KR-3 DE 54

54. Organisches Denken und Lieben.

Das literarische Genus des vorliegenden Textes ist einmalig im Schrifttum Pater Kentenichs: ein Dialog zwischen Peter und Paul. Es ist klar, dass „Paul“ der Deckname für ihn selbst ist. Mit dem heiligen Paulus hat Pater Kentenichs sich zeit seines Lebens besonders identifiziert und seinen Namen als Deckname auch in Dachau benutzt.
Inzwischen hat sich herausgestellt, dass „Peter“ der Deckname für den früheren Schüler aus der Gründungszeit und späteren Novizenmeister und Provinzial der Pallottiner, Pater Heinrich Schulte, ist.
Der Dialog findet sich in der „Epistola perlonga“, die sich mit dem 31.5.1949 verbindet, auch wenn der vorliegende Textteil erst im Juli 49 geschrieben ist.
Die Grundthese Pater Kentenichs in der Auseinandersetzung zwischen Organischem und Mechanistischem besagt: in der heutigen Zeit einer rasanten Entwicklung auf eine nivellierende Massenkultur hin ist es entscheidend, den Menschen in einem Organismus von natürlichen und übernatürlichen Bindungen gesund wachsen zu lassen. Dabei kommt es vor allem darauf an, die irdischen Dinge in innerem Zusammenhang zu sehen und sie als Symbol für die übernatürliche Wirklichkeit zu betrachten. Methodisch ergibt sich daraus das Gesetz der Übertragung und Weiterleitung von übernatürlichen auf natürliche Wirklichkeiten und umgekehrt.
Der Dialog wendet diese Grundüberzeugung Pater Kentenichs auf zwei konkrete Fälle im Bereich der Liebe an:
1. Wie ist es zu verstehen dass ein Werk wie Schönstatt sich als „Lieblingsbeschäftigung“, dass ein Mensch sich als „Lieblingskind“ Gottes betrachten darf?
2. In welcher Weise und bis zu welchem Grad darf – vor allem bei einem zölibatären Menschen – in personalen Beziehungen das Gemüt mitsprechen; und dies vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass doch Gott der höchste Wert sein soll, der uns von allen irdischen Bindungen unabhängig machen soll?

Der Text ist entnommen aus „Epistola perlonga“ II. Teil (Moriah Patris 9/II), Berg Moriah 1996, S. 181 – 194.


Was darüber zu sagen ist, möchte ich in die Form eines Gespräches kleiden. Die beiden Gesprächspartner sollen Peter und Paul heißen.

Peter: Ideen und Wortprägungen Schönstatts sind so stich- und hiebfest, dass sie jeglicher Kritik standhalten. Nur ein Punkt ist mir problematisch… Schönstatt nennt sich „die Lieblingsbeschäftigung und Lieblingsschöpfung Gottes und der Gottesmutter“. Das kommt mir überspitzt und anmaßend vor. Würde man sich bescheiden und nur von einer Lieblingsbeschäftigung Gottes sprechen, so wäre dagegen nichts einzuwenden. Ich bin überzeugt, von keiner Seite würden Schwierigkeiten erhoben…

Paul: Etwas anderes hat Schönstatt noch nie behaupten wollen. Von Anfang bis heute hat es die fragliche Aussage immer nur affirmativ, niemals exklusiv aufgefasst. Das kleine Wörtchen „die“ hat es nie betont, sondern stets im selben Atemzug und mit derselben Stärke ausgesprochen wie die anderen Satzteile. Es weiß nur zu gut, dass es sich mit anderen Gemeinschaften in der Kirche nicht messen kann. Sie stellen – um ein Wort des hl. Franz von Sales zu gebrauchen – ein großes, herrliches Schiff dar. Wir sind ihm gegenüber nur eine kleine Barke. Sie können sich weit mehr als wir den besagten Ehrentitel beilegen. Manche haben sich bereits jahrhundertelang bewährt, sie sind hervorragend fruchtbar geworden für die Kirche…

Wer sie und ihre Lebensäußerungen genauer studiert, findet bald, dass die Überzeugung von der göttlichen Lieblingsbeschäftigung zwar unauslöschbar in ihnen lebt, dass sie aber kaum davon sprechen. Sie finden das nicht notwendig, weil ihr ganzes Lebensgefühl davon durchdrungen ist. Am Anfang ihrer Geschichte war es anders. Was heute Besitz und Funktion ist, stand damals als lichte Idee, als große Aufgabe vor der ersten Generation, – ähnlich wie heute vor uns. Es hat geraume Zeit gedauert, bis diese Idee allen in Fleisch und Blut übergegangen war, und sich als immanente Triebkraft dauernd ausgewirkt hat. Da stehen wir übrigens vor einem Vorgang, der in ähnlicher Weise beim jungen Christentum zu konstatieren ist.

