werkmeister, mag es sich dabei hüben und drüben um Personen oder um Zielsetzungen oder um Methoden handeln. Da diese Verbindung (zwischen Werkzeug und Werk) wiederum hergestellt, gesichert und vertieft wird durch die Liebe, haben wir im wesentlichen denselben Fall wie vorher. Werkzeugsfrömmigkeit berührt in ähnlicher Weise wie Werktags- und Bündnisfrömmigkeit die Seelentiefe. Mehr dürfte darüber an dieser Stelle nicht in Erinnerung zu rufen sein.
Wer die theologische und psychologische Belichtung der Seelentiefe in sich aufgenommen und verarbeitet hat, dem mag es nicht schwerfallen, selbständig soziologische Streiflichter auf sie fallen zu lassen. Für die jetzige Darstellung genügt es, drei Momente kurz herauszuheben und zu weiterer Durchforschung zur Verfügung zu stellen.
Zunächst erinnere man sich daran, dass der Ursprung Schönstatts, dass seine Quelle ein Lebensvorgang und nicht primär eine Idee ist. Man werde ferner inne, wie stark die ganze Familie von einem universellen Lebensstrom getragen, durchströmt und durchtränkt ist. Daraus folgt, dass nur der vollwertig zur Familie gehört, wer in diesen Gründungsvorgang hineingezogen und vom Lebensstrom berührt ist. Lebensvorgang und Lebensstrom spekulieren aber – wie ohne weiteres ersichtlich ist – auf den sozialen Trieb des Mitgliedes. Sie haben und geben keine Ruhe – so liegt es in ihrer Wesensart begründet -, bis das Leben der einzelnen Glieder und Gliederungen bis in letzte Seelentiefen erfasst, durchdrungen und durchtränkt ist. Nicht umsonst pflegen wir zu sagen: jedes echte Glied der Familie sollte den Gründungsvorgang in all seinen Etappen (1914, 1939, 1942 und 1952) nachvollziehen und im jeweiligen Lebensstrome schwimmen und mitschwimmen.
Sodann wird der soziale Trieb des Menschen durch die ausgesprochene Immakulata-Atmosphäre geweckt und in seiner Entfaltung nach unten und oben, nach rechts und links wesentlich mitgestaltet. Was man sonst von der Bedeutung des Milieus vom erzieherischen Standpunkte aus sagt, will hier wiederholt und auf das überaus zarte und feine, das alles durchdringende Aroma des Immakulata-Geistes angewandt werden. Solange die Familie existiert, hat sie sich an dem Grund- und Lebensgesetz orientiert: Immakulatageist ist und bleibt ihr Mutterboden. Niemals hat sie diesen Boden verlassen, allezeit hat sie ihre Kinder mit sanfter und bezwingender Gewalt in diesen Geist hineingezogen. Diese Immakulata-Atmosphäre scheint ihr besonderes Charisma zu sein. Man vergegenwärtige sich, in welchem Ausmaße die Tiefe der Seele dadurch auf die Dauer erfasst, durchseelt und durchgöttlicht werden muss. Darin dürfte auch das Geheimnis der Anziehungskraft vor allem derer liegen, die eine Art vita communis perfecta oder mixta (108) pflegen. Nicht umsonst spricht man von einer Paradiesesau. Bislang hat es sich allezeit als überaus fruchtbar erwiesen, dass diese Paradiesatmosphäre um unsere Heiligtümer herum durch besagte Kreise verbreitet und verewigt werden konnte. Möge es immer so bleiben! Paradiesesatmosphäre ist geeignet, Paradiesesmenschen – richtig verstanden – zu formen und zu gestalten; Paradiesesmenschen, die sich auch in sinnlicher und versexualisierter weltlicher Umgebung als ein lebendiges „Sursum corda“ (109), als altera Maria bewähren und durch die Unberührtheit ihres ganzen Wesens durch Kleidung und Gebaren ihre Umgebung nach oben ziehen. Man mag deshalb verstehen, wie ungerecht, wie verletzend die Verleumdungen sind, die man unter sexuellem Gesichtspunkte über uns ausgestreut hat. Vielleicht wiederholt sich hier die alte Erfahrung, wonach Gott Menschen und Menschengruppen auf den Gebieten besonders hart behandeln lässt, für die sie eine besondere Sendung haben. Alle Blicke sollen auf sie hingelenkt werden, damit später ihre volle Unberührtheit als Ganzes umso heller in Erscheinung tritt und ihre Sendung für weiteste Kreise zu erfüllen imstande ist.
An dritter Stelle mag darauf aufmerksam gemacht werden, wie stark die ganze Familie und jede einzelne Gliederung vom Gemeinschaftsgeist durchdrungen ist. Grad und Art der seelischen Gemeinschaft und des Gemeinschaftslebens gilt schlechthin als das unterscheidende Merkmal der einzelnen Formationen. Bei Bünden und Verbänden ist ein hoher Grad des Gemeinschaftslebens geradezu pflichtmäßig. Wie stark die rückwirkende Kraft dieses Gemeinschaftslebens auf die Seelentiefe ist, braucht nicht nachgewiesen zu werden. Um dem sozialen Trieb weiteste schöpferische Entfaltungsmöglichkeit zu gewährleisten, kennen Bünde und Verbände außer der offiziellen auch die freie Gemeinschaft mit ihrer originellen Struktur. Dazu kommt die sorgfältige Bindung hüben und drüben an die Führer und Vorgesetzten. So ist in einer wurzellosen Zeit reichlich Vorsorge für Überwindung der modernen Kontaktnot getroffen. Und für die tiefgreifende Hinordnung des ganzen Menschen zum Ewigen und zum Unendlichen ist – soweit als möglich – Garantie geleistet.
