Man wird den folgenden Text erst dann richtig werten, wenn man sich den geschichtlichen Hintergrund vergegenwärtigt, auf dem er entstanden ist.
Wir müssen im Geiste in das Konzentrationslager Dachau gehen. Die Umstellungen auf das Lager mit all seinen Entbehrungen, die schreckliche Hungerepidemie des Jahres 1942 und die ständig präsente Gefahr, das Leben zu verlieren, sind bis jetzt überstanden. Der Versuch Pater Kentenichs, eine allgemeine Strömung der geistigen Erneuerung unter den Priestern zu schaffen, ist gescheitert. Im Jahre 1943 fällt die Entscheidung, für Schönstatt zu arbeiten – und es öffnen sich auch entsprechende Türen. Das bedeutet auch, im Lager unter den Priestern Schönstattgruppen aufzubauen – insbesondere unter den polnischen Priestern im Nachbarblock, bei denen Pater Kentenich zu Beginn über Monate jeden Abend Betrachtungspunkte in Latein angeboten hatte. Das ging anfangs recht und schlecht. Der Entschluss fiel, mit zwei Führergruppen intensiver zu arbeiten. Bei beiden Gruppen zündete besonders der Gedanke, Werkzeug in der Hand der Gottesmutter zu sein; etwas, was auch Pater Kentenich inspirierte, die Studie über die Werkzeugsfrömmigkeit zu schreiben.
Beide Gruppen fanden auch ein Ideal und ein Symbol. So entstanden der „Handkreis“ und der „Herzkreis“. Beide erarbeiteten sich eine Medaille mit den entsprechenden Symbolen – angefertigt auf dem schwarzen Markt des Lagers, wo vieles möglich war, – und bereiteten sich auf eine Weihe vor. Der Handkreis vollzog seine Weihe am 18. Oktober 1944. Die Ansprache Pater Kentenichs an diesem Tag gilt als zweiter Teil der Dritten Gründungsurkunde. Der Herzkreis vollzog seine Weihe am 8. Dezember desselben Jahres. Die Ansprache zu diesem Ereignis bildet den dritten Teil der Dritten Gründungsurkunde. Dieser Ansprache ist der folgende Text entnommen.
Wir befinden uns inzwischen schon vier Monate vor dem Ende des Lagers und des Krieges. Die allgemeine Stimmung innerhalb oder außerhalb des Lagers wartete auf das Ende und hatte verständlicherweise nur die eine Sorge, dieses Ende zu überleben.
Auf diesem Hintergrund mutet es geradezu unheimlich an, wie sehr Pater Kentenich und die Priester um ihn über die konkreten Zustände und Gefahren hinaus gewachsen sind. In der Atmosphäre von Ende und Untergang öffnet sich ihr Geist und nimmt Blick auf die Sendung Schönstatts in der größten universellen Dimension: in die Tiefe, in die Höhe, in die Breite, in die Länge. Keine Spur von Resignation oder „Rette sich, wer kann“. Sie sind Werkzeuge der Gottesmutter, bereit für Letztes.
Der Text ist zitiert aus der Veröffentlichung „Die Gründungsurkunden“, Vallendar-Schönstatt 1967, 74-82.
Heute nun treibt dieser Baum einen neuen, fruchtbaren Zweig, unseren Kreis. Er ist dem Baum, dem er entsprosst, in allem gleichgeschaltet. Deshalb greift er mit derselben Wärme, die die Weihe vom Oktober inspiriert hat, bewusst den Universalismus auf und erhebt ihn zum klar erkannten und zielstrebig gewollten Lebensprogramm. Ja, er geht noch weiter: Er erweitert den Universalismus nach allen Seiten: nach der Tiefe, nach der Höhe, der Länge und der Breite, wie ein Blick auf das gewählte Symbol unmissverständlich zeigt.
Vinzenz Pallotti würde dafür sagen: Infinitismus. Wir wollen uns seinen Ausdruck aneignen, verstehen aber unter Infinitismus den bezeichneten Universalismus.
Stark in seinem Vordergrunde und Mittelpunkte steht das Herz der Gottesmutter und des Heilandes. So deute ich auch die Tatsache, dass das Herz in das Kreuz und das MTA-Zeichen eingraviert ist. Die beiden heiligsten Herzen sollen ihren Schlag in unserem Herzen wiederholen so lang und so tief, bis wir sagen können: Drei Herzen und ein Schlag. Es ist nicht von ungefähr, dass wir gerade das Herz als Symbol für unseren Werkzeugscharakter gewählt haben und nicht, wie der andere Kreis, die Hand. Wir möchten uns den Werkmeistern, dem Heiland und der Gottesmutter, nicht nur dem Willen und dem Verstande nach und dem Gedächtnis nach, sondern vorzüglich dem Herzen nach anbieten und schenken. Mit einer Willensgemeinschaft sind wir nicht zufrieden. Das Ziel ist höher gesteckt. Wir streben nach ausgesprochener Herzensgemeinschaft, nach vollkommener Herzensverschmelzung, nach der Inscriptio perfecta cordis in cor (195).