Wer sich die Zeit nimmt, die Geschichte der Kirche und der religiösen Gemeinschaften weiter zu verfolgen, wird finden, dass Gott immer große Führer erweckt hat, wenn diese Haltung in Gefahr kam. Sie hatten die Aufgabe, die Gründungsgeschichte gleichsam zu erneuern, ein ausgesprochenes Gründerbewusstsein in den einzelnen Gliedern zu wecken, Gründungsgnade flüssig zu machen und beides auf die neuen Zeitverhältnisse anzuwenden. Wer in die inneren Lebensvorgänge großer Orden Einblick gewonnen hat, weiß, wie ernst man sich dort allenthalben bemüht, Sendungs- und Auserwählungsbewusstsein für jetzt und heute zu wecken, um die Berufung auf eine ruhmreiche Vergangenheit wie auf ein Schlummerkissen zu überwinden und neue Kräfte und neue Begeisterung lebendig werden zu lassen. Geht der begonnene, allgemeine Auflösungsprozess jeglichen Lebens weiter, so stehen bald alle Orden und religiösen Gemeinschaften, die dem Sturme nicht zum Opfer fallen wollen, vor der gleichen Frage. Dasselbe gilt von der Kirche. Alle ohne Ausnahme müssen zur Praxis der Gründergeneration zurückgreifen. Sie müssen sorgen, dass die klar erfasste Uridee wieder zur Funktion wird. Was wir also nach der Richtung tun, wird früher oder später Allgemeingut werden.

Peter: Wenn dem so ist, warum drückt man sich dann nicht genauer aus? Trüge man dem anerkannten Sachverhalt sprachlich genauer Rechnung, d.h. begnügte man sich mit der Erklärung, Schönstatt sei ähnlich wie ungezählt viele andere Gemeinschaften eine Lieblingsbeschäftigung Gottes und der Gottesmutter, so wären viele Missverständnisse von vornherein unmöglich und so manche beunruhigende Spannungen wären unterblieben.

Paul: In einem wissenschaftlichen Vortrag vor breitester Öffentlichkeit wird man ohne Zweifel so abgewogen sprechen müssen; anders jedoch verhält es sich, wenn man als Erzieher unmittelbar vor einem geschlossenen Mitgliederkreis spricht. Es ist an sich selbstverständlich, dass man in einem solchen Falle allgemeine Wahrheiten in eine konkrete, greifbare Form gießt. Achten sie einmal auf sich selbst, wenn Sie Priestern oder Ordensleuten Exerzitien geben.

Peter: Das stimmt. Diese Nacht habe ich mich längere Zeit mit dieser Frage herumgeschlagen. Die gestrige Besprechung regte mich dazu an. Ich stehe vor einem Rätsel. Abstrakte Reflexion wehrt sich gegen die Prägung: Wir sind die Lieblingsbeschäftigung Gottes. Wie kommt es nun, dass ich trotzdem bisher in Exerzitien unbewusst diese Formulierungen gebraucht habe? Ich vermute, dass ich es künftig in derselben Weise tue.

Paul: Diese Disharmonie liegt in der Eigenart Ihrer seelischen Struktur begründet. Von Hause aus sind Sie einseitig auf abstraktes Denken eingestellt. Diese Anlage ist durch Ihr Fachstudium als Philosoph stärker entwickelt worden. Es mag hinzukommen, dass Sie den philosophischen Idealismus der Jahrhunderte noch nicht ganz überwunden haben. So kommt es, dass Sie ständig nur in Universalien denken. Es ist ein Glück, dass Sie sich gleichzeitig so viel gesunden Instinkt, so viel wertvolle Lebensnähe bewahrt haben, dass Sie unbewusst, sobald Sie als Seelsorger und Erzieher tätig sind, das Universelle konkretisieren und individualisieren… Sie pflegen zwar zu sagen: Ich bin objektiv eingestellt, Sie subjektiv. Sie vergleichen sich gerne mit Alois, (69) überprüfen das Verhältnis, das beide zu ihrem früheren Erzieher gehabt und kommen zu dem Schluss: Alois lässt sich vom Gemüt leiten, ich bleibe trotz aller Anhänglichkeit objektiv und prüfe erst die Idee. – Sie täuschen sich. Wenn Sie genau wiedergeben wollen, was hüben und drüben Gestalt und Leben angenommen, so müssen Sie sich sagen: Ich bin einseitig abstrakt, Sie – dasselbe gilt von Alois -, sind lebensmäßig eingestellt. Beide Male ist die Einstellung durchaus objektiv.