An sich wäre es nunmehr am Platze, pädagogische Streiflichter auf das Problem der Erfassung der Seelentiefe fallen zu lassen. Man mag jedoch an dieser Stelle mit dem Hinweis zufrieden sein, dass die Familie sich bemüht, die dargestellten inneren Beziehungen mit allen verfügbaren pädagogischen Mitteln zielstrebig zu verwirklichen. Im übrigen mag in pädagogischen Kursen Näheres nachgelesen werden. Wer Interesse daran hat, mag die Gelegenheit wahrnehmen, die Geistes- und Lebensgeschichte der gesamten Familie unter dem angegebenen Gesichtspunkt zu studieren und das Ergebnis für spätere Generationen zu kodifizieren.
Wenn im übrigen heute noch das alte Gesetz gilt, dass Gott durch Schwierigkeiten entschleiert, was er besonders betont, was er studiert und besonders verwirklicht wissen will, dann dürfte es klar sein, dass die hier nur skizzenhaft berührten Gedankengänge in alle Kreise der Familie hineingetragen und vertiefter Besitz werden müssen. Je mehr man uns die Irrgänge der modernen tiefenpsychologischen Strömungen nachsagt und in die Schuhe schiebt, desto mehr müssen wir uns über die wahren Sachverhalte unterrichten und unterrichten lassen, um fähig zu werden, die Spreu vom Weizen zu trennen und das ererbte Weisheitsgut zu unverlierbarem Besitztum zu machen.
Die gezeichneten großen Linien durchziehen wie ein einziger großer Faden das Lebensgebilde der Familie. Sie sind unentwegt selbständig erarbeitet und festgehalten worden, sie waren und sind auch heute noch die Norm, die wir an die modernen und modernsten Strömungen angelegt haben. Es war niemals umgekehrt. Nicht die Strömungen waren die Norm, nach der wir uns orientiert haben. Das will jedoch nicht besagen, wir hätten nicht davon gelernt, d.h. wir hätten uns nicht bemüht, unsere Überzeugungen an den wertvollen Errungenschaften von deren Seite zu messen, ihre gesicherten Beobachtungen und Erträgnisse in unserer Art zu verarbeiten. Das alles geschah aber immer nach dem großen Gesetz: „quidquid recipitur, ad modum recipientis recipitur“ (110). Es dürfte nicht schwer sein, nachzuweisen, dass der „sensus catholicus“ oder das „sentire cum ecclesia“ dabei niemals um Haaresbreite verschoben worden ist.
Damit ist die Antwort auf das Bischofswort gegeben.
Schönstatt-Lexikon ONLINE: Tiefenpsychologie
(84) Rom 1,17 und Gal 3,11; vgl. Hab 2,4.
(85) Mit der Kirche, wie die Kirche empfinden.
(86) an vorsatzmäßiges Handeln
(87) geläutert triebmäßigem Handeln
(88) Solange wir noch auf dem irdischen Pilgerweg sind.
(89) Röm 8,22-26.
(90) auf menschliche Weise
(91) auf göttliche Weise
(92) Schwerkraft
(93) Lk 9,54.
(94) Apg 5,41; vgl. Mt 5,10-12.
(95) Willenseinstellung
(96) vermännlichten
(97) Mt 18,3-4.
(98) Vgl. 2 Kor 12,9.
(99) Lk 1,52
(100) Lk 14,11
(101) Mt 20,26 f.
(102) Werktagsheiligkeit, Aufl. 1964, 31.
(103) Werktagsheiligkeit, Aufl. 1964, 121-122
(104) Phil 3,20
(105) Phil 4,13.
(106) Wörtlich „Steinigung“. Gemeint ist eine Runde in vertrautem Kreis, in dem sich die Teilnehmer von den anderen ihre Schwächen sagen lassen.
(107) Die Mitglieder der schönstättischen Bünde und Institute sind angeleitet im 2. Terziat – im Alter von 26 bis 36 Jahren – in einer Nacharbeitung des eigenen Lebens, dem sog. „Lebensroman“ die ganze Vergangenheit ehrlich anzuschauen und mit Gott zu verbinden.
(108) Vollkommenes oder (mit Apostolat und zeitweiliger Abwesenheit) gemischtes Gemeinschaftsleben
(109) „Erhebet die Herzen“, Gebetsruf zu Beginn der Präfation in der Eucharistie
(110) „Was aufgenommen (verstanden) wird, wird nach Art des Empfängers aufgenommen.“ Diese philosophische Gesetzmäßigkeit der Erkenntnistheorie meint: die Perspektive des Beobachters bestimmt weitgehend auch das, was er beobachtet und wie er seine Beobachtungen interpretiert.