Demnach weist das Herz auf eine doppelte Tiefe hin:
a. Es ist uns das Symbol des Gemütes, des Un- und Unterbewussten. So sehr möchten wir von uns selbst gelöst sein, dass auch unser unterbewusstes Seelenleben sich vorbehaltlos und bedingungslos den Werkmeistern als Werkzeug ausliefert. Das wollen wir sagen mit den Worten: Drei Herzen und ein Schlag. Eine solch vollkommene Liebespreisgabe oder Lösung ist nicht möglich ohne positive Voreinstellung für Kreuz und Leid, wie sie in der Inscriptio zum Ausdruck kommt. Der Universalismus oder Infinitismus der Tiefe verlangt von uns vollendete Lösung im Sinne der Inscriptio. So oft wir das Herz ansehen, legt es uns die Bitte auf die Lippen: „Nimm hin, o Herr, durch die Hände unserer lieben Dreimal Wunderbaren Mutter und Königin von Schönstatt meine ganze Freiheit. Nimm hin mein Gedächtnis, meinen Verstand, meinen ganzen Willen, mein ganzes Herz. Alles hast du mir gegeben. Alles gebe ich dir vorbehaltlos wieder zurück. Mache damit, was du willst …“
b. Das Herz darf auch aufgefasst werden als Inbegriff und Kern der ganzen Persönlichkeit. Es weist auf unserer Medaille nachdrücklich hin auf die vollkommene Hingabe unserer ganzen Person an den Heiland und die Gottesmutter im Sinne der Werkzeugsfrömmigkeit (196). Kennt das Werkzeug als solches eine Preis- und Hingabe, so ringt das vollendete Werkzeug, wie es im Symbol des Herzens wiedergegeben ist, auf der ganzen Linie um vollkommene Preisgabe und vollkommene Hingabe. Wir dürfen das Wort, das die Gründungsurkunde der lieben Gottesmutter in den Mund legt: Ego diligentes me diligo, so deuten: Ego perfecte diligentes me perfecte diligo (197).
Dem Infinitismus in die Tiefe entspricht der Infinitismus in die Hohe. Der andere Werkzeugskreis ringt kraft seines Symbols um volle Verwirklichung des Erlösungsgeheimnisses, hängt deshalb mit ganzer Liebe am Heiland als dem großen Welterlöser und der Gottesmutter als seiner Dauergehilfin beim gesamten Erlösungswerk. Eine solche Hingabe schließt auch die heiligste Dreifaltigkeit wenigstens keimhaft in sich. Unser Symbol ist mit diesem Hinweis nicht zufrieden. Was der andere Kreis einschlussweise als Ziel vor Augen hat, das ist für uns klar erkannte und heiß erstrebte Aufgabe: das Ergriffensein vom Geheimnis der Trinität. Auf den Vater weist deutlich die machtvoll ausgebreitete Hand hin, an den Heiligen Geist und seine sieben Gaben erinnern die sieben Strahlen, die die ganze Schöpfung durchziehen. Das Verbum divinum incarnatum (198) ist deutlich gekennzeichnet durch das Kreuz; die Gottesmutter als gottesmütterliche Braut und Dauergehilfin des Gottmenschen und in ihrer Beziehung zur heiligsten Dreifaltigkeit wird durch das MTA genügend in Erinnerung gerufen. Die Kehrseite der Medaille bezeichnet uns als „instrumentum Patris per Christum cum Matre ter admirabile in Spiritu Sancto“ (199)
Wir dürfen füglich nicht zufrieden sein, dass man von uns sagen kann: Drei Herzen und ein Schlag. Es muss von uns mit Recht heißen: Fünf Herzen und ein Schlag. Nicht nur das Incarnationsgeheimnis, sondern auch das Trinitätsmysterium muss an uns warme Liebhaber und eifrige Apostel und Verteidiger finden. Wenn wir auch kein eigenes Versprechen nach dieser Richtung ablegen, so verlangt unsere Idealpädagogik doch, dass wir uns dieser gotteswürdigen Aufgabe mit ganzer Seele und allen Kräften bis zum Ende des Lebens widmen. So deuten wir künftig das Hauptgebot: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen, aus deinem ganzen Gemüte und aus allen deinen Kräften.“ Und alle, die wir als Apostel für das Reich Gottes gewinnen, sollen wiederum wie wir Apostel des Erlösungs- und Trinitätsgeheimnisses werden, dass recht bald „ein Hirt und eine Herde werde“.