Peter: Das stimmt. Das bedeutet für mich eine befreiende und verpflichtende Neuerkenntnis.

Paul: Sobald die gesunde Seele mit Gott allein ist, fängt sie an, zu individualisieren. Das ist immer der Fall, wenn Person sich unmittelbar einer Person gegenüber weiß. Dann betet sie nicht etwa, ich bin eine, sondern ich bin die Braut deines Herzens.

Franz von Sales erklärt in seinem Theotimus: „Die Seele, die sich im Stande der Rechtfertigung befindet, ist die (nicht eine) Braut des Herrn… Begeht sie eine Sünde, so fällt sie in geistige Ohnmacht.“

Paulus begeistert sich an dem Gedanken: Dilexit me et tradidit semetipsum pro me… Er sagt nicht etwa: Etiam pro me sicut pro aliis (70), so wie es – metaphysisch gesprochen – richtig gewesen wäre. Ignatius leitet in seinen Exerzitien die Seele an, das Leiden des Heilandes zu betrachten und am Schluss die Erwägung beizufügen: Et omnia haec propter me… Er sagt nicht: Etiam propter me.. (71). Sie verstehen, was damit gesagt sein soll.

Die engere Gemeinschaft darf und will aufgefasst werden wie ein erweitertes Ich. Deswegen gelten hier dieselben Gesetzmäßigkeiten wie beim individuellen, persönlichen Beten. Das heißt, normalerweise individualisiert der Erzieher und Prediger von selbst jeweils die abstrakte Idee. Wer das nicht tut, oder wer andere daran hindert, hilft unbewusst mit an der Entpersönlichung sowohl Gottes als auch des Menschen. Es klingt und wirkt doch viel persönlicher, wenn ich spontan sage: Ich bin… Ihr seid… Wir sind die Lieblingsbeschäftigung Gottes, als wenn ich abstrakt formuliere: Ich bin… wir sind eine von den vielen Lieblingsbeschäftigungen Gottes. Solche Weise erinnert an ein Stehen in Reih und Glied, ist Ausdruck der Entpersönlichung und Mittel zu ihrer Vertiefung. Im Zeitalter der wachsenden Vermassung sollten wir sorgfältig alles meiden, was die schreckliche Zeitkrankheit vermehrt, sollten alles mit großer Liebe pflegen, was sie überwinden hilft. Mich dünkt schon allein die Fragestellung ein Zeichen der Ansteckung zu sein.

Peter: Es wird mir immer klarer, dass ich einer gewissen Einseitigkeit zum Opfer gefallen bin.

Paul: Beobachten Sie einmal Ihre Tätigkeit als Erzieher. Es mag Ihnen nicht leicht gefallen sein, gleichzeitig Philosophie zu dozieren und Erzieher zu sein. Ihre erziehliche Wirksamkeit war trotzdem von großem Erfolg begleitet. Haben Sie sich einmal Rechenschaft abgelegt über die Ursache? Sie liegt darin, dass Sie immer klare Ideen gekündet und mit außergewöhnlich großer Selbstlosigkeit zu dienen sich bemühten. Das Erziehungsobjekt war ein kleiner, überaus strebsamer Elitekreis, der durch die Verhältnisse von der Umgebung hermetisch abgeschlossen war. Deswegen ging alles gut. Ihre Art ist vorzüglich, um vorhandenes Leben zu leiten, um es vor Abirrung zu bewahren und ihm klare Ziele zu weisen. Ich glaube aber nicht, dass es Ihnen glücken würde, eine Bewegung zu schaffen und frisch zu erhalten, es sei denn, es gelänge Ihnen, aus Ihren philosophischen Abstraktionen tiefer ins Leben hineinzusteigen, plastischer, greifbarer, konkreter zu formulieren und durch eigene urwüchsige – wenn auch gezähmte – Lebensfülle in Ihrer Gefolgschaft eine gleiche Fülle zu wecken.

Peter: Die Unterhaltung bringt mich auf eine andere Frage, mit der ich mich schon lange beschäftige. Was sagen Sie dazu, dass ich mich persönlich nicht als das Lieblingskind meiner Eltern bezeichnen könnte?

Paul: Soll das heißen, die Eltern haben Sie stiefmütterlich oder stiefväterlich behandelt und die anderen Geschwister Ihnen vorgezogen?

Peter: Das kann ich nicht sagen. Meine Schwester war zwar als jüngstes Kind und einziges Mädchen stets in besonderer Weise der Augapfel der Eltern. Mir hat es aber auch nicht an Liebe gefehlt. Trotzdem kann ich – auch still für mich allein nicht sagen: Ich bin das Lieblingskind meiner Eltern. Es sträubt sich einfach etwas dagegen in mir.