Unsere Medaille zeigt nicht nur die Erdkugel, auf der das Kreuz emporragt, will uns nicht nur gewinnen als Werkzeuge in der Hand der Gottesmutter und des Dreifaltigen Gottes „ad pacandum mundum“ (200), sondern zeigt auch Mond und Sterne als Symbol der ganzen Schöpfung, die der Apostel Paulus durch die Erbsünde als in Wehen verstrickt sieht. Dadurch ist der Gegenstand unserer Liebesweitergabe gegeben. Vom Herzen des Apostels Paulus gilt das Wort: Cor Pauli cor mundi, d.h. Pauli Herz umfasst mit seiner Liebe die ganze Welt. Unser Symbol verlangt von uns ein Marien-, ein Christus-, ein Gottesherz. Wie viel mehr aber gilt von diesem Herzen: Cor Mariae… cor Jesu… cor Dei et cor Mundi. Es ist schön und dankenswert, wenn wir die angeborene und sorgfältig gehegte und gepflegte Enge unseres Herzens, unserer Ich-Besessenheit und Ichsucht sprengen, damit wir als Kreis eine möglichst enge Lebensgemeinschaft darstellen, so dass man von uns sagen kann: Cor unum et anima una (201). Es mag noch lange dauern, bis wir dieses hohe Ideal allseitiger Liebes-, Lebens- und Aufgabengemeinschaft verkörpert haben. Doch damit haben wir nur einen ganz kleinen Bruchteil unseres Ideals verwirklicht. Wir müssen höher und weiter streben. Unser Herz gehört allen Menschen, allen Nationen, wie sie auch immer heißen und welche Geschichte sie auch immer haben mögen. Mehr noch: Die ganze Welt muss der Herrschaft des Dreifaltigen Gottes unterworfen werden. Alles umfassen wir in gleicher Weise, das Große und das Kleine, und wir haben keine Ruhe, bis die ganze Welt in Christus dem Vater zu Füßen gelegt, bis das Wort erfüllt ist: Schönstatt meine Welt, ja die ganze Welt soll Schönstatt werden. Hat der andere Kreis im Großen und Ganzen eine Sendung erhalten jeweils für die einzelnen Nationen, so glauben wir alle berufen zu sein für ein ausgesprochenes Weltapostolat.
Der Infinitismus der Tiefe, Höhe und Breite nach kennt auch eine entsprechende Länge. Er gilt nicht nur für heute und hier, sondern auch für morgen und übermorgen, ja fürs ganze Leben. Und was hier auf Erden mit ganzer Liebe umfangen und ersehnt und erstrebt haben, darf und will und wird, soweit es möglich ist, Gegenstand unseres Sorgens die ganze Ewigkeit hindurch sein. Die kleine hl. Theresia war davon überzeugt, dass sie die Aufgabe, die sie auf Erden bekommen hat, im Himmel und vom Himmel aus fortsetzen und vollenden dürfe. Auch in uns lebt der schlichte Glaube, dass alle Verstorbenen aus unserer Familie für uns und unser gemeinsames Lebenswerk nicht tot und unfruchtbar sind, sondern vom Jenseits aus sich in wirksamster Weise im Sinne unserer Sendung betätigen. So fassen wir in unserer Weise die communio sanctorum (202) auf. Es mag uns menschlich schwerfallen, so manche Stütze der Familie nicht mehr hier in unseren Reihen zu sehen. Die Lücken werden immer größer und zahlreicher. Wer weiß, wie viele Werkzeuge sich die Gottesmutter noch hinüberholt in den Schönstatthimmel! Mag kommen, was will: Wir halten stille und leben in ständiger Fühlung mit unseren Toten. In einem heiligen Wettstreit ringen wir mit ihnen um die vollkommene Hingabe an das Werk der Mater ter admirabilis. So sind sie für uns nicht tot. Sie marschieren in unseren Reihen und wir in den ihrigen. Ja, es mag uns jetzt noch leichter fallen, Verbindung mit ihnen zu halten als zur Zeit, wo sie noch unter uns weilten… Und wenn Gottes weise Vorsehung auch uns plötzlich den Todesengel schickt, um uns hinüberzupflanzen in eine andere Welt, in der er uns seine Pläne entschleiern will, so hoffen wir, in enger Verbindung mit all den Unseren für Schönstatt noch mehr sein und wirken zu dürfen als hier auf Erden.
Schönstatt-Lexikon ONLINE: Universalismus
(195) Der vollkommenen Einschreibung des (eigenen) Herzens in ein (anderes) Herzen
(196) P. Kentenich schrieb die Studie über Werkzeugsfrömmigkeit zur selben Zeit im Konzentrationslager; veröffentlicht unter dem Titel „Marianische Werkzeugsfrömmigkeit“, herausgegeben 1974 im Schönstatt-Verlag.
(197) Ich liebe diejenigen vollkommen, die mich vollkommen lieben.
(198) Jesus Christus, das Fleisch gewordene Wort
(199) Werkzeug des Vaters durch Christus mit der Dreimal Wunderbaren Mutter im Heiligen Geist.
(200) um die Welt zu befrieden.
(201) Ein Herz und eine Seele
(202) Gemeinschaft der Heiligen