Paul: Da bricht wieder ein Stück Unausgeglichenheit Ihres Charakters durch. Mir ist es übrigens früher ähnlich ergangen. Da war ich so stark auf Ideen und Aufgaben eingestellt, dass ich es nicht haben konnte, wenn mir jemand sein Herz schenkte, oder wenn ich merkte, dass das meinige für jemand schlagen wollte. Das sieht auf den ersten Blick wie jungfräuliche Unberührtheit aus, ist es aber beileibe nicht, im Gegenteil, das ist eine ganz unpersönliche Liebe, ist einseitiger, lebensfremder Ideenkult, ist Zeichen eines verschütteten Gemütes, ist Mangel an sprudelnder Ursprünglichkeit und Reife, ist Beweis für ein großes Stück unpersönlichen Massenmenschentums, das es nicht fertig bringt, bewusst und klar „ich“ zu sagen, lieber dafür das unpersönliche „es“ gebraucht und deshalb zu Ideenzwang und Zwangsideen disponiert, wenn das Leben nicht rechtzeitig Wandel schafft.

Wenn Sie genauer prüfen, werden Sie eine ähnliche Diagnose bei sich selber stellen müssen. Deswegen geht Ihrem Wesen auch das Sprudelnde und Frische ab. Es liegt ein leiser Zwang über all Ihren Bewegungen. Sie sind noch viel zu wenig geöffnet für fremde Werte, nehmen sie nicht unbefangen in sich auf, lassen sich dadurch nicht bereichern und ergänzen… Sie lieben zwar, lieben aber primär Ideen, weniger Personen. So ist auch Ihre Gottesliebe. Sie lieben in Gott weit mehr eine Idee als ihn selber. Ihre Ruhe ist mehr als Sie wissen philosophisch stoischer Art, aber nicht so sehr Wirkung persönlichen Aufgenommenseins von der Person Gottes. Es ist heute nicht leicht, ein quellfrisches, gesundes Seelenleben sich zu bewahren und zu pflegen. Und doch ist das so notwendig, wenn wir den geheimen und offenen Werbungen des Bolschewismus nicht zum Opfer fallen wollen.

Peter: Tief innerlich hänge ich an allen, die ich erziehen durfte, wage mir das aber nicht einmal selber zu gestehen, viel weniger darf das jemand anders merken oder wissen. –

Paul: Da haben Sie wieder den „hagestolzen“ krampfhaften Ideenmenschen! Wieder ein neuer Beweis für die Richtigkeit meiner Diagnose. Ich weiß, dass es heute gefährlich ist, öffentlich von Liebe zu sprechen. Man setzt sich dann immer der Gefahr aus, missverstanden zu werden. Liebe und Sinnlichkeit werden heute gemeiniglich auf eine Stufe gesetzt.

Als ich vor vielen Jahren in einem Priesterkurs die Idee des hl. Franz von Sales über vollkommene Freude und vollkommene Liebe auseinandersetzte, meinte ein würdiger Dechant a.D.: „Davon darf man auf der Kanzel nicht reden, das wird immer als Sinnlichkeit ausgelegt“. So mag es kommen, dass pädagogische Schriftsteller lieber von Güte als von Liebe sprechen… Das alles weist darauf hin, wie selten ein gesunder Bindungsorganismus zu finden ist. Hier gibt es zu wenig personale, dort nicht genug ideenmäßige, lokale oder Formgebundenheit… Darum hat der Kollektivismus überall leichtes Spiel. Leider sehen die wenigsten Erzieher den inneren Zusammenhang… Was wird das Ende sein?

Im ersten Stadium ist jede Art von Liebe scheu. Sie meidet geflissentlich sichtbare Ausdrucksformen. Ist sie ausgereifter, so kann sie sich gefahrlos, einfältig und naiv geben…

So verstehen Sie das pädagogische Testament eines Don Bosco. Er gestand: „Meine Pädagogik ist eine Tochter der Liebe.“ Darum die Mahnung: „Willst du, dass man dir gehorcht, so mache, dass du geliebt wirst. Wollt ihr geliebt werden, wohlan, so müsst ihr lieben, und das allein genügt noch nicht. Ihr müsst einen Schritt weitergehen. Eure Schüler müssen nicht nur von euch geliebt werden, sondern das muss ihnen auch zum Bewusstsein kommen. Und wie soll das geschehen? Darüber sollt ihr euer Herz befragen, das weiß Bescheid“.

Vergleichen Sie damit Ihre eigene seelische Haltung. Spüren Sie die starke Gegensätzlichkeit?

Franz von Sales kämpfte gegen den Geist von Port-Royal, der in jeder herzlichen Empfindung eine Äußerung der Begierlichkeit des Fleisches witterte und deshalb überall kühlen inneren und äußeren Abstand verlangte. Fast möchte ich meinen, etwas von diesem Geist steckt in Ihnen. Wie schwer mag es Ihnen deswegen sein, Franz von Sales zu verstehen, der auf der Höhe seines Lebens nicht selten Äußerungen tat, die nicht wenigen Lesern anstößig erscheinen. Hören Sie, was er an Frau von Chantal schreibt: „Nichts oder Gott! Denn alles, was nicht Gott ist, ist entweder nichts oder schlechter als nichts. Bleiben Sie also ganz in ihm, meine liebe Tochter, und beten Sie, dass auch ich ganz und gar dort bleibe, und darin wollen wir uns mächtig lieb haben, meine Tochter; denn nie können wir zu viel oder genug lieben. Welche Freude zu lieben ohne Furcht vor Übertreibung! Aber es ist nie das Geringste zu befürchten, wenn man liebt in Gott.“

Es ist ein Glück, dass Franz von Sales ein Heiliger und Kirchenlehrer ist, sonst wären viele geneigt, ihn von vornherein abzulehnen oder gefährlicher Sinnlichkeit zu zeihen. Wie stark er sich selbst im Besitz hatte, wie sehr seine Gottes- und Nächstenliebe ausgeprägt affektdurchglüht und naturbestimmt war, mögen Sie in der „Werktagsheiligkeit“ von Seite 250 (72) ab nachlesen. Dort heißt es unter anderem:

„Augustinus versucht beim Tode seiner Mutter die innere Rührung mit Gewalt zurückzuhalten. Es gelingt ihm aber nicht. ‚Eine kurze Stunde‘ muss er doch weinen. Das empfand er aber als etwas vielleicht Fehlerhaftes, doch immerhin Verzeihliches. Franz von Sales denkt und handelt hier ganz anders. Er erzählte unbefangen von der tiefen Ergriffenheit, die er am Sterbebett seiner geliebten Mutter empfand. Dann fährt er fort: ‚Ich hatte den Mut, ihr den letzten Segen zu geben, ihr die Augen und den Mund zu schließen und ihr im Augenblick des Hinscheidens einen letzten Kuss des Friedens zu geben. Dann aber, dann bedrängte mich mein Herz gar schwer, und ich beweinte diese gute Mutter mehr als ich je weinte, seit ich der Kirche gehöre. Doch es geschah ohne geistige Bitterkeit‘.
In ähnlicher, echt menschlicher Weise nahm er die Nachricht von der schweren Krankheit seines Bruders auf. ‚Ach‘, erklärte er, ‚der Bruder ist glücklich, wie ich annehme. Aber darum kann ich doch nicht hindern, dass ich über ihn weine… Ich kann die Schmerzempfindungen nicht beseitigen, welche die Natur in mir erregt‘.
Die anders geartete Einstellung mancher Heiligen, z.B. der hl. Angela von Foligno, die erklärt, der Verlust ihrer Familie sei ihr ein großer Trost gewesen, bezeichnet er als mehr bewundernswert, aber weniger nachahmenswert. Sein Ideal ist und bleibt ein anderes.
Einer jungen Witwe rühmt er einmal ihre Ergebung in Gottes Willen nach, fügt aber dann als besondere Anerkennung bei: ‚Sie bezeugt diese Frömmigkeit mitten in ihren Tränen und Seufzern‘.
Frau von Chantals junges Töchterlein, an dem auch er hing, war gestorben. Auf die Todesnachricht hin antwortete er: ‚Unsere arme kleine Charlotte ist selig, diese Welt verlassen zu haben, bevor sie so richtig sie berührte… Ach, man muss doch ein wenig weinen; denn haben wir nicht ein menschliches Herz und eine sensible Natur? Warum also nicht etwas weinen über unsere Dahingegangenen, nachdem es doch der Geist Gottes nicht nur erlaubt, sondern uns sogar darauf hinweist?‘
Er fürchtete, Frau von Chantal würde sich durch ihr Heiligkeitsstreben zu unmenschlich erziehen. Darum mahnt er sie, ihren Kindern die landes- und ortsüblichen Zärtlichkeiten zu erweisen. Bei Gelegenheit schreibt er einmal: ‚Wie bin ich betrübt, nicht Zeuge der Liebkosungen sein zu können, die Celse Benine von einer Mutter empfangen wird, die gegen sämtliche Gefühle der natürlichen Mutterliebe unempfindlich geworden ist! Ich glaube nämlich, dass es schrecklich abgetötete Liebkosungen sein werden. Ach nein, meine liebe Tochter, seien Sie doch nicht so grausam! Bezeigen Sie ihm doch Freude über sein Kommen, diesem armen, jungen Celse Benine!’„

Peter: Weil wir schon einmal von seelischer Gemeinschaft sprechen, gestatte ich mir, eine weitere Unklarheit vorzubringen. Sie weisen im Januarbrief darauf hin, dass eine Schwesternprovinz den Sinn des 20.1.1942 so auffasst: „Wir erwarten das Wunder der hl. Nacht durch Vater, für Vater, mit Vater, in Vater; wünschen ihm ein ähnliches Wunder – aber durch seine Kinder, für seine Kinder, mit seinen Kindern, in seinen Kindern.“ Mit der ganzen Ausdrucksweise, die Sie offenbar billigen, kann ich nicht viel anfangen. Wenn ich ehrlich sein will, muss ich gestehen sie stört mich; sie mag zu Recht bestehen, sie kommt mir aber viel zu zart vor für die Öffentlichkeit.

Paul: Ich weiß, dass es ein Wagnis war, den Text in dieser Form nach draußen zu schicken. Es ist ein gutes Zeichen, dass Sie darin eine Taktlosigkeit erblicken. Unsern Schwestern ist es ähnlich ergangen. Spontan hat ihr gesundes Empfinden sich dagegen gesträubt, hat protestiert, nicht gegen den Ausdruck an sich, sondern gegen seine Wieder- und Weitergabe an fremde Kreise.

Peter: Wenn Sie das gewusst, sogar den Protest vorausgesehen haben, warum haben Sie es trotzdem getan? Sie tun doch nichts ohne tieferen Grund, führen bewusst alles auf letzte Prinzipien zurück.

Paul: Lassen Sie mich unterscheiden: Sachverhalt, Prägung und Verkündigung. Der Sachverhalt, der hier gemeint ist, besteht in einer tiefen Lebens- und Schicksalsverwobenheit, also in einem Triumph der „neuen Gemeinschaft“, wie der 20. Januar 1942 ihn drastisch zum Ausdruck bringt… Der neue Mensch in der neuen Gemeinschaft ist für uns das Wunder der hl. Nacht… Es geht dabei immer um dasselbe, um das seelische Ineinander, um das Für- und Miteinander, das mit einem bloßen Nebeneinander nicht zufrieden ist…, mag es sich dabei um kindliche, freundschaftliche, brüderliche, bräutliche, väterliche oder mütterliche Liebe handeln… Je nach Art der seelischen Verbundenheit mögen Formen wechseln, das Kernstück bleibt immer das geheimnisvolle Identitätsbewusstsein von selbständigen Persönlichkeiten.

Weltliteratur, Alltagsleben, hl. Schrift sowie Leben und Lehre der Heiligen reden hier eindeutig ein- und dieselbe Sprache. Beethoven beginnt seinen einzigen Liebesbrief mit den Worten: „Mein Engel, mein Alles, mein Ich“; er schließt ihn mit dem Geständnis: „Ewig Dein, ewig mein, ewig uns.“ – Richard Wagner lässt Tristan und Isolde sprechen: „Du Isolde, Tristan ich; nicht mehr Tristan, nicht Isolde… Endlos, ewig einbewusst.“ – Im Alltagsleben spricht man gerne von einer „besseren Hälfte“. Das ist mehr als ein Scherzwort. Es gibt in volkstümlicher Weise wieder, was der Dichter meint, wenn wer sagt: „Zwei Herzen und ein Schlag“. – Der Völkerapostel predigt: „Wer dem Herrn anhängt, ist ein Geist mit ihm.“ Und St. Johannes erklärt: „Wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ – Franz von Sales schreibt der hl. Franziska von Chantal: „Gott wollen wir gehören, Sie als ich und ich als Sie.“

Damit ist ein Lebensvorgang gekennzeichnet, ohne den wahre, innere Gemeinschaft nicht möglich ist. Er wirkt spontan wie eine geheime Triebkraft, er ruht wie ein verschleiertes Geheimnis auf dem Herzensgrund, er scheut die Heerstraße und breite Öffentlichkeit, weiteste Strecken entwickelt er sich unbewusst, schreckt anfangs – wie bereits dargestellt – vor jeder sichtbaren Äußerung zurück, je mehr er aber die Seelen ergreift, sie miteinander verbindet, desto ehrfürchtiger werden die Ausdrucksformen, die sich vor jedem fremden Auge verhüllen möchten, die öffentliche Kundbarmachung als unschicklich empfinden.

Es fällt nicht schwer, das Gesagte auf die Ausdrucksweise des Januarbriefes anzuwenden. – Das gegenseitige In-, Für-, Durch- und Miteinander ist beides gleichzeitig: Ausdruck väterlich- kindlicher und schwesterlicher innerer Verbundenheit…; füglich Dokumentierung einer Idealgemeinschaft.

Peter: Genauso denke ich auch. Weshalb haben Sie trotzdem das Gefühl der Schwestern verletzt?

Paul: Sie dürfen nicht vergessen, dass wir im Zeitalter vollkommener Auflösung aller seelischen Bindungen leben. Werte sind heute und werden von Tag zu Tag mehr ein leerer Schall.

Peter: Das ist wahr. Nicht einmal Versprechen und Gelübde werden mehr ernst genommen. Wie viele Ordensleute gibt es, die ihrer erwählten und feierlich übernommenen Lebensform überdrüssig geworden sind. Sie bitten zwar um Dispens, sind aber gleichzeitig bereit, den Stand zu wechseln, wenn die Dispens Schwierigkeiten macht oder ausbleibt. So wenig werden heilige Gelöbnisse wirklich heilig gehalten. – In Südamerika gibt es erschreckend viele Priester, die einfach fast über Nacht den Priesterrock ausgezogen haben. Seitdem ich das alles beobachte, verstehe ich besser die Tatsache und furchtbare Tragik der heutigen Ehe- und Familienkrise, verstehe aber auch, weshalb Sie für Ihre Institute die geringsten äußeren Bindungen erstreben, dafür aber viel Gewicht legen auf Beseelung und Geistpflege.

Paul: Solange eine Idee als Funktion wirkt, solange sie den Menschen ganz erfasst und ihn nicht zur Ruhe kommen lässt, braucht man nicht viel davon zu reden. Es hat keinen Sinn, sie wieder und wieder als zu lösende Aufgabe zu künden. Ganz anders aber liegt der Fall, wenn das Leben insgesamt – auch das Leben der Liebe, das Leben der inneren Gemeinschaft – den Gesetzen der Auflösung ausgeliefert ist. Dann bleibt nichts anders übrig, als die Idee des seelischen Ineinander reinrassig, treffsicher und warm zu künden, bis die Idee wieder neues Leben geweckt und ständigen Aufstieg sichert. – Nachteile, die mit solcher Praxis verbunden sind, muss man wohl oder übel mit in Kauf nehmen. Das darf man umso leichter tun, wenn es sich darum handelt, eine sinkende Welt vor dem Abgrund des Kollektivismus zu bewahren. So einleuchtend für den Psychologen und Pädagogen diese Erkenntnis auch ist, im praktischen Leben ist die Verwirklichung vorläufig mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, weil die heutige Kultur zwischen zwei Ufern hin- und herschwankt. Das alte Ufer hat uns verlassen, es entschwindet mehr und mehr unseren Blicken. Es gibt aber viele Führer- und Gefolgschaftskreise, die es krampfhaft festhalten möchten. Am neuen Ufer sind wir noch nicht gelandet. Deshalb so viel Unklarheit und Unsicherheit allüberall. Deshalb braucht der heutige Erzieher und Seelsorger mehr Mut, aber auch mehr Takt als zu anderen Zeiten. Wer zwischen zwei entgegengesetzten Zeitaltern steht, lebt und wirkt, muss damit rechnen, von keinem recht verstanden zu werden, weder vom alten noch vom neuen. Was das alte zu fortschrittlich nennt, lehnt das neue als zu konservativ ab. Er muss sich darauf einstellen, von beiden gesteinigt oder wie von zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden.

Im Bewusstsein der Tragweite meiner Handlungsweise habe ich bislang zweimal zartere Ausdrücke anderen Verbänden zugänglich gemacht, das eine Mal im Afrikabericht, das andere Mal im Januarbrief. Das ist die Methode, wie Noe sie angewandt, als er vorsichtig Tauben hinausfliegen ließ und abwartete, ob sie wiederkamen und was sie brachten.

Nachdem wir uns schon jahrelang um den neuen Menschen bemühen, müssen wir zur Formung der neuen Gemeinschaft vorstoßen. Das Signal dazu sollten die gewählten Ausdrücke geben…

Peter: Ich verstehe langsam, wo Sie hinauswollen. Mit allen Mitteln ringen Sie um Überwindung des bolschewistischen Menschen in der bolschewistischen Masse. Sie leben stärker als viele andere in der Zukunft und werden deshalb nicht müde wieder und wieder letzte Prinzipien – wie hier das Prinzip der Gemeinschaft – von bestehenden Formen zu lösen und kraftvoll zu künden, um so neue, tragfähige Formen für die kommende Kirche und Gesellschaft schaffen zu helfen. All das in Ehren. Jeder, der den inneren Zusammenhang versteht, wird Ihre Arbeit anerkennen und gerne seine Dienste zur Verfügung stellen. Vielleicht geht es ihm dabei wie mir. Ein Bedenken bleibt noch bestehen. Die Ausdrucksweise erinnert an das liturgische „per ipsum et cum ipso et in ipso“ (73). „Neben der Gefahr von Missverständnissen und Irrtümern ist hier zu erinnern an den sakralen Charakter dieser Terminologie und ihren bislang eindeutig bestimmten Gebrauch“.

Paul: In weitesten Kreisen der Kirche wird als Krebsschaden der heutigen Zeit der ständig vorwärtsdrängende Säkularismus anerkannt. Ursachen für diese gefährliche Krankheit gibt es viele. Ob nicht wenigstens eine darin zu erblicken ist, dass wir heutigen Menschen, zumal die liturgisch eingestellten, das Sakrale zu stark vom Profanen trennen? Ist nicht die innere Gemeinschaft unter Christen auch etwas überaus Sakrales? Durch den liturgischen Text soll offenbar ein Doppeltes ausgedrückt werden: Die unio mystica zwischen Christus und seinen Gliedern, die keine Parallele kennt, aber auch gleichzeitig das geheimnisvolle seelische Ineinander zwischen Christus und den Seinen. Damit ist eindeutig der Ansatzpunkt gegeben, von dem aus ein Vergleich zwischen dem seelischen Ineinander, das zwischen Christus und den Seinen obwaltet, und jeder anderen edlen, inneren Gemeinschaft nicht nur möglich, sondern auch überaus erstrebenswert ist. Wem es ernst zu tun ist, den bolschewistischen Zeitgeist bis in alle Schlupfwinkel zu verfolgen, der ergreift mit großer Hingabe jede Gelegenheit, um das Profane mit dem Sakralen zu verbinden. Zieht er sich deswegen Vorwürfe zu, so tröstet er sich mit dem hl. Franz von Sales, den man wegen seiner modernen, zu weltlichen Sprache maßregelte. Es stimmt endlich nicht ganz, wenn man meint, per ipsum et cum ipso et in ipso sei bisher eindeutig und ausschließlich für das Verhältnis zwischen Christus und seinen Gliedern gebraucht worden. Der Psychologe hält das schon von vornherein für unwahrscheinlich, weil der Lebensvorgang des seelischen Ineinander in Literatur und Leben in ähnlicher Form ungezählt viele Male wiederkehrt. Tatsächlich kennt die Grignionsche Marienverehrung eine Übertragung desselben Wortlautes auf das Liebesverhältnis zwischen der Gottesmutter und ihren Kindern. Sie geschieht nach dem Gesetz der communicatio idiomatum (74).

Eine Stadt in Frankreich oder Belgien – ich weiß nicht mehr, wie sie heißt und wo sie liegt – hat das per ipsam et cum ipsa et in ipsa feierlich zum Stadtwappen erwählt. Sie sehen also überall die Übergänge vom Christologischen zum Mariologischen und zum allgemein Christlich-Menschlichen, letztere wenigstens dort, wo wirksame Fühlung mit dem Sakralen, mit dem Übernatürlichen gesucht wird und organische Denkweise regiert. Ich glaube, die Zeit ist nicht mehr fern, wo weiteste Kreise den Weg aus einer krampfhaften Wortversteifung zu einer sinngemäßen Worterweichung, zur größeren Lebensnähe und zu tieferer Verbindung von Natur und Gnade beschreiten.

Peter: Das ist nur möglich, wo mechanistische Denkweise der organischen vollkommen gewichen ist. Wo sie herrscht, ist die Gefahr des Missverstandenseins und Irrtums ausgeschlossen oder doch so gering, dass sie leicht überwunden werden kann.


Schönstatt-Lexikon ONLINE: Organisches Denken – Liebe
(69) Alex Menningen ist wohl gemeint.
(70) Er hat mich geliebt und sich für mich dahingegeben. (Gal. 2,20) – Nicht: auch für mich so wie für andere.
(71) Und das alles wegen mir – nicht: auch wegen mir
(72) In der Ausgabe der Wektagsheiligkeit von 1974 S. 195
(73) Durch ihn, mit ihm und in ihm
(74) Wörtlich: Teilhabe/Austausch der Begriffe. Der Fachausdruck beruht auf der Lehre des hl. Thomas von der „analogia entis“, die besagt, dass die Wirklichkeiten in den verschiedenen Seinsebenen sich entsprechen, analog sind. Demzufolge kann das, was ein Wort auf einer Seinsebene „begreift“ auf eine andere übertragen werden.